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Ontogenetisches Entwicklungsmodell von Piaget

Im Dokument D I P L O M A R B E I T (Seite 26-31)

2. Räumliche Kognitionspsychologie

2.3. Wissenschaftliche Konzepte zur Aneignung räumlichen Wissens

2.3.1. Ontogenetisches Entwicklungsmodell von Piaget

Unter Ontogenese versteht man in der Entwicklungspsychologie und der Psychoanalyse die individuelle (psychische) Entwicklung (präziser: Psychogenese).

(Wikipedia 2013) Ontogenese ist also generell die menschliche Entwicklung vom Säugling zum Erwachsenen und darüber hinaus.

Piaget gilt als einer der wichtigsten Wegbereiter in der Entwicklungspsychologie.

(Rollett, Dreher und Glück 2006) Auf seine Theorie stützen sich sowohl die Forschung im Bereich der Ontogenese als auch, daraus entstanden, die Erfassung des räumlichen Wissenserwerbs im Bereich der Mikrogenese. (Montello 1998)

Piagets Grundgedanke ist der, dass sich Kinder durch aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickeln. Das Kind konstruiert aktiv Vorstellungen von der Welt, und gleicht diese Schemata an, wenn sie der Realität widersprechen. Das Streben nach diesem Gleichgewicht bezeichnet Piaget als Äquilibration. Jedes Individuum versucht also die Realität zu erfassen und seine Vorstellungen anzupassen. Dabei wird zwischen den zwei Austauschprozessen Assimilation und Akkommodation unterschieden. Näheres hierzu findet man in (Rollett, Dreher und Glück 2006).

Piagets Theorie teilt die kognitive Entwicklung in 4 Stadien, die in Abb. 2.x zusammengefasst sind:

Abb. 2.3.a: Piagets Stufenmodell der kognitiven Entwicklung im Laufe eines Menschen-lebens. (Bildquelle: eigene Darstellung)

1. Das sensomotorische Stadium beginnt mit der Geburt und dauert ungefähr 2 Jahre an. Die Entwicklung umfasst hier die zunehmende Koordination von Wahrnehmung (Sensorik) und Bewegung (Motorik). Diese Koordination erfolgt zunächst ohne sich die Konsequenz der Aktion vorstellen zu können, sondern beruht auf angeborene Reflexe, die das Kind lediglich trainiert. Piaget bezeichnet dies als die „Wurzeln des Denkens“. Der Säugling wird sich der Objektpermanenz bewusst, also dass Objekte auch existieren, wenn sie nicht sichtbar sind. Eine weitere wichtige Fähigkeit des Säuglings ist die Imitation vorgeführter Verhaltensweisen, die sich weiterentwickelt zu verzögerter Nachahmung, bei der Handlungen imitiert werden, die das Kind in diesem Moment nicht sieht.

2. Das präoperationale Stadium erstreckt sich über das Alter von 2 bis 7 Jahren und beinhaltet den Erwerb des Vorstellungsvermögens. Das Kind denkt aber noch nicht logisch, sondern „vorlogisch“ (präoperational), da seine Schlussfolgerungen stark an die Anschauung gebunden sind und sich das Kind immer nur auf einen Aspekt beschränkt. (Zentrierung) In Bezug auf die Sichtweise hat der kindliche Egozentrismus zur Folge, dass das Kind auf seine eigene aktuelle Sichtweise beschränkt ist, und diese für die einzig richtige Perspektive hält. Abbildung 2.3.b illustriert Piagets Drei-Berge-Versuch:

Demnach ist ein (4-jähriges) Kind nicht in der Lage, sich ein Blickfeld einer anderen als der aktuellen Position vorzustellen, da dem Kind nicht bewusst ist, dass es andere Sichtweisen als seine aktuelle gibt. In diesem Stadium fehlt es noch an der Reversibilität des Denkens. Daher ist das Kind nach einem Perspektivwechsel nicht fähig, die vorige Perspektive nachzuvollziehen.

Abb. 2.3.b: Piagets Drei-Berge-Versuch zum kindlichen Egozentrismus (Bild-quelle:

Oerter, Rolf & Montada, Leo (Hrsg.) (1998). Entwicklungspsychologie. Weinheim:

Beltz. S. 525)

Ein weiterer wesentlicher Schritt ist der Erwerb der Sprache, von dessen Entwicklung der Grad des Repräsentationsvermögens abhängig ist.

3. Das konkretoperationale Stadium dauert ungefähr bis ins Alter von 11 Jahren. Zu dieser Zeit schreitet die Entwicklung vom prälogischen Denken voran zum logischen Lösen von konkreten Problemen. Es scheinen Konzepte wie Reversibilität, Dezentrierung und Transitivität auf, und das Kind kann eine Reihe logischer Operationen durchführen, dennoch aber keine komplexen verbalen Probleme lösen.

4. Ab einem Alter von 11 Jahren kommt man in das formaloperationale Stadium, in dem man auch sein Erwachsensein und darüber hinaus verbringt.

Das Individuum ist fähig, Operationen auf Operationen anzuwenden, wissenschaftlich zu denken, und kann mittels Logik Probleme aller möglichen Art lösen.

(Piaget und Inhelder 1967), (Rollett, Dreher und Glück 2006, 82ff), (Golledge und Stimson 1997, 159ff)

„Einige Aspekte von Piagets Ideen sind kritisiert und durch neuere Forschungen relativiert worden.

Etwas abgeschwächt wurde etwa die Annahme plötzlicher Übergänge zwischen den einzelnen Entwicklungsstadien. […] Außerdem wurde Piagets Untersuchungsmethodik thematisiert, die häufig auf der Einzelbefragung weniger Kinder beruhte. Viele Studien zeigen, dass man bei der Befragung vor

allem kleiner Kinder sehr vorsichtig sein muss, um Suggestivfragen zu vermeiden. So ändern Kinder nicht selten ihre Antwort allein deshalb, weil der/die VersuchsleiterIn zweimal dieselbe Frage stellt – einfach weil sie annehmen, dass die erste Antwort dann wohl nicht richtig war […] Ein letzter Kritikpunkt bezieht sich auf die Beschränkung auf das formallogische Denken, das in Piagets Theorie den Endzustand kognitiver Entwicklung darstellt. Verschiedene ForscherInnen haben weitere Schritte der kognitiven Entwicklung im Erwachsenenalter postuliert, etwa eine Wegbewegung vom rein logischen Objektivismus hin zu einer stärkeren Integration von Denken und Fühlen.“ (Rollett, Dreher und Glück 2006, 88ff)

Selbst wenn Piagets Modell der kognitiven Entwicklung durch verschiedene Erkenntnisse verbessert worden ist, so ist zumindest Piagets Grundgedanke zur Entwicklung durch aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt weiterhin von zentraler Bedeutung in der Entwicklungspsychologie. (Rollett, Dreher und Glück 2006, 89) In räumlicher Hinsicht bedeutet dies, dass Repräsentation von Raum durch Koordination und Internalisierung von Aktionen entsteht; also mehr durch das Handeln in einer Umgebung, weniger durch das perzeptuelle Kopieren. Daher ist die Interaktion im Raum, und nicht die Perzeption des Raumes, fundamental zur Aneignung räumlichen Wissens. (Golledge und Stimson 1997, 161) Es genügt also für das Lernen räumlicher Strukturen nicht nur das reine passive Wahrnehmen, sondern auch das aktive Verinnerlichen der Umgebung. Golledge argumentiert, dass der räumliche Referenzrahmen in dem räumliche Kognition stattfindet, sich verändert, und zwar nach der Erkenntnis der Objektpermanenz im sensomotorischen Stadium, wo noch gar keine Repräsentationen existieren, von einer im präoperationalen Stadium entwickelten topologischen, zu einer projektiven, hin zu einer euklidischen oder generell metrischen relationalen Struktur.

Obwohl sich der Großteil der Probanden im Forschungsgebiet der Geographie bereits im formaloperationalen Stadium befindet, besinnen sich Ortsunkundige möglicherweise auch zurück auf ein präoperationales Level räumlichen Verständnisses. (Golledge und Stimson 1997, 161)

Man erwirbt Wissen, sowohl durch zunehmende Vertrautheit (Mikrogenese) als auch über die Lebensspanne (Ontogenese). Nach dem Ansatz „reasoning by analogy“, also der Herangehensweise Analogieschlüsse zu ziehen, übertrug man zu Beginn der räumlichen mikrogenetischen Forschung die ontogenetischen Erkenntnisse der

kognitiven Entwicklung auf den Bereich der Mikrogenese. (Montello 1998) Jedoch muss der „entwickelte Mensch“ nicht jedes Mal seine Fähigkeiten neu entwickeln. Er hat andere Voraussetzungen als z.B. ein Kleinkind. Er befindet sich im formaloperationalen Stadium, kann logisch denken, sein Gehirn und seine Kognition sind schon sehr weit entwickelt. Diese Arbeit beschränkt sich auf die Erforschung des mikrogenetischen Bereiches, und geht von kognitiv ausreichend entwickelten Menschen aus.

Im Dokument D I P L O M A R B E I T (Seite 26-31)