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Bernhard Setzwein einmal von seinen Erkundungen des Grenzlandes

3 DIE MITTE EUROPAS LIEGT OSTWÄRTS

3.1 Mitteleuropa - Střední Evropa

Ein Grenzlandroman nationaler Provenienz ist Setzweins "Grüne Jungfer" also nicht, auch kein bayerischer Heimatroman. Es handelt sich um ein inhaltlich grenzübergreifendes Werk zwischen Bayern und Tschechien mit dem Brennpunkt des Geschehens in einem tschechischen Ort nahe der Grenze, früher gelegen beim Grenzsperrgebiet. Dazu kommt nun ein wichtiges räumliches Merkmal. Was sich hier den Lesern bietet, geht schon aus den ersten Zeilen hervor:

"Es war elf Uhr zweiunddreißig mitteleuropäischer Zeit.

Ladislav Vančura saß bereits vor seinem zweiten Seidel Bier im Gasthaus Zur grünen Jungfer in Hlavanice, was ziemlich genau in der Mitte des Kontinents liegt (...) . "116

So beginnt ein Werk, das gerade von seinen erzählten Ereignissen her mitteleuropäisch sein will, so mitteleuropäisch wie andere Literaturen und Literaten in diesem besonderen geographisch-politisch-kulturellen Raum auch.117

Eine neue intensivere Diskussion darüber könnte dieser Roman ebenfalls anstoßen. Die Frage nach dem Mitteleuropäischen ist zweifellos zeitgemäß, weil doch Grenzland immer wieder als Brücke zwischen Nachbarn gesehen wird, als

"'SETZWEIN, S. 39.

"'SETZWEIN, S . 6 .

Vgl. Joseph ROTH, Robert MUSIL, die tschechischen, polnischen, ungarischen, österreichischen Schriftsteller von heute als Vertreter der mitteleuropäischen Literatur.

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Tor, Pforte, Verbindung. Ostbayern und Westböhmen befinden sich mitten drin in diesem Raum der Mitte. Die neuere Diskussion über die europäische Mitte ist nicht von Berlin oder München ausgegangen, sondern von Prag, Warschau, Budapest, Wien, Paris. In Prag wird bezeichnenderweise die Zeitschrift "Střední Evropa" herausgebracht. "Mitteleuropa" ist zugleich ein Begriff, der längst ausser Gebrauch gekommen schien. Nun aber taucht er auf einmal in diesem Werk von der Grenze auf, das mitteleuropäisch auch dadurch sein will, dass es die Haupthandlung über diese Grenze hinüber verlegt. "Grenzenlos" - das war Mitteleuropa früher bekanntlich ebenfalls, das österreichisch-ungarische nämlich.

Lange Zeit war die Bezeichnung "Mitteleuropa" außerdem eng mit dem deutschsprachigen Gebiet verbunden. Sie bekam dann eine übernationale Bedeutung und wurde auch in anderen Sprachen heimisch. Im 19. Jahrhundert war sie zunächst in Verbindung mit dem Problem der Vereinigung der deutschen Länder gebräuchlich. Um 1900 begann sie die Beschreibungen der wirtschaftlichen Integration von Deutschland und Österreich-Ungarn zu prägen.

Ein wichtiger Anstoß ging von Friedrich Naumann und seinem Werk

"Mitteleuropa" aus (1915), das beeinflusst ist von der Vorstellung reichsdeutscher Macht über die anderen Länder und Nationen des Kontinents in Mitteleuropa.

Also auch und gerade über Völker wie das tschechische, die zwar als gefahrlich angesehen wurden, denen jedoch Naumann in diesem politisch-kulturellen Raum eine hervorragende Bedeutung zubilligte.118 Naumann war fasziniert von der Verträglichkeit und Dynamik, die er am tschechischen Volk beobachten konnte, und vor allem von der Weise, in der es sich selbständig nach deutschem Vorbild entwickelte (!). In den deutsch-tschechischen Kontroversen auf dem nationalpolitischen Gebiet erblickte er freilich keine tragfähige Grundlage für die Schaffung einer mitteleuropäischen wirtschaftlichen Kooperation, die zwar im f weitesten Sinne des Wortes deutscher Prägung sein, dennoch aber einen selbständigen Charakter haben sollte. Naumanns "Mitteleuropa" wurde begrüßt, aber auch abgelehnt. Für T.G. Masaryk waren Naumanns Ansichten nur ein versteckter Pangermanismus. Immerhin hatte dieser dem kleinen westslawischen Volk in der deutschen Nachbarschaft das Recht auf Eigenständigkeit zuerkannt.119

J A W O R S K I , Rudolf: Friedrich Naumann a Češi [F.N. und die Tschechen], In: Friedrich Naumann. Příspěvky k pochopení osobnosti a díla [F.N. Beiträge zum Verständnis von Persönlichkeit und Werk], Praha: Aleko, 1996. S. 23 - 36.

J A W O R S K I , a.a.O., S. 32.

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Ansonsten hat er die Dynamik der tschechischen Entwicklung nicht mehr abschätzen können. Setzweins Roman nun liest sich fast wie eine Satire auf Naumanns wirtschaftliche Vorstellungen von Mitteleuropa. Von den politischen Ideen ganz zu schweigen. Die mitteleuropäische Konzeption scheiterte.120 Was blieb, ist eine Ahnung davon, dass sich jenseits der Grenze gerade heute Entscheidendes anbahnen könnte. Setzwein setzt auf jene Kräfte in Tschechien und Bayern, die die Nachbarschaft zum Nutzen beider Seiten entwickeln, ohne dass der westliche Partner dabei das Übergewicht über den anderen anstrebt. Der Unternehmer Zacharias Multerer in unserem Roman charakterisiert sich dabei in seinen Gesprächen stets so, dass der Leser sofort merkt, wie abwegig seine volkswirtschaftlichen Überlegungen sind. Setzweins Roman ist ein Zeichen am Weg, der aus der gescheiterten Idee "Mitteleuropa" herausführt.

Was man aus dem Roman weiterhin ableiten kann, ist die Idee der Koexistenz und der gegenseitigen Durchdringung, der Gedanke der geistigen und individuellen Freiheit. Mitteleuropa bedeutet in diesem Sinne Ausdruck für alle Kräfte, zum Beispiel an einem Denkmal (Bauwerk), in einem Bild und einem Wort, in einer Institution, eine wichtige Information zu hinterlassen. Es scheint fast, als habe hier Bernhard Setzwein seine Ansichten den Anschauungen von Jacob Burckhardt abgewonnen.121 Belege zu den eben genannten Begriffen v

werden sich in der "Grünen Jungfer" nachweisen lassen (die Landvermesser, Graf Hlaváček und seine "Annales", Ladislav Vančura und sein Erzählen über die längst vergangenen Zeiten des "Ortes"). Nicht zu übersehen ist schließlich die folgenreiche Entscheidung: Die Mitte Europas liegt ostwärts.

Die geographische Mitte lag oder liegt heute eigentlich westwärts.

Man findet sie an der bayerisch-böhmischen Grenze bei Neualbenreuth beziehungsweise bei Dolní Žandov, von Tschechien aus gesehen. Vom Ort Neumugl (bayer.) erreicht man nach einer Stunde Wanderzeit den Mittelpunkt, den eine quadratische Steinsäule markiert. Sie befindet sich auf dem Tillenberg

LEMBERG, Hans: 1938 - 1948. Die Katastrophe Mitteleuropas und die Nachkriegszeit. In: Das künftige Mitteleuropa. Tradition und Perspektiven. Vortragsreihe der Karls-Universität Prag in Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik und der Fritz Thyssen Stiftung. Praha: Karolinum. Nakladatelství Univerzity Karlovy, 1998. S. 13 - 41.

Vgl. KAEGI, Werner: Jacob Burckhardt. Eine Biographie. Bd. IV. Basel-Stuttgart, 1973. S. 155 - den Hinweis verdanke ich: STŘELKA, Joseph: Střední Evropa a její duchovní hodnoty a rakouská literatura [Mitteleuropa, seine geistigen Werte und die österreichische Literatur], In:

Literatura a politika. Pohledy z literárněvědné perspektivy [Literatur und Politik. Blicke aus literaturwissenschaftlicher Perspektive], Brno, 2001. S. 19 - 51 (besonders S. 29 f.).

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(tsch. Dyleň) an der Grenze und ist 17 Zentner schwer. Ein Bagger schaffte sie 1985 auf den Gipfel. Die Jahreszahl 1284 am Stein erinnert dabei an die erste Erwähnung Neualbenreuths. Bei den Wappen handelt es sich um jene von Eger und eben Neualbenreuth.122 Das Jahr 1865, das sich auch in Setzweins "Grüner

Jungfer" findet, geht zurück auf den Grenzvertrag aus jenem Jahr. / Der Mittelpunkt Europas, gelegen auf der bayerischen Seite, jedoch

auf der böhmischen Seite ermittelt, wurde im 19. Jh. durch Baron von Zedwitz auf dem Gipfel des Tillenbergs (tsch. Dyleň) bestimmt. In der "Grünen Jungfer" legte ihn Graf Hlaváček sen. fest. Die europäische Mitte war also Jahrzehntelang bekannt (vgl. unsere Abbildungen). Die Tschechen selber haben die Erinnerung an diesen Punkt jedoch nicht wachhalten können. Der Eiserne Vorhang machte ihnen den Zugang unmöglich.123 Bayern zog den Mittelpunkt zu sich herüber.Es musste also nur noch darum gehen, hier eine Rückgabe zu ermöglichen. Bernhard Setzwein war es, der Europas Mitte und Mittelpunkt in seinem Roman einfach wieder auf böhmisches, also tschechisches Territorium verschob. Aus dem Baron Zedwitz wurde dabei Graf Hlaváček von Hlavanice. Damit ist mehr geschehen als nur eine Verschiebung. Denn sie erinnert an einen beziehungsreichen in die Zukunft weisenden Buchtitel. Er stammt von Karl Schlögel, der ihn zum ersten Mal in seinem Beitrag "Die Mitte liegt ostwärts. Die Deutschen, der verlorene Osten und Mitteleuropa" verwendete.124 Dorthin gehört auf dem Tillenberg eben der Mittelpunkt, also wieder zurück über die Grenze. Bernhard Setzwein deutete die ursprüngliche Lage in seinen Hlavanicer Annalen an: ostwärts.

Bernhard Setzweins Roman ist ein paar Monate vor der Aufnahme Tschechiens in die EU (1. Mai 2004) erschienen, im Jahre 2003. Schon zu diesem Zeitpunkt war abzusehen, dass sich die Mitte Europas tatsächlich ostwärts verschieben wird, nicht nur verschieben könnte. Deswegen konnte die

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Neualbenreuth erscheint auch in der tschechischen Kulturgeschichte. Von dort stammt der spätere Unterdrücker der Choden von Taus, Freiherr von Lamingen, genannt Lomikar, der Feind des Jan Sladký Kozina.

Die Angaben entnahm ich HOFMANN, Erwin: Zwischen Bayern und Böhmen. Wanderungen zu historischen Grenzzeichen von Hof bis Passau. Regensburg: Mittelbayerische Druck- und Verlags-Gesellschaft, 1996. S. 18 f.

STŘELKA, Joseph: Střední Evropa a její duchovní hodnoty a rakouská literatura [Mitteleuropa, seine geistigen Werte und die österreichische Literatur]. In: Literatura a politika. Pohledy z literárněvědné perspektivy [Literatur und Politik. Blicke aus literaturwissenschaftlicher Perspektive], Brno, 2001. S. 1 9 - 5 1 Abgedruckt in SCHLÖGEL, Karl: Die Mitte liegt ostwärts.

Europa im Übergang. Bundeszentrale für politische Bildung. München-Wien: Carl Hanser Verlag, 2002. S. 14 - 64.

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Rückverlegung im Roman selber erfolgen, wenn Mitteleuropa keine Utopie bleiben sollte. Der Mittelpunkt verband sich mit einer Stelle, die geodätisch-geographisch und mathematisch berechnet richtig war und zugleich die neuen Entwicklungen symbolisierte.

Nachzutragen bleibt hier noch, dass sich auf böhmischem (tschechischem) Boden dennoch ein Denkmal als Verweis auf eine Vermessung befindet. Bei der amerikanischen Gedächtnisstätte für die in April 1945 Gefallenen von General Pattons achte Armee (nahe Cheb - Eger) steht auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Obelisk mit einer Gedenkinschrift, die an die kartographische Erfassung der Region im Jahre 1873 erinnert. Die Inschrift lautet in Übersetzung: "Nordöstlichster Endpunkt der von den Offizieren des militärischen Geographischen Institutes im Jahre 1873 gemessenen Grundlinien."125

Diesen Informationen entnahm der Autor des Romans wahrscheinlich den Hinweis auf die militärische Kommission, das Wiener Geographische Institut und eben die Grundlinien. Was ist nun aber mit Bayern, gelegen am neuen, eigentlich ursprünglichen, ostwärts und nicht mehr westwärts befindlichen Mittelpunkt Europas? Rückte es in der Zeit des Eisernen Vorhangs westwärts oder rückt es jetzt zusammen mit dem Mittelpunkt ostwärts? Bernhard Setzweins Antwort auf diese Frage können wir nur vermuten. Aus dem Werk selber scheint sie nicht direkt hervorzugehen. Deswegen wollen wir hier einen der neueren Theoretiker Mitteleuropas zu Worte kommen lassen. Danilo Kis schloss sich in seinem 1987 veröffentlichten Aufsatz dem slowenischen Schriftsteller Marjan Rozanc an, der neben den Slowenen die Bayern, Kroaten, Polen, Slowaken, Tschechen, Ungarn und selbstverständlich die Juden zu Mitteleuropa zählte.126

Allerdings bleibt hier unklar, ob in Bayern selbst oder gar in Ostbayern je eine

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Diskussion darüber stattgefunden hat, ob man sich bereits zu jenem Mitteleuropa rechnet, dessen Idee bei den anderen genannten Völkern aktuell wurde.

Überlegungen darüber gibt es meines Wissens auch nicht in Westböhmen, vor allem nicht darüber, inwiefern nun Mitteleuropa tschechischerseits nach Westen reichen könnte.

125Vgl. ROKYTA, Hugo: Die Böhmischen Länder. Böhmen. Handbuch der Denkmäler und Gedenkstätten europäischer Kulturbeziehungen in den Böhmischen Ländern. 2. Überarb. und erw.

Aufl. Prag: Vitalis-Buchverlag, 1997. S. 45.

126KI§, Danilo: Variations on the Theme of Central Europe. In: Cross Currents 6 (1987). S. 1 - 14.

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Bleibt überhaupt zum Abschluss dieser Überlegungen noch mit Karl Schlögel zu fragen:

"Ja, läßt sich Mitteleuropa, der Raum mit den wandernden Grenzen, der Verflechtung der diversen Kulturen, Sprachen und Bekenntnisse, der Nichtübereinstimmung von Staat und Nation, die Mischzone aus ebenso produktiven wie explosiven Übergangs- und Grenzlandschaften, läßt sich dieses Mitteleuropa überhaupt more geometrico definieren?"127

Die spezielle Antwort von Bernhard Setzwein können wir vielleicht aus den

"Annales Hlavanicenses" herauslesen, wenn die österreichische Komission wie eine Raupe heranrückt, sich die Dorfbuben der Landvermesser annehmen, die bayerischen Nachbarn aus Mönchsreuth sich neidisch einmischen, der Leiter der Expediton am Tisch mit Hilfe der dortigen Teller und Speisen die Grundlinien demonstriert, die von einem Ende Europas zum anderen gezogen werden müssen.

Die Ermittlung des Mittelpunkts von Europa erscheint zunächst als das, was sie angesichts der von Schlögel charakterisierten Lage tatsächlich ist, ein aussichtsloses und zur Komik neigendes Unternehmen, verurteilt zum Scheitern.

Wieviele Mittelpunkte gibt es also noch? Nur das dürfte klar sein: An der bayerisch-böhmischen Grenze gibt es einen einzigen, mag er nun westwärts oder ostwärts liegen.

Mit dem Zitat von Karl Schlögel ergibt sich freilich eine Empfehlung für die deutsche Leserschaft, die "Mitte" zu entdecken:

"Mallorca ist nur ein ferner Punkt auf dieser Karte. Die wahre Fernreise geht in die Nähe, die heute so fern gerückt ist. Nirgendwo ist das Abenteuer leichter zu haben als in der nächsten Nachbarschaft. Der Reisende im vierzigsten Jahr nach Jalta hat die größte Entdeckung noch vor sich: die europäische Mitte."128

Nach 1989 ist Bernhard Setzwein aus Waldmünchen als einer der ersten aufgebrochen, die "Mitte" zu suchen. Dabei hat er die Nachbarn entdeckt, die sich so lange hinter der Grenze verborgen haben, um sie und die "Mitte" später künstlerisch zu erfassen.

127SCHLÖGEL, a.a.O., S. 17.

,28SCHLÖGEL. S. 24.

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