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2.5 Auswirkungen von Essstörungen auf zentralnervöse Strukturen und Prozesse . 7

2.5.2 Neuropsychologie bei Essstörungen

Aus den im Abschnitt 2.5.1 dargestellten hirnmorphologischen Veränderungen im Rahmen von Essstörungen lassen sich Vermutungen über resultierende kognitive Beeinträchtigungen

sind. Zum anderen lassen die beschriebenen Lokalisationen der Veränderungen auf bestimm-te kognitive Störungen schließen. Jedoch fällt auf, dass ein Großbestimm-teil der morphologischen Befunde allgemeine Volumenminderungen beschreibt, die wiederum in eher generalisierte kognitive Störungen münden sollten. Neokortikale Veränderungen lassen entsprechend Beein-trächtigungen in Wahrnehmung (parietal, okzipital, temporal) und den jeweiligen Gedächt-nisfunktionen (somatosensorisch, visuell und auditiv) sowie in Exekutivfunktionen (frontal) vermuten. Spezifischere Veränderungen z.B. im ACC sprechen für eine Beeinträchtigung von Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit sowie für eine Veränderung affektiver Bewer-tungsprozesse.

Bereits 1950 lieferten Keys et al.[79] Belege, dass Unter- und Fehlernährung die kognitive Leistungsfähigkeit beeinflussen. Untersuchungen an Patientinnen mit AN und Patientinnen mit BN bestätigten in den folgenden Jahren kognitive Einschränkungen. Hinweise auf ähnli-che Einbußen in Bereich der Aufmerksamkeit und Problemlösung bei AN und BN fanden Lauer et al.[40]in Verbindung mit Besserungen der Reaktionsgeschwindigkeit, Problemlösung und Aufmerksamkeit bei klinischer Remission der Erkrankungen. In anderen Untersuchungen bei Patientinnen mit AN und BN wurde ebenfalls eine Besserung der kognitiven Leistungen in Bereichen der Aufmerksamkeit, Problemlösung und des visuellen Gedächtnisses nach Remis-sion nachgewiesen[38, 41, 80]. Heute geht man überwiegend von einer Verbesserung aus, wenngleich andere Studien keine Zunahme der kognitiven Leistungen nach Normalisierung des Gewichts nachweisen konnten. So zeigten sich über die Gewichtsnormalisierung hinaus Einschränkungen im Kurzzeitgedächtnis, hinsichtlich der visuospatialen Fähigkeiten[81, 82] und im Arbeitsgedächtnis[82].

Anhaltspunkte für ähnlich eingeschränkte Kognition bei Patientinnen mit BN wie bei AN-Erkrankten lieferten einige Querschnittsstudien[41, 80, 83]. Andere fanden im Vergleich zu gesunden Kontrollen Hinweise auf stärkere Minderung der kognitiven Leistungen bei Patien-tinnen mit AN gegenüber PatienPatien-tinnen mit BN[42].

Bei der Untersuchung der Neuropsychologie der Essstörungen mit dem Ziel, aus möglichen Hirnschädigungen aufgrund von diffusen prä- oder postnatalen Komplikationen Erkenntnisse zur Ätiopathogenese gewinnen zu können, fanden sich deutliche Hinweise auf signifikante Defizite und Einbußen bei Aufmerksamkeit, visuellem und auditivem Kurzzeitgedächtnis und bei allgemeinem Wissen bei Patientinnen mit AN[38]. Die Ergebnisse waren jedoch unspe-zifisch und ließen z. B. keine Rückschlüsse auf Zusammenhänge mit post- oder pränatalen Komplikationen bei den Betroffenen zu, ebenso wenig fanden sich Hinweise auf fokale oder diffuse Hirnschädigungen[36]. Damit blieb ungeklärt, ob primär organische Störungen oder

„endogene Distraktoren“ als Ursache der festgestellten Defizite anzusehen waren[38]. Signifikant schlechtere Ergebnisse von Patientinnen mit AN hinsichtlich Kognition im Vergleich mit gesunden Kontrollgruppen in einer Untersuchung geben Anlass, auf die Möglichkeit ei-ner Einbuße des Arbeitsgedächtnisses bei strukturellen Hirnveränderungen, verursacht durch Hungern, hinzuweisen[82].

Chan et al.[84]fanden eine positive Korrelation zwischen BMI und Lernerinnerungsgedächt-nis bei AN und entwickelten die Hypothese eines Zusammenhanges von reduzierten Gedächt-nisleistungen und Lerneinschränkungen mit Unter- bzw. Fehlernährung. Eine Untersuchung

zum intentionalen und automatischen Lernen ergab, dass die Probandinnen mit Essstörungen deutlich schlechtere Ergebnisse im Bereich des automatischen Lernens erreichten als gesunde Kontrollen[37].

Als Ursachen wurden die Einengung des Aufmerksamkeitsfokus auf die intentionalen Lern-inhalte aufgrund von erhöhten zentralen Erregungsniveaus sowie mögliche kognitive Interfe-renzen vermutet. Diese könnten die für die Aufgabenbewältigung zur Verfügung stehende Auf-merksamkeitskapazität reduziert haben[36, 37]. Die Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit als Ursache für neuropsychologische Auffälligkeiten wurde für Patientinnen mit Essstörungen in weiteren Untersuchungen bestätigt[36].

Zu nennen sind Beeinträchtigung der Daueraufmerksamkeit, nachgewiesen mittels Conti-nuous Performance Task[57, 80], sowie vermindertes Reaktionsvermögen und geringere psy-chomotorische Geschwindigkeit, nachgewiesen mittels Simple Reaction Time, und reduzierte Leistung bei einem Test zur geteilten Aufmerksamkeit[40, 82].

Für essgestörte Patientinnen wird inzwischen übereinstimmend eine gesteigerte Interferenz-neigung bzw. die reduzierte Fähigkeit zur Unterdrückung von Reaktionen auf Informationen, die für die Aufgabe irrelevant sind, beschrieben, auch wenn einzelne Untersuchungen dies nicht immer zu bestätigen vermochten[36]. Besonders anschaulich zeigt eine Studie von Fair-burn et al. die Störung der Fähigkeit zu selektiver Informationsverarbeitung. Bei den Testper-sonen mit BN erfolgte die Informationsverarbeitung, je nachdem ob das angebotene Informa-tionsmaterial affektiv neutral oder affektiv hoch besetzt und krankheitsbezogen war, äußerst unterschiedlich[85].

Zu beachten ist somit, dass die festgestellten Aufmerksamkeitsdefizite bei Essstörungen nicht primär einfach auf verminderte psychomotorische Geschwindigkeit zurückgeführt werden dürfen, wie sie auch bei chronisch mangelernährten bzw. unterernährten Personen auftritt.

Vielmehr zeigen die vergleichbaren Untersuchungsergebnisse bei Probandinnen mit BN, die vergleichsweise normgewichtig sind, dass Essstörungen mit Aufmerksamkeitsdefiziten asso-ziiert sind, welche auf die reduzierte Fähigkeit zurückzuführen sind, mehr als eine relevante Informationseinheit hinreichend selektiv und flexibel zu bearbeiten. Dies tritt allerdings nicht spezifisch nur bei Essstörungen, sondern auch bei weiteren Erkrankungen auf[36].

Untersuchungen der mnestischen Leistungen weisen ebenfalls in die Richtung, dass vor al-lem Defizite der Aufmerksamkeit und der Informationsverarbeitung relevant für Essstörungen sind, nicht aber Einbußen bei komplexeren neuropsychologische Funktionen wie der Enkodie-rung bzw. dem Abruf aus dem Gedächtnis[36].

Zu komplexen kognitiven Fertigkeiten wie Planen und Problemlösung liegen bisher noch we-nige Untersuchungen vor. Festgestellt wurden allerdings erhöhte Fehlerraten bei Patientinnen mit AN beim Austin Maze Test[45] sowie reduzierte Flexibilität bei der Anpassung an ver-änderte Regeln (Wisconsin Card Sorting Test) [39, 86]. Insgesamt konnten jedoch anhand weiterer Studien für Patientinnen mit AN oder BN keine charakteristischen neurologischen Einbußen in Exekutivfunktionen bestätigt werden[36].

Soweit Einschränkungen in kognitiven Leistungen festgestellt werden, sprechen viele Hinwei-se dafür, dass es sich um die Folgen von AufmerksamkeitHinwei-seinbußen handelt, wie schon von

Patientinnen mit Essstörungen benötigen vermutlich aufgrund vermindert zur Verfügung ste-hender Aufmerksamkeitskapazität mehr Zeit für die Verarbeitung von Informationen. Dar-über hinaus nicht reduziert scheinen Funktionalität und Qualität komplexer kognitiver Fer-tigkeiten wie Enkodierung, Speicherung und Wiederabrufen von Informationen. Wesentlich ist, dass die genannten neuropsychologischen Einbußen hinsichtlich Aufmerksamkeit nur bei einer Minderheit von 34% der an den Untersuchungen beteiligten Patientinnen mit Essstö-rungen festzustellen waren. Die übrigen 66% waren unauffällig[36]. Auf Einschränkungen der Exekutivfunktionen, der motorischen Fähigkeiten sowie der visuellräumlichen Fähigkei-ten bei Patientinnen mit AN weisen mehrere Studien hin[41, 87, 88]. Weider et al. konnten auch für Patientinnen mit BN Einbußen im Bereich der visuellräumlichen Leistungen sowie bei den Exekutivfunktionen feststellen[89]. Zu ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich der visu-ellräumlichen Einschränkungen kamen auch Lopez et al. sowie Brand et al. im Hinblick auf die Exekutivfunktionen[90, 91].

Defizite im verbalen und visuellen Kurzzeitgedächtnis, bei der visuellräumlichen Vorstellungs-kraft, bei Problemlösungsfähigkeiten sowie der Reaktionsfähigkeit wurden durch mehrere prospektive Studien nachgewiesen, wobei nach Gewichtsnormalisierung die Einschränkun-gen zurückginEinschränkun-gen[28, 38, 45, 92].

Zu neuropsychologischen Befunden nach Abschluss der Therapie sind noch keine eindeuti-gen Aussaeindeuti-gen zu treffen, vor allem weeindeuti-gen mangelnder Vergleichbarkeit der durchgeführten Studien. Fünf prospektiv angelegte Studien ergaben über den Verlauf des Klinikaufenthaltes hinweg einen Rückgang bezüglich des Anteils der als neuropsychologisch auffällig einzustu-fenden Patientinnen von 45% auf 33%. Eine systematische Besserung in bestimmten kogniti-ven Einzelleistungen war nicht zu erkennen[36].

Studien von Kingston et al., Szmuckler et al. und Lauer et al. verzeichneten alle deutliche Verbesserung der untersuchten Aufmerksamkeitsbereiche, unabhängig davon, ob AN oder BN vorlag[40, 45, 81]. Die Einbußen bei den mnestischen Fertigkeiten blieben jedoch unverän-dert über den Untersuchungszeitraum hinweg bestehen[36].

Rückschlüsse aufgrund des erhobenen neuropsychologischen Leistungsprofils im Hinblick auf Chancen für den Therapieerfolg sind nach den bisherigen Untersuchungen dazu nicht mög-lich. Auch konnten bei Therapieabbrecherinnen keine spezifischen Besonderheiten festgestellt werden[40, 45].

Eine weitere Studie fand, dass es bei Patientinnen mit AN im Bereich der kognitiven Flexibi-lität zu keiner Besserung nach Normalisierung des Gewichtes kam[43]. Dieses Ergebnis wird von einer Studie über die neuropsychologischen Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendli-chen mit Essstörungen gestützt. Auch hier zeigten sich die Einbußen in den BereiJugendli-chen der flexiblen Anpassung und selektiven Aufmerksamkeit über die Gewichtsnormalisierung hinaus persistierend[44].

Bei einer Untersuchung mit Anorexiepatientinnen und deren nicht anorektischen Schwestern zeigte sich, dass bei beiden Gruppen im Vergleich zu gesunden Kontrollen vermehrt kognitive Defizite v. a. im Bereich der kognitiven Flexibilität auftraten[93]. Eine schwache zentrale Ko-härenz scheint spezifisch für den restriktiven Typ der AN und zudem geschlechterunspezifisch zu sein [94]. In Studien mit Jugendlichen mit AN zeigten sich bezüglich der kognitiven

In-flexibilität heterogene Befunde. Dies wird möglicherweise auf die noch nicht abgeschlossene Reifung des Frontalkortex im Vergleich zu Erwachsenen zurückgeführt[94]. Diese Ergebnis-se bieten Anlass zur Überlegung, ob die genannten Defizite möglicherweiErgebnis-se als HinweiErgebnis-se auf einen Endophänotyp (Trait-Merkmal) anzusehen sind, und nicht als Resultate der Erkrankung (State-Merkmal)[43, 93]. Jedoch wurden in einer anderen Studie keine Einschränkungen im Bereich des Set-Shiftings bei Patientinnen mit AN nachgewiesen[95].

Auf einen Zusammenhang zwischen kognitiver Leistungsfähigkeit und Menstruation bei Pa-tientinnen mit AN deutet eine Studie hin, die Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten bei adoleszenten Patientinnen vor und nach Gewichtsreduzierung zum Gegenstand hatte. Es fanden sich deutliche Hinweise, dass die Wiederherstellung einer normalen Hormonfunktion für die Verbesserung der zuvor eingeschränkten kognitiven Leistungsfähigkeit besonders för-derlich ist. Gewichtsnormalisierung und Verbesserung der kognitiven Leistungen korrelierten, wobei diese Verbesserung bei Patientinnen mit AN mit wenigstens wieder einer Menstruation deutlich stärker ausgeprägt war[96].

Es lassen sich insgesamt bisher keine verlässlichen Aussagen dazu treffen, ob es zwischen der Ausprägung der Psychopathologie der Essstörung und der neuropsychologischen Testleistung einen Zusammenhang gibt. Alle prospektiven Untersuchungen dazu ergaben, dass sowohl eine Besserung der Testleistungen als auch eine Minderung der Essstörung festzustellen waren. Es fanden sich gleichzeitig jedoch keine Hinweise, dass diese beiden Prozesse eng miteinander verknüpft sind[37, 40, 80, 82].

Nach bisheriger Befundlage lassen sich für Patientinnen mit Essstörungen zwar kognitive Be-einträchtigungen in Bereichen der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses postulieren, weder sind diese aber als spezifisch für die Erkrankungen noch als eng mit der individuellen Psycho-pathologie assoziiert anzusehen.