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1.3.1 Kinder und Jugendliche als Akteure im Forschungsprozess

In der soziologisch und pädagogisch orientierten Kindheits-, Jugend- und Familienforschung trifft die Diskussion um Strukturbedingungen für die Ausbildung von Zeitkompetenz auf grundsätzliche Ansprüche in der Kindheitsforschung:

− Zum einen wird angesichts der zunehmenden Eigenverantwortung Heranwachsender bei der Gestaltung ihres Lebens auch eine Partizipation von Mädchen und Jungen am Wissenschaftsprozess gefordert.

− Zum anderen rücken aufgrund der sich immer rascher vollziehenden gesellschaftlichen Veränderungen Fragestellungen zu

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ziehungen und Kindheit bzw. Jugend im Kontext gesellschaftlichen Wandels in den Vordergrund.

Der Anspruch, beide Aspekte forschend miteinander zu verflechten, konnte bislang methodisch nicht gelöst werden: Aus der Sicht der Heranwachsenden von heute kann Kindheit, Jugend und Familie nur in aktuellen Bezügen beleuchtet werden, und in der Beschreibung des intergenerativen Zusammenhangs im historischen Kontext greift man auf biographische und autobiographische Erzählungen Erwachsener zurück. Kinder von damals, die man befragen müsste, sind keine Kinder mehr, und es gibt auch kein den heutigen Standards narrativer Befragungen entsprechendes Untersuchungsmaterial vergangener Kindheiten.

Mit der vorliegenden Untersuchung wird das bestehende Forschungsdilemma aufgebrochen. Dies ist möglich, weil der Autorin ein umfangreicher Materialfundus mit Dokumenten aus Kindheit und Jugend von sieben Generationen einer Familie für eine wissenschaftliche Bearbeitung zur Verfügung steht.7

Bisherige Untersuchungen gründeten sich methodisch auf rekonstruktive bzw.

analytische Verfahren mit Hilfe von

narrativen Biographieerzählungen bzw. Autobiographien Erwachsener, deren Wahrheitsgehalt jedoch mühevoll „freigelegt“ werden muss und die selbst dann nicht sicher die „Innenseite der Kindheit“ (Schulze 2001, S. 178) erfassen (vgl. Schütze 1983/Hardach-Pinke/Hardach 1978/Klika 1990/

Bohnsack et al. 1995/ Schneider 1998),

narrativen Biographieerzählungen im intergenerativen Kontext, die auf die Zeugnisse noch lebender Personen angewiesen sind und demzufolge über 3-4 Generationen nicht hinausgehen können (vgl. Ecarius 2002),

Selbstzeugnissen von Kindern und Jugendlichen unserer Zeit, die Kindheit in ihrer historischen Dimension nicht erfassen können (vgl. du Bois-Reymond/Büchner, Krüger, Ecarius, Fuhs 1994),

Selbstzeugnissen von Kindern und Jugendlichen in früheren historischen Epochen, die nur bedingt einen Bezug zur Kindheit von heute ermöglichen (vgl. Bühler, 1927/1928),

7 Als Kernmaterial werden die Dokumente von 5 Generationen verwendet. Die Begründung für die Materialauswahl folgt unter 2.2.2.

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historischen Quellen, die sich auf Darstellungen aus der Erwachsenenperspektive gründen (vgl. Aries 2003/De Mause, 1977)

Verfahren teilnehmender Beobachtung, die eine ‚Innensicht‘ der Akteure vernachlässigt und auf den Beobachtungszeitraum begrenzt sind (vgl.

Behnken/Zinnecker, 1993)

Beobachtungen aus Elternsicht, die sich auf die Erwachsenenperspektive beziehen (vgl. Stern/Stern 1909/Fuhs 1999)

Die Exklusivität der vorliegenden Analyse resultiert im Wesentlichen aus dem im Materialfundus angelegten besonderen Potential: Was bis dato in der Forschungslandschaft fehlt, ist die vergleichende Erfassung der Perspektiven Heranwachsender im mehrgenerativen Familienkontinuum, ohne auf wertende Rückschauerzählungen zurückgreifen zu müssen. Die vorliegende Familiensammlung gestattet dies anhand von Ego-Dokumenten aus sieben aufeinanderfolgenden Mädchen-Generationen einer Familie. Die Analyse eröffnet sowohl methodisch als auch inhaltlich neue Perspektiven für die Kindheits-, Jugend- und Familienforschung. In der bisherigen Forschung wurden anhand von Zeugnissen und Selbstzeugnissen – auch von Kindern und Jugendlichen (vgl. Heinritz 2001, S.102-114) – historische Konstellationen mit dem Wandel von Kindheit und Jugend in Relation gesetzt (vgl. Rosenbaum 1988) bzw. der Wandel und die Tradierung von Familienerziehung durch den Vergleich von Interviews mit Vertretern mehrerer Generationen einer Familie herausgearbeitet (vgl. Ecarius 2002).

Vorliegende Auswertung der Ego-Dokumente knüpft an diese Entwicklung an und erweitert sie. Sie ermöglicht eine auf die Wahrnehmung der Alltagswelt aus Kindersicht fokussierte Betrachtung des Alltags und ermöglicht die Betrachtung intergenerativer Zusammenhänge und historischer Prozesse des 20. Jahrhunderts (Kaiserrreich, 1.Weltkrieg, Weimarer Republik, Weltwirtschaftskrise, Nazidiktatur und 2. Weltkrieg, Teilung Deutschlands, Enteignung, Wende 1989). Es werden Zusammenhänge zwischen privatem und öffentlichem Leben herausgestellt, ohne dass die gesellschaftliche Entwicklung vereinfachend als Ursache familialer Erziehung gesehen wird.

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1.3.2 Tagebuchforschung/Analyse von Egodokumenten

Das ‚Tagebuch‘ ist nicht lediglich subjektiver, seelischer Ausdruck einer Persönlichkeit, sondern ein historisch gewachsenes Genre, dessen Form, Inhalt und Ausbreitung mit den gesellschaftlichen Bedingungen der Zeit korrespondiert (vgl.

Melchior 1998, S. 16). Das Tagebuchschreiben ist daher immer an bestimmte historische Traditionen gebunden (vgl. Bernfeld 1978, S. 2), die im Folgenden in Anlehnung an Melchior (1998) vorgestellt werden sollen: Zum Beginn des 18.

Jahrhunderts erfuhr das Genre ‚Tagebuch‘ einen weitreichenden Einschnitt: Während Tagebuchaufzeichnungen vorher eher Chroniken ähnelten und den Fokus mehr auf das Objekt richteten, stellten neuere – ab der Epoche der Aufklärung gefertigte – Tagebücher das Subjekt und seine Interaktion mit seiner Umwelt wie auch sein

‚Seelenleben‘, vor allem religiöser Art, in den Vordergrund. Das ‚moderne‘

Tagebuch ist nicht mehr religiös dominiert. Im Mittelpunkt steht die Selbstreflexion.

Durch den aufkommenden Kapitalismus und die voranschreitende Industrialisierung individualisiert sich die Form der Tagebuchführung zusätzlich, sodass das Tagebuch mehr denn je als „Produkt der Abspaltung des privaten Innenraums der Individuen vom Bereich gesellschaftlicher Öffentlichkeit“ (Müller 1982 zit. nach Melchior 1997, S. 21) erscheint. Außerdem wird im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Tagebuchführung unter Kindern und Jugendlichen nicht nur zunehmend populär, sondern bekommt als identitätsstiftendes Instrument pädagogische Funktion.

Während des Nationalsozialismus wird das Tagebuch verstärkt zu propagandistischen Zwecken missbraucht, bietet aber auch oppositionellen Bestrebungen Raum (vgl. Melchior 1998, S. 21). Auch im späteren Verlauf des 20.

Jahrhunderts bleibt die Tagebuchform eng an die Normen, aber auch an die zeitspezifischen Bedürfnisse der Schreibenden gekoppelt − das vom aufkommenden Feminismus inspirierte Frauentagebuch der 70er Jahre sei hier nur als ein Beispiel genannt. Gleichzeitig ist die Charakterisierung moderner Tagebuchformen kaum möglich, eine verbindliche Systematisierung gibt es nicht. Im Gegensatz dazu kann man die ‚Funktionsfrage‘ des Tagebuchs relativ einfach systematisieren: Vor allem fungiere das Tagebuchschreiben als „Ventil, bringt die Feder zu Papier, was sich an Problemen, Sorgen, Ängsten im Herzen eines Menschen angesammelt hat“ (Schrott -Bingel 1980, S. 151); Heiko Ernst führt diesen Gedanken weiter und unterstreicht die

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Relevanz des Verbalisierungsprozesses, welcher vage Gefühle und Bildern der Erinnerungen in eine semantische Struktur bannt und so einer rationalen Analyse überhaupt erst zugänglich macht. Als weitere ‚Funktionen‘ des Tagebuchführens seien hier genannt:

− Selbsterziehung, geschärfte Sinne, Tagträume (vgl. Kaschnitz 1965),

− Selbstbehauptung gegen Anpassung (vgl. Wuthenau 1990],

− „letzte Gelegenheit zur Selbstbewahrung“ (Jurgensen 1979, S.18),

− Erinnerung,

− Schreibbedürfnis,

− Betonung des Ichs, Selbstreflexion usw.,

− Personenersatz,

− Meinungsbildung, Widerstand usw.,

− Selbstanalyse (vgl. Melchior 1998, S. 27)

Zum Teil können diese Funktionen auch im Briefwechsel erfüllt werden, denn auch der Brief kann neben der unmittelbaren Aufgabe des Informations- und Gedankenaustausches o. g. Konzepte des ‚Ventils‘, der Verbalisierung, der Selbsterziehung usw. befriedigen. Briefe sind jedoch im Gegensatz zum Tagebuch ein reaktives Medium und an Absender und Adressat gebunden.

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2 Empirie