• Keine Ergebnisse gefunden

2 Gesundheitspolitik

2.3 Gesundheitspolitische Ausgangsbedingungen in Deutschland

2.3.3 Mesoebene

Das deutsche Gesundheitssystem ist traditionell geprägt durch eine ausgeprägte Mesoebene verbandlicher Steuerung zwischen Staat und Leistungserbringern (Rosenbrock/Gerlinger 2004; Alber 1992; Tennstedt 1977; Mayntz/Rosewitz 1988; Thiemeyer 1984). Wichtige ge-sundheitspolitische Entscheidungen werden durch die „Gemeinsame Selbstverwaltung“ aus Leistungserbringern und Finanzierungsträgern im Rahmen bilateraler institutionalisierter Kol-lektivverhandlungen getroffen. Charakteristisch für die Entscheidungsfindung ist das Kon-sens-Prinzip, welches zur Beschlussfassung Einstimmigkeit unter den Parteien voraussetzt (Gäfgen 1988). Durch die Verleihung des Status als öffentlich-rechtliche Körperschaften wurden die Verbände auf die Berücksichtigung des Gemeinwohls verpflichtet, erlangten das Privileg der Zwangsmitgliedschaft ihrer jeweiligen Klientel, das Vertretungsmonopol und de facto Bestandsschutz. Um die Kosten der Steuerung (z.B. Informationskosten) zu reduzieren, wandten sich die Bundesregierungen in der Vergangenheit bevorzugt an die höheren Ebenen des Verbändesystems mit höherem Organisationsgrad, da die geringere Zahl der Adressaten die Komplexität der Kooperation reduzierte. Bevorzugte Partner waren daher die Spitzenver-bände der Leistungserbringer und Finanzierungsträger (Döhler 1995, 397). Diese übernahmen einen wesentlichen Teil der Kosten, indem sie die Steuerung ihrer Einzelmitglieder sicher-stellten (Thiemeyer 1984, 66). Zusätzlich unterstützten sie die Strategieformulierung des Staa-tes mit Informationen. Diese Kooperation des StaaStaa-tes mit den Verbänden des Gesundheitswe-sens hatte Auswirkungen auf dessen Steuerungsfähigkeit. Sowohl bei der Strategieformu-lierung als auch der Implementation stützten sich die Bundesregierungen auf Ressourcen der Verbände (Korporatismus) (Döhler/Manow 1997).

2.3.3.1 Die Kassenärzte im Versorgungssystem

Verglichen mit anderen europäischen Staaten nehmen die Fach- und Hausärzte im deutschen Gesundheitswesen eine privilegierte Stellung ein (Webber 1988; Rosewitz/Webber 1990, 13ff.). Die Möglichkeiten, sich als Selbstständige niederzulassen und zu praktizieren, sind au-ßerhalb Deutschlands mit wesentlich größeren Einschränkungen verbunden. Die zentrale Stel-lung in der Leistungserbringung, die umfangreiche kollektive Finanzierung ihrer Leistungen und die weitgehend autonome Definition der Nachfrage nach den selbst angebotenen Produk-ten sind zentrale Merkmale der komfortablen Position der Kassenärzte17 in Deutschland.

Nachdem sie im 19. Jahrhundert noch einzeln und als Konkurrenten Vertragsbeziehungen mit den Kassen eingingen, traten sie mit Gründung der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) 1931 einheitlich in die Verhandlungen mit den Kassen ein.18 Durch das Verbot der Ambulato-rien 1934 war den Kassen die Leistungserbringung in eigener Regie entzogen und den Kas-senärzten durch den Gesetzgeber ein Anbietermonopol zugesprochen worden.

Nach der Gründung der Bundesrepublik wurde die zentrale Stellung der Kassenärzte weiter ausgebaut. Mit dem Gesetz über das Kassenarztrecht (GKAR) vom 17.08.1955 (BGBl. I S.

513) bestätigte die deutsche Regierung den Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Ver-einigungen (§ 368 RVO bzw. §§ 72 u. 75 SGB V). Selbst die Verantwortung für die Wirt-schaftlichkeitsprüfungen fiel an die KVen (Rosewitz/Webber 1990, 22f.). Hinzu trat statt der Pauschalvergütung der Vorkriegsjahre die Einzelleistungsvergütung, welche die Kassenärztli-che Bundesvereinigung (KBV) schrittweise gegenüber allen Kassenarten durchsetzen konnte (Rosewitz/Webber 1990, 233f.). Dadurch hatten die KVen nicht nur ein Anbieterkartell ge-genüber den Kassen, sie bestimmten durch die Definition des Behandlungsbedarfs auch die Nachfrage (Thiemeyer 1984, 87-90; Zweifel/Eichenberger 1988). Somit war den Ärzten durch Steigerung der Leistungsmenge die Möglichkeit der Erhöhung ihrer eigenen Honorare eingeräumt worden, wohingegen die Finanzierungsträger das „Morbiditätsrisiko“, also die Kosten des ärztlich festgestellten Behandlungsbedarfes, zu tragen hatten.

Die Honorarverhandlungen mit den KVen waren durch eine Asymmetrie der Verhandlungs-positionen zu Lasten der Kassen gekennzeichnet (Smigielski 1983; Smigielski 1980). Oft gelang es den KVen, die verschiedenen Kassenarten in der GKV gegen einander

17 Durch das Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 wurden das Kassenarztrecht der Primärkassen und das auf Ersatzkassen bezogene Vertragsarztrecht unter dem Begriff Vertragsarztrecht zusammengefasst. In dieser Arbeit sollen beide Begrifflichkeiten in Bezügen auf Ereignisse nach 1992 synonym gebraucht werden.

18 Vierte Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung der Wirtschaft und Finanzen und zur Sicherung des inneren Friedens vom 09.12.1931 (RGBl. I S. 699) sowie Verordnungen vom 14.01.1931 (RGBl. I S. 19) und vom 30.12.1931 (RGBL. 1932, I S. 2).

len. So ging von hohen Abschlüssen zwischen Ärzten und Ersatzkassen häufig ein Anpas-sungsdruck auf die übrigen Kassenarten aus (Smigielski 1983). Zudem verfügten die Finan-zierungsträger in den Verhandlungen mit den KVen über wenig Druckmittel, da bei einem Scheitern der Honorarverhandlungen und des anschließenden Schlichtungsverfahrens (§ 368i RVO bzw. § 89 SGB V) das zuständige Ministerium des jeweiligen Bundeslandes als Auf-sichtsbehörde auftreten konnte und bei nicht erfolgtem Schiedsspruch durch Ersatzvornahme zu Gunsten der KVen entscheiden konnte, um Proteste der Ärzte abzuwenden und die Ver-sorgung sicherzustellen (Flüchter 2000, 179). Diese hohe Durchsetzungsfähigkeit der Kassen-ärzte wurde vor der Einführung der freien Kassenwahl durch das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) vom 21.12.1992 (BGBl. I S. 2266) aber nur selten durch die Finanzierungsträger her-ausgefordert, da diese die Kosten der Verhandlungsabschlüsse durch eine Steigerung der Bei-träge externalisieren konnten, ohne eine bestandsgefährdende Abwanderung der Versicherten befürchten zu müssen (Henke 1988, 132).

Bis zu Beginn der siebziger Jahre hatten die Kassenärzte einen historischen Höhepunkt an materiellem Wohlstand sowie Berufsautonomie erreicht. Die KVen verzeichneten zu diesem Zeitpunkt in den Kollektivverhandlungen eine später nicht mehr erreichte Verhandlungsmacht gegenüber den Kassen und waren weitgehend frei von staatlicher Einflussnahme. Schließlich verschaffte den Kassenärzten deren zentrale Stellung im Gesundheitswesen, das hohe soziale Ansehen in der Bevölkerung, deren relativ exklusives Fachwissen und der Organisationsgrad der KVen von 100% eine nicht zu unterschätzende Macht gegenüber der Politik (vgl. Rose-witz/Webber 1990, 24f.; vgl. Zweifel/Eichenberger 1988, 175ff.), welche für Deutschland beim internationalen Vergleich der Gesundheitssysteme die Klassifikation als „professionell dominiertes“ Gesundheitssystem nahe legt (vgl. Twaddle 2002, 13). Folglich scheint es erfor-derlich, zur Beurteilung der deutschen Gesundheitspolitik die Beziehung zwischen Staat und Kassenärzten ins Zentrum der Betrachtung zu rücken.

2.3.3.2 Die Kassenärzte im politischen System

Politische Machtproben zwischen der Bundesregierung und den Kassenärzten hat es bereits in den fünfziger Jahren gegeben. Nachdem die Ausgaben der GKV 1956 und 1957 deutlich an-gestiegen waren und der Beitragssatz der Kassen in diesem Zeitraum von 6,3 auf 7,8 Prozent angehoben werden musste, schienen der Regierung erstmals Maßnahmen zur Kostendämp-fung angezeigt (Döhler/Manow 1997, 34ff.). Der Gesetzentwurf von Bundesarbeitsminister Blank zum Krankenversicherungsneuordnungsgesetz (KVNG) sah neben einer Privatisierung von Behandlungskosten durch Selbstbehalte vor allem Eingriffe in die Vertragsbeziehungen

zwischen Kassen und Ärzten vor. Es war beabsichtigt, die als zu hoch erkannte Verhand-lungsmacht der Kassenärztlichen Vereinigungen und ihrer Bundesvereinigung gegenüber den Kassenverbänden einzuschränken und Pauschalen im Vergütungssystem einzuführen.

Die Reaktionen der Ärzteverbände viel sehr heftig aus und beinhaltete auch die Androhung von Streiks. Dieses Verhalten stieß bei Politikern und wissenschaftlichen Beobachtern auf Unverständnis, da man angenommen hatte, dass der öffentlich-rechtliche Status der Vereini-gungen zu einer Disziplinierung der Interessenartikulation der Ärzte führen würde (Döh-ler/Manow 1997, 37, 89). Die Androhung von Ärztestreiks durch eine öffentliche Körper-schaft provozierte wiederum seitens des Arbeitsministeriums heftige Attacken gegen die Ärz-te. So verwies die Presseabteilung des Ministeriums darauf, dass diese Nötigung des Staates eine Gefängnisstrafe für den Vorsitzenden der KBV zur Folge haben könnte. Diese unerwar-tete Eskalation der politischen Auseinandersetzung muss als Anzeichen für noch nicht gefes-tigte Beziehungen und Rollenzuschreibungen im Verhältnis zwischen Staat und Verbänden im Politikfeld Gesundheit angesehen werden (ebd. 42ff., 89). Dabei spielte auch eine Rolle, dass innerhalb der Interessenvertretung der Ärzteschaft die Aufgaben zwischen KBV und Hartmannbund noch nicht aufgeteilt waren (ebd. 105ff.). So agierten diese noch als Konkur-renten um die Vorherrschaft als Interessenvertretung und insbesondere die KBV überraschte dabei die Ministerialbürokratie durch unerwartete Strategien.

Diese Ereignisse zeigen, dass um 1958 die Ausdifferenzierung und Trennung des politischen Systems vom Politikfeld Gesundheit noch nicht erfolgt war. Der Zugang der Ärztevertreter zu politischen Entscheidungsträgern erfolgte direkt über den Bundeskanzler Adenauer und die Ministerialbürokratie war auf weitgehend ausformulierte Gesetzentwürfe aus der Feder der Ärzte angewiesen. Gesundheitspolitisches Expertenwissen war in der Verwaltung und in den Parteien unterentwickelt. Insbesondere die CDU, als typische Klientelpartei der bürgerlichen Mittelschicht mithin der Ärzteschaft, stützte sich noch vollständig auf Abgeordnete, die gleichzeitig unverhohlen als Ärztevertreter fungierten. Der Gesetzentwurf von Blank wurde schließlich zurückgezogen.

Das Scheitern der Blank-Reform hatte für die deutsche Gesundheitspolitik zwei wesentliche Konsequenzen:

o Politischen Entscheidungsträgern war die Macht der Ärzteverbände vor Augen geführt worden, und Reformen im Gesundheitswesen gegen die Interessen der Ärzte galten fortan als politisch außerordentlich riskant.

o Die offensichtlich gewordene informationelle und personelle Abhängigkeit der Regie-rung, der Ministerialbürokratie sowie der Parteien, von Ressourcen der Ärzteverbände

veranlasste die staatlichen Institutionen sowie die Parteien zu einem Ausbau ihrer wis-senschaftlichen Kapazitäten zur Verbesserung ihrer Strategiefähigkeit (Döhler/Manow 1997, 57ff.).