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Staatsverständnis und Staatsbewusstsein des Liechtensteiners konstituieren sich, wie in an-deren Ländern auch, aufgrund bestimmter Traditionen und hervorstechender Merkmale im Staatswesen. Infolge der Auswirkungen der aussenpolitischen Handlungen im Sinne eines direkten innenpolitischen Regelungsbedarfs sind Bürger und Bürgerinnen gefordert, das für das Verständnis dieser Akte notwendige, meist latent vorhandene Staatsverständnis zu ak-tivieren. Begriffe wie Kleinstaat, Monarchie, Zollvertrag usw., welche den Staat Liechten-stein und das Bild von ihm in Vergangenheit und Gegenwart wesentlich prägen, müssen in einen Zusammenhang gestellt werden.

1. Die Kleinheit

Hervorstechendes Merkmal des Staates Liechtenstein ist seine Kleinheit. Jeder Liechtensteiner wächst, territorial gesehen, in äusserst kleinen Verhältnissen auf.

Psychologisch gesehen lebt und bewegt er sich hingegen auf grösseren Füssen, indem er gewohnt ist, die Schweizer Dimensionen zu seinen eigenen zu machen. Der Kleinheit und Eigenstaatlichkeit im politischen Sinn wird er sich erstmals bewusst, wenn er im Staatskundeunterricht lernt, dass das Fürstentum Liechtenstein definierte Grenzen, ein eigenes Staatsoberhaupt, eine eigene Regierung und einen eigenen Souverän hat. Das frühe Erlebnis aber, das das Gefühl des Liechtensteiners auch noch im Erwachsenenalter prägt, ist das der offenen Grenzen und der territorialen Verbundenheit mit der Schweiz, der

unbeschränkteren liechtensteinischen Möglichkeiten, der Identifizierung mit kulturellen und landschaftlichen Gegebenheiten, der selbstverständlichen Verwendung des Schweizerfrankens als Zahlungsmittel, des Ausweichens auf die Schweiz, wenn im ferneren Ausland das kleine Liechtenstein geographisch nicht sofort ein Begriff ist. Das früheste Erlebnis des Liechtensteiners ist eine doppelte Zugehörigkeit und eine unbeschränktere Möglichkeit, eine Ähnlichkeit zur Schweiz und ein Unterschied zur Schweiz.

Von klein auf lebt der Liechtensteiner in einem Verbund, der nie als Abhängigkeit, sondern als Chance, der nicht als Schwäche, sondern als Stärke empfunden wird. Der Liechtenstei-ner wächst in einem Regionalbewusstsein auf, das in ihm ein Staatsverständnis bewirkt, das weniger beschränkt ist, als es aufgrund der tatsächlichen Grösse angemessen sein könnte. Es ist ein Staatsverständnis, das emotional auf die Region ausgerichtet und stark ist. Die Vergrösserung des Bezugs- und Wirkungsfeldes aufgrund der offenen Grenzen und der Beziehungen mit der Schweiz gaben und geben dem Liechtensteiner ein grösseres und grosszügigeres Selbstverständnis und Betätigungsfeld als wenn er in seinen beschränkten 160 km2 und auf den ausschliesslichen Austausch mit seinen 19000 Landsleuten reduziert geblieben wäre.

Der Zollanschluss an die Schweiz war offensichtlich nicht nur wirtschaftlich lebensnot-wendig, sondern vor allem auch in politischer, kultureller und psychologischer Hinsicht, indem er den Liechtensteinern den Horizont erweitert und die Grenzen geöffnet hat. Die in Not erfolgte Zuwendung und das Vertrauen, das unsere Vorfahren 1923 in die Eidgenos-senschaft gehegt haben, wurde reich belohnt, in materieller, aber auch in identitätsbildender Hinsicht. Es ist nicht ohne Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Liechtensteiner ge-blieben.

Auch für das heutige Staatsverständnis des Liechtensteiners wurde der damalige Zollvertrag bedeutungsvoll. Er war, wie jedes Bündnis in der liechtensteinischen Ge-schichte, verbunden mit einer innenpolitischen Veränderung im Sinn einer Emanzipation.

Gleichzeitig mit der Hinwendung zur Schweiz erfolgte der Ausbau der Volksrechte, der in der neuen und heute gültigen Verfassung von 1921 seinen Niederschlag fand.

2. Die Einheit

Ein weiteres bemerkenswertes Merkmal für Liechtenstein ist seine „Einheit“. Sie ist ver-bürgt durch politische Manifeste und kulturelle Traditionen und charakterisiert durch gesellschaftliche Ereignisse: Ein Volk von heute 30000 Einwohnern, eine Gemeinschaft, die sich am Staatsfeiertag in der Residenz versammelt, um ihre Verbundenheit mit Gott, Fürst und Vaterland zu bekunden; ein Land, in dem heute noch ein einziges Gymnasium zukünftige Wissens- und Entscheidungsträger zusammenbringt und in der humanistischen und christlichen Tradition der Maristenschulbrüder erzieht und bildet; eine Gesellschaft, in der dank der Übersichtlichkeit soziales Netz und soziale Integration weitgehend funktionieren; eine Gemeinschaft aber auch, die sich vor Enge und Intoleranz in Acht nehmen muss.

Trotzdem eignet sich Liechtenstein nicht als Thema eines Heimatromans, sondern ist am besten in einer nüchternen Betrachtungsweise zu erschliessen. Liechtenstein ist offen und verschlossen zugleich, der Liechtensteiner aufgehoben daheim und süchtig nach der Ferne.

Er hat zuviel von der Welt gehört, als dass er meint, sein Volk sei das „auserwählte Volk“.

Er ist sich der Lebensnotwendigkeit der Öffnung seines Landes und seiner Person im Nor-malfall zu bewusst, als dass er meint, er habe eine andere Wahl. So hat er sein Land geöffnet und sich auch selbst nach draussen begeben. Er ist zu jenen, denen er sein Land geöffnet hat, wegen der Nähe auf Distanz gegangen und er hat, fern von seinem Land, Distanz zu seinem Land gelernt. Zum Ausländer in seinem Land verhält er sich wie gegenüber seinem eigenen Land: mit Dankbarkeit und Misstrauen, mit Vertrauen und Respekt und mit Vorsicht.

Nüchtern, von ökonomischen Überlegungen hauptsächlich geleitet und umständehalber bar jeden Machtstrebens gegenüber auswärtigen Staaten, hat sich der Liechtensteiner auf das Wesentliche besonnen: zur Bildung und für die Gesundheit geht er ins Ausland und beteiligt sich finanziell an den entsprechenden Institutionen, die Wahrung der Ordnung und der Sitten hat er ausländischen Richtern, die er zu diesem Zweck ins Inland geholt hat, anvertraut; zur Verteidigung des Vaterlandes hat er jeden waffenfähigen Landesangehörigen verpflichtet und das Militär in weiser Einsicht schon vor mehr als hundert Jahren abgeschafft. Die Symbiose, die sich in diesem Arrangement mit dem Ausland und den Ausländern zeigt, hat Liechtenstein zum wirtschaftlichen Erfolg und Heil verholfen, auch zu teils bezeichnenden und geistreichen, teils bedauerlichen Abwehrstrategien und ihren Auswüchsen geführt. Man denke zum einen an die Erfindung der Sitzgesellschaften, zum anderen an die strenge Einbürgerungspraxis und zum Teil immer noch bestehende Diskriminierung der Ausländer. Diese „Kultur der Grenzen und Abgrenzungen“ scheint ein liechtensteinisches Wesensmerkmal zu sein.

3. Der Wille zur Eigenstaatlichkeit

Blättert man in der Geschichte Liechtensteins, erkennt man als drittes Wesenselement einen zähen „Überlebenswillen“, der sich durch Zielstrebigkeit, Beharrlichkeit, Intuition und Opferbereitschaft auszeichnet. Sein Verhältnis zu auswärtigen Staaten hat Liechtenstein im Lauf seiner Geschichte jeweils aufgrund seiner Interessen und seines eigenen Nutzens, oft unter bedeutenden Anstrengungen und grossen materiellen Opfern ausgerichtet. Davon zeugen seine Mitgliedschaft im Rheinbund, die Verträge mit dem Herzogtum Nassau, der Vertrag von Treplitz, die Mitgliedschaft in der Quadrupelallianz, die Mitgliedschaft im Deutschen Bund und in der Heiligen Allianz usw.; davon zeugen der 1852 mit Österreich abgeschlossene Zoll- und Steuervertrag, der zu einer Gratwanderung zwischen Anpassung und Selbstbehauptung wurde, davon zeugt der Zollanschlussvertrag mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft von 1923. Es ist festzuhalten, dass die Erhaltung der Souveränität im 19. Jahrhundert durch die Person des Fürsten und aufgrund seines hohen Ansehens bestimmt und erreicht worden ist.

Liechtensteins Bündnisse und Mitgliedschaften waren stets geleitet von Überlegungen der Sicherheit, der Versorgung und des materiellen und politischen Überlebens. Sie waren weniger oder kaum gekennzeichnet von Überlegungen oder Bestrebungen nach Neutralität, Unabhängigkeit oder „Autonomie“. Ein „Alleingang“ lag seit je ausserhalb der liechtensteinischen Möglichkeiten und kein Staatsmann hätte an eine solche Ideologie je seine Energie oder seinen Ehrgeiz verschwendet. So hat Liechtenstein im Lauf der Geschichte, auch der jüngsten, Allianzen gesucht und gebildet, um unter Starken seine Schwächen zu überwinden. Liechtenstein als Nation kommt wohl kaum in die Lage, seine

„Stärke“ auszuspielen, Liechtenstein hat aber durchaus seine „Stärken“ im Staatenbund. Es hat seine Geschichte, es besitzt Flexibilität, es nützt die komparativen Vorteile der kurzen Wege, es mehrt Wissen und Wohlstand und schafft damit die Voraussetzungen, sich im humanitären Bereich erkenntlich zu zeigen und sich Anerkennung zu verschaffen.

Zuletzt hat Liechtenstein mit Erfolg eine Allianz mit den EFTA-Staaten nützen können, um eine Regelung mit der Europäischen Union zu erhalten, die rechtlich und institutionell völlig gleichwertig mit jener seiner Partner ist.

Dank dieser Geschichte, dank und wegen der Kleinheit des Landes, dank der Einheit der Bevölkerung und dank des Überlebenswillens und -gelingens, hat Liechtenstein Veranla-gungen und Tendenzen zu einem schädlichen „Inselbewusstsein“ oder „Sendungsbewusst-sein“ jeweils überwinden können. Der wirtschaftliche Wohlstand des Landes ist aufgrund seiner Bünde, Unionen und Allianzen entstanden, nicht aufgrund politischer Prinzipien und Dogmen. Ein Prinzip jedoch war und ist unerlässlich für den liechtensteinischen Erfolg: die Einheit im Innern, der Respekt vor der Kleinheit und die Bereitschaft zu Veränderung.

Diese Haltung hat Liechtenstein davor bewahrt, sich falschen Allianzen anzuschliessen.

Für dieses Prinzip steht seit dem denkwürdigen Jahr l938 S.D. Fürst Franz Josef II von Liechtenstein und auch heute noch die monarchistische Tradition und Staatsform.

II. Die Wahrnehmung der liechtensteinischen Interessen im Licht