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Neuzeitliche und moderne Zeittheorien

der Konstituierung von Zeiterfahrung

2.1 Philosophische Zeittheorien

2.1.2 Neuzeitliche und moderne Zeittheorien

ih-Die Fähigkeit zum Zukunftsdenken sowie die daran anschließende mögliche Dis-krepanzerfahrung im Abgleich zwischen Zukunftsziel (anvisiertes Sein) und Gegenwart (noch nicht gegenwärtiges Sein) bilden somit zwei weitere wichtige Vorbedingungen der Ausbildung des Zeitmodus ›Warten‹ bzw. zum Verständnis, wie Zeit zu Warte-zeit wird. Auch wenn die Wahrnehmung von WarteWarte-zeiten bei Augustinus nicht explizit thematisiert wird,42bilden dessenBekenntnisseeinen wichtigen Schritt zur geistesge-schichtlichen Verortung und damit zur Herleitung des Temporalphänomens. Augusti-nus gilt darüber hinaus retrospektiv als geistiger »Vater des psychologischen Zeitbe-griffs«43, der schließlich richtungsweisenden Einfluss auf neuzeitliche (Kant) und mo-derne Zeitbegriffe (etwa von Bergson oder Heidegger) ausübte, die nun im Folgenden skizziert werden sollen.

existiert in diesem Rahmen die Zeit weder als eigenständige, objektive, messbare Grö-ße noch als Gegenwärtigung im Augustinischen Sinn. Stattdessen ist die Zeit für Kant bereitsa prioriund somit der eigentlichen Erfahrung vorausgehend, in unser Bewusst-sein eingebaut.

»Die Zeit ist eine nothwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt.

Man kann in Ansehung der Erscheinungen überhaupt die Zeit selbst nicht aufheben, ob man zwar ganz wohl die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen kann. Die Zeit ist also a priori gegeben. In ihr allein ist alle Wirklichkeit der Erscheinungen möglich.

Diese können insgesammt wegfallen, aber sie selbst (als die allgemeine Bedingung ihrer Möglichkeit) kann nicht aufgehoben werden.«46

Die Zeit ist nach Kant »reine Form der sinnlichen Anschauung«47, die der eigentlichen Erfahrung voraus geht und Zeit erst entstehen lässt. Zeit ist folglich von den Dingen los-gelöst zu betrachten. Die Wirklichkeit samt der Dinge, die uns umgeben, lässt sich da-mit in Kants Verständnis eigentlich gar nicht ohne Weiteres erkennen. Wir kennen die Dinge nicht an sich, sondern kennen stattdessen nur wie sie uns erscheinen. Verkürzt ausgedrückt, ›denkt‹ das Subjekt die Dinge mithilfe einer architektonischen Struktur (den Kategorien) erst in die Welt ›hinein‹, wobei Raum und Zeit die allgemeinen Mög-lichkeiten der Erscheinungen bilden. Resultat dieses ›Vollsubjektivismus‹ ist, dass die Zeit als Form des inneren Sinnes einen Spiegel unseres Selbst und unseres inneren Zustandes darstellt. Kant verweist dabei zugleich auf die Gestaltlosigkeit jenes Zeitbe-wusstseins, weshalb wir uns stets der Analogie einer ins Unendliche fortgehenden Linie behelfen, die zwar eindimensional bleibt, aber eine Positionsbestimmung des Nachein-anders ermöglicht.48

Die Kantische Idee der Transzendenz gilt zwar als der bis heute wohl meistbespro-chene und meistgedeutete philosophische Ansatz der neuzeitlichen Erkenntnistheorie, zugleich konnte er aber das alltägliche Zeiterleben bislang nur schwer durchdringen.

Kaum ist für ein alltägliches Zeiterleben zu begreifen, wie Zeit (und auch der Raum) uns als reine Verstandeskategorien und sinnliche Anschauungen und Erscheinungen, aber ohne jede außergeistige Realität gegenübertreten können. Auch sind die apriori-schen Voraussetzungen jeder Erfahrungsbildung nicht ohne Weiteres nachvollziehbar.

Die Bezüge auf Newton, der für Kant allein durch seine intensive geistige Beschäftigung mit physikalischen Fragestellungen die naturgesetzlichen Grundsätze zu entschlüsseln vermochte, dienen eher als abstrakte Beweisführungen der Existenz apriorischer Ori-entierungsmuster. Stattdessen sind für das alltägliche Zeiterleben nach wie vor enge Bezüge zum absoluten Newton’schen Zeitbegriff erkennbar, die sich, vermittelt und re-produziert im Sprachgebrauch, bis heute kaum zu verändern scheinen.

46 Immanuel Kant,Kritik der reinen Vernunft(Riga: Johann Friedrich Hartknoch, 1781), Abschnitt II, 31.

47 Ebd.

48 Kant vermerkt zur Behelfsgestalt des imaginierten Zeitpfeils: »Und, eben weil diese innre An-schauung keine Gestalt giebt, suchen wir auch diesen Mangel durch Analogien zu ersetzen, und stellen die Zeitfolge durch eine ins unendliche fortgehende Linie vor, in welcher das Mannigfaltige eine Reihe ausmacht, die nur von einer Dimension ist, und schliessen aus den Eigenschaften die-ser Linie auf alle Eigenschaften der Zeit, ausdie-ser dem einigen, daß die Theile der erstern zugleich, die der letztern aber jederzeit nach einander sind.« Ebd., 33.

Abschließend zur neuzeitlichen Zeitauffassung einer subjektiven Anschauungswei-se Anschauungswei-sei im Hinblick auf die Verengung von Zeitbegriffen gefragt, ob das Wartephänomen im Kantischen Verständnis ebenfalls eine Art angeborener Erlebnisform darstellt. Ohne an dieser Stelle eine philosophische Auseinandersetzung anstreben zu können, würde Kant wahrscheinlich aber wohl auch den temporären Aufschub der Wartezeit als ei-ne apriorische Welterfahrung deklarieren. Dennoch würde sich hier die Frage stellen, warum das Warten dann oftmals als Irritation bzw. als Anomalie aufgefasst wird. An dieser Stelle muss daher offenbleiben, ob das Warten im Kantischen Sinne gewisser-maßen einen Systemfehler des apriorischen Denkens darstellt oder ob der Wartemodus ebenfalls eine Form der sinnlichen Anschauung bildet.

Henri Bergsons Zeitkonzept der ›durée‹

In noch stärkere Opposition zu Newton tritt in Bezug auf dessen Postulat der Quantifizier- und Messbarkeit von Zeit zu Ende des 19. Jahrhunderts der franzö-sische Philosoph Henri Bergson. Noch vor Husserls ›Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins‹ und somit als erster Vertreter der modernen subjektivistischen Zeitphilosophie, machte Bergson darauf aufmerksam, dass das Zeiterleben mit den etablierten Methoden der Zeitmessung nicht vollends erklärt werden könnte.49 Statt-dessen würde das alltagspraktisch erlernte Modell einer objektiven Zeit in den Augen Bergsons dazu führen, den Blick auf das eigentlich nichtfunktionale, spontane und kontingente Wesen der Zeit zu verschleiern.

Entgegen der physikalischen (Uhr-)Zeit, die fragmentiert und in Abschnitte ein-geteilt werde, sei die Zeit für lebendige Dinge eine grundverschiedene. Bergson führt dazu mit dem Begriff der ›durée‹, der reinen Dauer, ein Konzept ein, das auf eine inne-re Zeitlichkeit, kurzum auf ein inne-rein qualitatives Zeitbewusstsein der ›wahinne-ren‹, ›inne-reinen‹

und ›gelebten Dauer‹ verweist. Für ihn ist das konventionelle Zeitmaß nur eine An-zahl von virtuellen zeitlichen Ruhepunkten zwischen denen sich Beliebiges abspielen kann. Die alltägliche Rede von einer Zeitdauer bezieht sich somit im Grunde stets nur auf die Messabstände einer Bewegung, nicht jedoch auf die qualitative Ausgestaltung

›zwischen‹ jenen im Grunde unbeweglichen Messpunkten.

»Wenn wir in der Umgangssprache von Zeit reden, denken wir für gewöhnlich an das Maß der Dauer und nicht an die Dauer selbst. Aber man fühlt und erlebt diese Dauer, die die Wissenschaft eliminiert, die so schwierig zu erfassen und auszudrücken ist.

Sollten wir nicht einmal untersuchen, wie sie wirklich ist?«50

Im Rahmen seiner Untersuchungen verliert die Zeit für Bergson »jeden bloß formalen Charakter und wird zu einem konstitutiven schöpferischen Prinzip der Wirklichkeit.«51 Die innere Zeitlichkeit konstituiert sich dabei nach Bergsons Auffassung im Unterbe-wusstsein. Wahre Zeit ist somit nur erlebbar, aber nicht messbar, sie kann nicht ana-lytisch oder sprachlich gefasst werden. Der einzige Zugang der Bewusstwerdung ist für ihn dieIntuition, die Bergson derIntelligenzals konventionellem Mechanismus der 49 Vgl. Benz,(Erzählte) Zeit des Wartens, 33.

50 Henri Bergson,Denken und schöpferisches Werden: Aufsätze und Vorträge(Hamburg: EVA, 2008), 23.

51 Friedrich Kottje, »Zur Einführung«, ebd., 11.

Bewusstwerdung (von Zeit) gegenüberstellt. Während die Intuition eine Methode dar-stellt, die uns quasi mit unverstelltem Blick zu den Dingen selbst führen und damit den Geist befreien würde,52versucht sich dagegen die Intelligenz stets einen festen Halt zu suchen, der ihr mittels der physikalischen Zeitauffassung und etablierter sprachli-cher Begriffe bereitgestellt werde, die jedoch Zeit nur als nebeneinandergesetzte Mo-mentaufnahmen bzw. künstliche Rekonstruktionen eines Zeitflusses erscheinen lasse.53 Bergsons Zeitbegriff der ›durée‹ stellt sich damit weitaus komplexer als die Konzepti-on einer objektiv-mathematischen Zeit dar bzw. als dessen qualitative Ergänzung. Die (zeitliche) Wirklichkeit lasse sich mit der Bequemlichkeit absoluter Methoden demge-genüber letztlich nur partiell und unzureichend erfassen.

»Was also wirklich ist, das sind nicht die in Momentaufnahmen fixierten ›Zustände‹, die wir im Verlauf der Veränderung aufnehmen, sondern das ist im Gegenteil der Fluß, das ist die Kontinuität des Übergangs, das ist die Veränderung selbst.«54

Die knappe Beleuchtung des Bergson’schen Plädoyers einer intuitiven Philosophie wird hier nicht zuletzt deshalb vorgenommen, weil jener Ansatz einer der wenigen (im Grun-de Grun-der einzige) unter Grun-den moGrun-dernen philosophischen Ansätzen darstellt, Grun-der sich ex-plizit dem Phänomen des Wartens widmet. Das Konzept der gelebten Dauer illustriert Bergson in einem Gedankenexperiment bei dem Zucker in einem Wasserglas geschmol-zen wird. Das Schmelgeschmol-zen des Zuckers steht dabei exemplarisch für die Dauer, die sich der intellektuellen Steuerung entzieht und die im Subjekt eine eigene Zeitlichkeit aus-bildet. Die Dauer des Schmelzens bewegt das Subjekt dazu, den Blick nicht mehr wie gemeinhin aktiv nach vorn zu richten, sondern erzeugt ein »abwartendes Wahrnehmen, das den Bezug von Vergangenheit zu Gegenwart und Zukunft herstellt, das Akzeptieren der wechselseitigen Bedingungen aller dreier Zeitsphären.«55Mithilfe dieses einfachen Experiments gelingt es Bergson, darauf aufmerksam zu machen, dass es eine Zeitlich-keit jenseits der mechanisierten Zeitmessung gibt: ein spannungsvolles Warten, eine Konzentration auf das Geschehen, das keineswegs als Passivität zu deuten ist, sondern einaktivesMoment in Form der Anpassung an den Rhythmus des Ereignisses beinhal-tet.

»[…] die Zeit, die ich warten muss, ist nicht mehr jene mathematische, die sich mit der Geschichte des Universums auch dann noch decken würde, wenn diese auf einen Schlag im Raum hingebreitet worden wäre. Sie fällt zusammen mit meiner Ungeduld, d.h. mit einem Teil meiner eignen Dauer, der weder willkürlich ausdehnbar noch

ab-52 Bergson beschreibt den Zustand desintuitivenErkennens als Zustand der völligen Unvoreinge-nommenheit: »Nichts schiebt sich mehr dazwischen, keine Brechung der Strahlen durch das Pris-ma, dessen eine Fläche der Raum und dessen andere die Sprache ist.« Bergson,Denken und schöp-ferisches Werden, 44.

53 Vgl. ebd. 26f., 88f.

54 Ebd.,27.

55 Ina Schmidt,Vom Leben zum Sein: der frühe Martin Heidegger und die Lebensphilosophie(Würzburg:

Königshausen & Neumann, 2005), 190.

kürzbar ist. Nicht mehr Gedachtes ist hier, sondern Gelebtes, nicht Relatives mehr, son-dern Absolutes.«56

Der entscheidende Aspekt in der Auflösung des Zuckers liegt also darin, dass analog zum kontinuierlichen Diffusionsprozess einzelner Zuckerpartikel die Zeit nicht mehr als Aneinanderreihung von an relativen Bezugssystemen ausgerichteten Zeitpunkten ge-dacht und wahrgenommen wird, sondern als ganzheitliche Bewegung, als Veränderung oder, mit Deleuzes zu sprechen, als »qualitativer Übergang«.57 Jener kontinuierliche Übergang bildet das Zeitempfinden aus, das Bergson mit dem Konzept der ›durée‹ auf-zuzeigen beabsichtigt und das für den französischen Philosophen interessanterweise in einem Dauerzustand des spannungsvollen Wartens resultiert. Jenes Warten erwächst dabei für Bergson nicht nur zu einer subjektbezogenen Grundverfassung im vorgestell-ten Experiment, sondern schlechthin gar zu einer Grundverfassung des Universums.

»Außerhalb des Organischen erscheint uns die anorganische Materie zweifellos als zer-legbar in Systeme, über die die Zeit hinweggleitet, ohne in sie einzudringen, Systeme, die von der Wissenschaft abhängen und auf die sich der Verstand bezieht. Aber das materielle Universum als Ganzes nötigt unserem Bewußtsein dieSpannung des War-tensauf. Es befindet sich selbst in dieser Spannung.«58

Abermals mit Bezug auf sein Zuckerwürfel-Experiment betont Bergson an anderer Stel-le, wie vielfältig das Zeitbewusstsein im Gegensatz zur abstrakten, an relative Bezugs-größen gekoppelten Zeiterfahrung eigentlich zu begreifen ist.

»Diese Notwendigkeit, zu warten [auf die Auflösung des Zuckers, R.K.], ist die Tatsa-che, die von Bedeutung ist. Sie drückt aus, daß – wenn man aus dem Universum Syste-me herausschneiden kann, für die die Zeit nur eine Abstraktion, eine Beziehung, eine Zahl ist – doch das Universum selbst etwas anderes ist. Wenn wir es in seiner Gesamt-heit umfassen könnten, als unorganisch, aber durchwoben von organischen Wesen, so würden wir sehen, wie es unaufhörlich ebenso neue, ebenso originelle, ebenso unvor-hersehbare Formen annähme wie unsere Bewußtseinszustände.«59

Bergsons Verständnis des Wartens als qualitativer Übergang und als aktives Erleben wird im Rahmen dieser Arbeit als bedeutende theoretische Denkfigur aufgefasst, die es erlaubt, das alltägliche Phänomen verkehrsinduzierten Wartens in einer an-deren Daseinsqualität zu fassen. Auch wenn die menschliche Grundverfassung des spannungsvollen Wartens bei Bergson nichtper se als positive Erfahrung deklariert wird, kann das Bergson’sche Zeitkonzept der ›durée‹ schließlich dabei helfen, eine Neukonzeption des (verkehrlichen) Wartens jenseits der antithetischen Wahrnehmung als toter oder verlorener Zeit zu entwerfen.

56 Henri Bergson,Schöpferische Entwicklung, 16.

57 Gilles Deleuze,Das Bewegungs-Bild(Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997), 23.

58 Bergson,Denken und schöpferisches Werden, 45 (Herv. i. O.).

59 Ebd.,31f.

Zeittheorie bei Heidegger  

»Das ontologische Vordringen zum »Ursprung« kommt nicht zu ontischen Selbstver-ständlichkeiten für den »gemeinen Verstand«, sondern ihm öffnet sich gerade die Frag-würdigkeit alles Selbstverständlichen.«60

Die im Rahmen der modernen Philosophie wohl bislang tiefgreifendste Analyse zum Zeitbegriff entstammt der fundamentalontologischen Forschung Martin Heideggers, genauer dessen 1927 erschienenen HauptwerkSein und Zeit. Ausgangspunkt der letzt-lich unvollendet gebliebenen Grundlegungen zur Bedeutung der Zeitletzt-lichkeit für die menschliche Existenz bildet – ähnlich wie für Bergson – der kritische Befund einer offensichtlichen Zeit- und Seinsvergessenheit der philosophischen Tradition seit der Antike. Die grundlegende Frage nach dem Sinn des Seins wurde für Heidegger über lange Zeit trivialisiert, sanktioniert oder schlichtweg als undefinierbar oder selbstver-ständlich abgetan. Zu lange hätte die Philosophiegeschichte das Seiende (die konkreten Erscheinungen) mit dem Sein (den Voraussetzungen der Erscheinungen) verwechselt.

Vor diesem Hintergrund sieht er die Notwendigkeit, die Frage nach dem Sein unter dem folgenden Leitgedanken neu aufzurollen:

»Alle Ontologie, mag sie über ein noch so reiches und festverklammerstes Kategorien-system verfügen, bleibt im Grunde blind und eine Verkehrung ihrer eigensten Absicht, wenn sie nicht zuvor den Sinn von Sein zureichend geklärt und die Klärung als ihre Fun-damentalaufgabe begriffen hat.«61

Die Tiefensuche bzw. philosophische Anthropologie nach dem Ursprung des Seins führt Heidegger zu einer fundamentalontologischen Konzeption von Zeit. Danach bildet zu-nächst dasDasein, die zwischen Geburt und Tod sich aufspannende und in die Welt ge-worfeneExistenz, die grundlegende Seinsart jedes Menschen. Das Dasein ist jeglichem Sein und damit jeglicher Form des Umgangs mit Zeit vorgängig und gilt für Heidegger im Hinblick auf dessen Suche nach dem Sinn des Seins als primäres Befragungsfeld.62 Jenes Dasein selbst besitzt jedoch keine Zeitlichkeit im Verständnis des linearen Er-lebens, sondern wir sind stattdessen stets schon »in der Zeit«. Diese übergeordnete Zeitlichkeit des Daseins ermöglicht überhaupt erst das Erleben einer zeitlichen Ord-nung bzw. das Erleben von Zeitmodi und -derivaten. Mit anderen Worten: Die Zeit ist dem zeitlichen Erleben im zeittheoretischen Verständnis Heideggers stets vorgän-gig. Sie wird somit zur eigentlichen Bedingung der Möglichkeit des In-der-Welt-Seins und muss nach dessen Worten »als der Horizont alles Seinsverständnisses und jeder Seinsauslegung ans Licht gebracht und genuin begriffen werden.«63Der fundamental-ontologische Zeitbegriff gestattet für Heidegger ferner erst den Zugang, um das Sein in all seiner Bestimmtheit – in Form der jeweiligen »Temporalität des Seins«64– erfassen

60 Martin Heidegger,Sein und Zeit, 334.

61 Ebd., 11 [Herv. i. O.].

62 Vgl. ebd., 13f.

63 Ebd.,17.

64 Ebd.,19.

zu können. Als Methode seiner wie erwähnt unvollständig gebliebenen Daseinsana-lyse, die die Vielzahl der im Dasein fundierten Strukturen (Existenzialien) freizulegen beabsichtigt, dient für Heidegger eine durch die Phänomenologie Husserls inspirier-teHermeneutik, also dieAuslegungalles Vorfindbaren mittels einer Rekonstruktion des in einer Sache originär eingeschriebenen Sinns und dessen Reinterpretation.65Nicht selten geht diese Reinterpretation dabei in eine Form der (gewaltsamen) Destruktion traditioneller Denkmuster und Wissensbestände über, bei der Tradition, Geschichte und wissenschaftliche Disziplinen grundlegend hinterfragt werden müssen.

Welche handlungsrelevante Dynamik lässt sich nun aber im Zusammenhang zwi-schen der fundamentalen Vorgängigkeit und Ursprünglichkeit der Zeit und der alltägli-chen Lebenspraxis erkennen? Welalltägli-chen Grundcharakter trägt nun das Dasein bzw. was hält es zusammen? Die Antwort liefert Heidegger in der Auffassung, dass die existen-ziale Gesamtstruktur des Daseins durch dieSorgecharakterisiert sei, dem planerischen, steuernden und berechnenden, kurzum aktiven und umsichtigen Umgang mit der Zeit.

Dasein geht demnach einher mit permanenter Sorge, wobei der Terminus auch deshalb gewählt wurde, um auf den praktischen Umgang des Menschen mit der Welt zu ver-weisen, der dem bloßen Anschauen und Erkennen der Welt entgegengesetzt wird. Die drei charakteristischen Merkmale dieser Sorge-Struktur liegen im Schon-in-der-Welt-Sein(der geworfenen Faktizität des Daseins in einen bereits bestehenden Zusammen-hang), einemSich-vorweg-Sein(der Existenzialität bzw. dem Bewusstsein der zukunfts-orientierten Notwendigkeit zum Ergreifen von Handlungsoptionen) und einem Seins-bei(dem Verfallensein bzw. dem immer schon bei den besorgenden Dingen sein). Die Einheit dieser Strukturelemente bildet für Heidegger den eigentlichen Sinn des Da-seins bzw. »die konkrete Verfassung der Existenz«.66Jene Strukturmomente bestim-men schließlich auch die verschiedenen Zeitmodi des Daseins (Ekstasen), die wiederum gegen die philosophische Tradition alsZukunft,GewesenheitundGegenwartbezeichnet werden.67

Begründet und motiviert werden die drei Strukturelemente der Sorge dabei durch das Bewusstsein der unüberholbaren Endlichkeit des eigenen Lebens, der permanenten Aushandlung des Menschen mit dem Tod als ein permanentesSein zum Tod. Die grund-legende Voraussetzung aber, um sich überhaupt erst auf den Tod ausrichten zu können, bildet dabei dieZeitlichkeit.68Sie wird als ursprünglichstes Moment wiederum erst zur Voraussetzung für die Ausbildung einer Sorgestruktur – Heidegger sagt zum »Sinn der Sorge«69– und gilt somit als grundlegender Unterbau der Existenz des Daseins.

»Wenn die Zeitlichkeit den ursprünglichen Seinssinn des Daseins ausmacht […], dann muß die Sorge »Zeit« brauchen und sonach mit »der Zeit« rechnen. Die Zeitlichkeit des Daseins bildet »Zeitrechnung« aus. Die in ihr erfahrene »Zeit« ist der nächste

phäno-65 Vgl. ebd., 37.

66 Ebd.,231.

67 Vgl. Gloy,Philosophiegeschichte der Zeit, 185.

68 Vgl. Heidegger,Sein und Zeit, 234f.

69 Ebd.,326.

menale Aspekt der Zeitlichkeit. Aus ihr erwächst das alltäglich-vulgäre Zeitverständnis und dieses entfaltet sich zum traditionellen Zeitbegriff.«70

Aus dieser Aussage wird deutlich, dass Heidegger mit derursprünglichen Zeit71etwas an-deres meint als unseren herkömmlichen Zeitbegriff. Vielmehr lässt sich letzterer erst aus dem ursprünglichen Zeitbegriff ableiten und verständlich machen. Trotz der für jegliche Sorgestruktur grundlegenden Vorbedingung einerursprünglichenZeitlichkeit, die für Heidegger als endlich und der Zukunft entspringend verstanden wird,72gesteht er aber dennoch ein, unterschiedliche Dimensionen und Stufen der Zeitlichkeit ableiten zu müssen. Die fundamentalontologische Rekonstruktion des Ursprungs aller Zeitlich-keit bewegt ihn damit zur Argumentation einesÜbergangsvon einer Zeitlichkeit in die andere. Heidegger besetzt dazu auf der basalen Stufe das Dasein als ursprünglichs-ter aller Zeitlichkeiten mit den Begriff der »Weltzeit« bzw. der »besorgten Zeit« und führt am oberen Ende der Stufen des zeitlichen Daseins die Begriffe der »Vulgärzeit«

bzw. »Jetzt-Zeit« ein, die unserem alltagspraktischen Verständnis einer mechanisierten Uhrzeit entsprechen.

Während die »besorgte Zeit« für Heidegger noch keine lineare Zeitfolge, sondern ein aktives und sinnhaftes Moment der Datierung, Bedeutsamkeit, Gespanntheit und Öffentlichkeit beinhaltet, reduziert die »Vulgärzeit« – als Abstraktion von den Bedeu-tungszusammenhängen der »besorgten Zeit« – die Zeit vollends zu einer im Aristoteli-schen Verständnis zählbaren Zeitreihe.73Zeitlichkeit wird dabei nur noch als Aneinan-derreihung von Jetzt-Punkten und als endlose Abfolge verstanden, die die eigentlichen Charakteristika der »Weltzeit« verdecken und nivellieren würden. Der Grund für unsere alltagspraktische Romanze mit der nunmehr als endlos verrinnend wahrgenommenen

»Vulgärzeit« sei der Umstand, dass wir unsere eigene Endlichkeit, den Tod, zu verdrän-gen suchen.

»In der besorgten Flucht liegt die Flucht vor dem Tode, das heißt ein Wegsehen von dem Ende des in-der-Welt-Seins.«74

Im Resultat seiner Ableitung der »Vulgärzeit« aus der ursprünglichen Zeitlichkeit er-wächst letztlich eine deutlich erkennbare Enttäuschung und Kulturkritik Heideggers.

Die »Vulgärzeit« hätte zwar ihr natürliches Recht, sie hätte uns jedoch gleichwohl dazu gebracht, die Eigentlichkeit der Zeit zu verdecken und zu nivellieren. Wir geben uns im Alltag selbstvergessen den Dingen hin, leben uneigentlich, erheben uns damit über die natürlichen Dinge und finden kein Ende mehr. Trotz seiner Polemik gegen den vulgären Zeitbegriff geht es hier Heidegger nach Auffassung von Gloy jedoch »nicht um eine Sus-pendierung der Uhrzeit, sondern um ihre angemessene Einstufung in die Hierarchie der Zeitvorstellungen.«75

70 Ebd., 235.

71 Ebd.,329.

72 Vgl. ebd.,331.

73 Vgl. Inga Römer,Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur(Dordrecht: Springer, 2010), 192.

74 Heidegger,Sein und Zeit,442.

75 Gloy,Philosophiegeschichte der Zeit, 192.

Zwar bleibt im Anschluss an die Einstufungen von Welt- und Vulgärzeit die Her-leitung eines allgemeinen Zeitbegriffs unvollendet, doch das Postulat einer Zentralität der Zeitlichkeit alsvorgängigeVerfassung der Daseinsganzheit markiert nichtsdesto-trotz eine entscheidende Wegmarke der (Zeit-)Philosophie. Sie umfasst eine disrup-tive Zeitauffassung, die bis in die Gegenwart hinein wirkungsmächtig bleibt und mit der sich Heidegger schließlich klar gegen den konventionellen, erstmals mit Aristoteles aufkeimenden objekt- und raumbezogenen Zeitbegriff abzugrenzen versucht, die Zeit-erfahrung vollends in den Bereich des Subjektes verlagert und schließlich die Zeitlich-keit als Grundverfassung, Bedingung und erklärender Struktur der MöglichZeitlich-keiten des Daseins proklamiert. Somit wird der bereits zuvor mit der Phänomenologie Husserls eingeleitete Bruch zwischen Physik und Philosophie hinsichtlich des ontologischen Sta-tus der Zeit abermals verstärkt. Mit Heidegger wird dem antiken Geozentrismus wird nunmehr eine radikale Form des Egozentrismus gegenüberstellt.

 

Wiederum mit Bezug auf das Temporalphänomen des Wartens stellt sich nun die Frage, welche Einblicke sich mit der fundamentalontologischen Philosophie Heideggers für das Warten gewinnen ließen.Sein und Zeitwidmet sich in seinem zweiten Abschnitt der Freilegung der existentialen Grundstruktur der Zeitlichkeit, allerdings bleibt hier ange-sichts des abstrakten, philosophietheoretischen Blickwinkels eine tiefere Betrachtung oder Einordnung alltäglicher Zeitmodi (etwa dem Warten) aus. Dennoch widmet sich Heidegger im Rahmen der Zeitlichkeit der Alltäglichkeit randständig demErwarten zu-künftiger Ereignisse. Der Modus des Erwartens gilt ihm hier als Beweisführung dafür, dass sich auch dasuneigentlicheDasein (einem Dasein, das sich nur den gegenwärtigen Dingen und Tätigkeiten widmet, sich aber nicht aus seiner Endlichkeit versteht) sich im Kern aber gleichwohl auf eineigentlichesDasein stützt, das sich seiner Endlichkeit bewusst ist und daraufhin im Rahmen seiner Möglichkeiten handelt. Während das Ge-genwärtigenals Verfolgung rein gegenwartsbezogener Alltagsgeschäfte einuneigentliches Dasein verkörpert, würde dagegen dasVorlaufeneineigentlichesDasein begründen, das sich aus seiner eigenen Endlichkeit begreift. Jedes Antizipieren von Zukunft – und so etwa auch der Modus des Wartens – würde zwar im alltäglichen Kontext gegenwartsbe-zogen wirken, das Antizipieren wäre aber erst dadurch möglich, dass dieursprüngliche Zeitlichkeitals vorgängige Ur-Bedingung aller Möglichkeiten des Daseins fungiere.

»Das Gewärtigen muß schon je den Horizont und Umkreis erschlossen haben, aus dem etwas erwartet werden kann.Das Erwarten ist ein im Gewärtigen fundierter Modus der Zu-kunft, die sich eigentlich zeitigt als Vorlaufen. Daher liegt im Vorlaufen ein ursprüngliche-res Sein zum Tode als im besorgten Erwarten seiner.«76

Daraus schlussfolgernd ließe sich also argumentieren, dass die alltäglichen Wartesi-tuationen in der Perspektive Heideggers womöglich als wichtige funktionale Schlüssel-stellen zur Selbstbestimmung deseigentlichenDaseins dienen könnten. Die erzwungene Zeitbezogenheit im Warten, insbesondere im Langzeitwarten, beinhaltet eine unterbe-wusste Erinnerung an die eigene Endlichkeit des Lebens, die in anderen Situationen

76 Heidegger,Sein und Zeit, 337.

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