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Mittelalterliche und spätmittelalterliche Einflüsse auf die norddeutsche Tierheilkunde

In der Tiermedizin des Spätmittelalters verband sich das den antiken Quellen entnommene Wissen mit praktischen Kenntnissen, die mündlich überliefert waren.19 Ohne Frage halfen sich in Ermangelung ausgebildeter Tierärzte die Laien selbst mit überlieferten präventiven und therapeutischen Maßnahmen. Insbesondere wegen der soziokulturellen und wirtschaftli-chen, insbesondere aber auch militärischen Bedeutung der Pferde stand die Pferdeheilkunst im Vordergrund. Dies spiegelt sich auch im Übergewicht der Pferdethematik in den mittelal-terlichen Quellen wieder.20 Hinzu kam, dass das Pferd in der Kultur der gesellschaftlichen

17 Schauber, Schindler 1998.

18 Über dubiose Heilpraktiken und „schwarze“ oder magische Medizin informativ Abraham, Thinnes 1996. Zu traditionellen Heilmitteln des Mittelalters bei Erkrankungen des Schweines, die z.B. von Hildegard von Bingen empfohlen wurden, siehe auch Schäffer 1995, S. 193.

19 vgl. Schäffer, Fischer 1996, Sp. 774 - 780.

20 Schäffer, Fischer 1996, Sp. 774.

Oberschichten eine große Rolle spielte. Entsprechend waren die wenigen Veterinäre des Mit-telalters, von denen man weiß, Rossärzte. Im romanischen Sprachraum spiegelt sich diese Dominanz in einem Begriffswandel wieder: aus der ars veterinaria wurde die marescalcia, in Frankreich die maréchalerie. In dem Begriff klingt noch der frühere Einfluss der keltischen Kultur nach, denn das Wort Marschall leitet sich vom keltischen marc’h (Pferd) und skalk (Diener) ab. So wurde die Tiermedizin in erster Linie als Tätigkeit der Marschälle gesehen, also derjenigen, die im Dienste der Fürsten für die militärische Einsatzbereitschaft der Pferde, ihre Haltung und Zucht verantwortlich waren. Analog dazu wurde die Veterinärkunst vor al-lem mit der gesundheitlichen Betreuung und Versorgung der Pferde gleichgesetzt.21 Seinen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung zur Zeit des Stauferkaisers Friedrich II (1194-1250), dessen Marschall Jordanus Ruffus die Pferdeheilkunde der späten Antike weiter führte. Seine Schriften, die in zahlreichen lateinischen und volkssprachlichen Versionen – so in Franzö-sisch, Italienisch und Deutsch – in Europa verbreitet waren, wurden Standardwerke des Spät-mittelalters. Andererseits begründete das Rossarzneibüchlein des Meisters Albrant eine eige-ne, von den spätantiken Quellen unabhängige Tradition der europäischen Tierheilkunde, die sich nicht auf die überlieferte Theorie stützte, sondern Hufschmieden praktische Anleitung bei der Erstellung von Medikamenten geben sollte. Albrants Arzneisammlung wurde durch Ab-schriften, durch mehrfache Übersetzung und durch Ergänzungen auf bis zu 1000 Rezepte zum wichtigsten und weitestverbreiteten pferdeheilkundlichen Kompendium des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit.22 Seit dem 7. Jahrhundert wurde das Hufeisen in Europa gebräuch-lich.23 Der Steigbügel war bereits ein Jahrhundert zuvor mit den Franken nach Norddeutsch-land gelangt.24 Die „normalen“ Schmiede eigneten sich die Herstellung des Hufeisens an und lernten zugleich, wie man es am Pferdehuf anbringt. Das setzte auch anatomische Kenntnisse voraus, die sie sich aneignen mussten. Schließlich übernahmen sie im Laufe der Zeit auch tiermedizinische Aufgaben.25 Dabei klafften aber Theorie und Praxis zunehmend auseinan-der. Einfache, grobsinnliche Diagnoseverfahren führen ähnlich der Entwicklung in der Hu-manmedizin zur Durchführung sinnloser Operationen in den Bereichen von Vorsorge und Behandlung. Wie beim menschlichen Patienten war zum Beispiel beim Pferd der Aderlass als routinemäßige Behandlungsweise gebräuchlich, ohne Berücksichtigung des körperlichen

standes oder nennenswerte Differenzierung im Hinblick auf die vorliegende oder befürchtete Erkrankung, eine Vorgehensweise, die sich auf ein Missverständnis der Humorallehre gründe-te.26 Andererseits kursierten in Unkenntnis des Blutkreislaufes, der erst 1628 von William Harvey erstmals physiologisch richtig beschrieben wurde, genaueste Anleitungen darüber, an welcher Stelle der Patient bei welcher Krankheit zur Ader gelassen werden musste.

Aus dem 15. Jahrhundert ist eine Übersetzung eines ursprünglich in Latein geschriebenen Kräuterbuches erhalten, das unter dem Titel Herbarium und dem Autorennamen Apuleius Platonicus laut Angaben im 9. Jahrhundert verfasst wurde und stark auf klassische Vorlagen zurückgreift. Der Schrift des Apuleius folgt eine Abhandlung über die Medizin der „Vierfü-ßer“ (Medicina de quadrupedibus) von Sextus Placidus. Über beide Verfasser ist nichts Nähe-res bekannt, jedoch sind verschiedene Manuskripte erhalten, darunter eines im Kloster von Montecassino. Beide Texte enthalten zahlreiche Anleitungen zur Anwendung von Heilpflan-zen bzw. magischen Heilmitteln für Mensch und Tier und sollen in Nordwest- und Mitteleu-ropa – und damit auch in Norddeutschland – in der Epoche der Christianisierung in den Klös-tern Verbreitung gefunden haben.27

Auch das Werk der deutschen Klerikerin und frühen Philosophin Hildegard von Bingen (1098 bis 1156) enthält Abhandlungen über Tiermedizin, und auch bei ihr vermischen sich unsyste-matischer Empirismus, Wiedergabe von Laienwissen, klassische Überlieferung und magische Medizin.28 Eine weitere Schrift, die im Deutschland des Spätmittelalters Bekanntheitsgrad erlangte, war eine Anatomie des Schweines von einem italienischen Mediziner an der Univer-sität von Salerno. Eine Abschrift wurde um 1200 im Kloster Benediktbeuren angefertigt.29 Die Anatomie der Schweine interessierte die Mediziner jener Zeit allerdings nicht aus tierme-dizinischer Sicht. Im Spätmittelalter und noch bis in die frühe Neuzeit bestanden immer wie-der Sezierverbote im Hinblick auf menschliche Leichen. Den anatomischen Instituten wie-der Universitäten wurden allenfalls eine oder einige wenige Leichen jährlich zugestanden. Die Anatomen wichen deshalb auf Schweine aus, um die Sektion zu üben und Kenntnisse über Aufbau, innere Zusammenhänge und Funktionen des Organismus zu erlangen.

26 Schäffer, Fischer 1996, Sp. 776.

27 vgl. Cockayne 1864ff.

28 Froehner 1928.

29 vgl. Sudhoff 1908.

Der relativen Unentwickeltheit der spätmittelalterlichen Tiermedizin standen bedrohliche epi-demiologische Entwicklungen gegenüber. Die in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrech-nung in Nordwest- und Mitteleuropa aufgetretenen Seuchenzüge setzten sich im gesamten Mittelalter fort. Insbesondere Pferde- und Rinderbestände wurden immer wieder von Epizoo-tien heimgesucht, bei deren Schilderung in den Quellen häufig auf den Begriff Pest zurückge-griffen wird, ohne dass sich aus heutiger Sicht eindeutig klären ließe, um welche Krankheit es sich jeweils handelte. Aber auch Schafpocken traten mit großer Regelmäßigkeit epizootisch auf. In dem hier behandelten geographischen Raum grassierten sie in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Innerhalb kürzester Zeit wurden die Bestände einer Schafrasse, die im spä-ten 12. Jahrhundert von den Zisterziensern gezüchtet worden war, fast vollständig dezimiert.30

Eine noch größere Bedrohung ging von Epidemien aus, die gleichermaßen Menschen und Tiere betrafen. Die Pestepidemien, die seit dem späten neunten Jahrhundert periodisch in Eu-ropa wüteten, befielen auch Pferde und Rinder. Der „schwarze Tod“, der EuEu-ropa zwischen 1347 und 1352 heimsuchte und circa 25 Millionen Menschen das Leben kostete, forderte zahllose Opfer auch unter den Nutztieren und rief in der Folge landwirtschaftliche Krisen und Hungersnöte hervor. Durch das Verenden Abertausender von Pferden, Rindern, Ziegen und Schafen wurde die Versorgung mit Fleisch, Milch, Käse unterbrochen. Ebenso folgeschwer aber war der Zusammenbruch der Transportmöglichkeiten und der Arbeit auf den Äckern, zu der vor allem die Rinder herangezogen wurden. 31

30 Illustrierte Geschichte der Medizin, S. 3515. Das Zisterzienserkloster Loccum wurde 1163 gegrün-det.

31 Bergdolt 1995.

3 Tiermedizin im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung an der Mittelweser vom 13. bis 18. Jahrhundert