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„… kein Mensch pauschal entweder als machtvoll oder machtlos zu

ver-stehen.“

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ist.

Der Satz lässt sich an einem Beispiel kon-kretisieren. Alex ist weiß, cis-Mann, homo-sexuell, von einem alleinerziehenden Elternteil großgezogen und hätte fast den Schulabschluss nicht geschafft, weil er be-reits mit 16 Jahren arbeiten musste. Anna ist Schwarz, cis-Frau, lesbisch, sitzt im Rollstuhl, ihre Eltern sind Diplomat_innen.

Dadurch konnte sie an einer renommier-ten internationalen Schule ihren Abschluss machen. Beide entscheiden sich dazu sich in der Queeren Szene aktivistisch zu enga-gieren. Wenn beide gemeinsam etwas ver-anstalten, wird Alex bei inhaltlich/tech-nisch fachlichen Fragen angesprochen und Anna, wenn es darum geht, ob sie in

„ihrem“ Land der Verfolgung ausgesetzt war. Anna fällt es aber viel leichter als Alex komplexe Zusammenhänge über struktu-relle Diskriminierung zusammenzufassen

4 Rosenstreich, Gabriele. Empowerment und Powersharing unter intersektionaler Perspektive. In: Ja-gusch, Birgit. Empowerment und Powersharing. Anker-punkte, Positionierungen, Arenen. S. 235.

und leicht zu erklären, und sie hat immer eine schlagfertige Antwort parat. Als sie also auf die Frage höflich, aber bestimmt reagierte, zwinkerte die Person Alex zu:

Frauen seien ja immer so schnell gereizt.

Bei der letzten Party, auf der sie waren, musste Anna die Party frühzeitig verlassen, weil es dort keine Toiletten für Menschen im Rollstuhl gab. Die Liste der Situatio-nen, in denen entweder Alex oder Anna mehr Aufmerksamkeit, mehr Wissen, mehr Handlungs- oder Teilhabemöglichkeiten haben, ließe sich noch fortführen. Aber der Punkt ist klar: abhängig vom Kontext oder von Identität, erfahren beide entweder Diskriminierung oder Privilegierung. Sie haben beide mal mehr mal weniger Macht.

Die Auswirkungen von Intersektionali-tät auf Empowerment und Powersharing werden in Kapitel 6 genauer beschrieben.

Intersektionalität ist mehr als Mehrfach-diskriminierung. Denn es reicht nicht die individuellen oder kollektiven Er-fahrungen in Hinblick auf (Schwar-zen, Gadjé-, Asiatischen, Anti-Muslimischen Rassismus, Sexismus, Klassismus, LSBTIQ-Feindlichkeit, Ableism,

etc. nebeneinander zu stellen, zusammen-zuaddieren oder gegeneinander aufzu-spielen. Es ist notwendig diese Identitäten und ihre Wechselbeziehung innerhalb der Herrschaftsverhältnisse (Kolonialis-mus5 , Kapitalismus und Patriarchat) zu betrachten und ihre Wechselwirkungen innerhalb dieser Systeme zu erfassen. Nur so ist es möglich auch über die individuel-le Ebene hinaus, Strategien und Lösungen auf die institutionelle-strukturelle Ebene (Gesetze, Strukturen, Repräsentation, etc.) zu entwickeln und damit Ungleich-heiten und Ungerechtigkeiten aufzuheben.

Um dies zu erreichen, fordert das Center for Intersectional Justice in ihrem 2019 er-schienen Bericht zu Intersektionalität in Deutschland, eine Anpassung der gesetz-lichen Lage: Gesetze müssen ein intersekt-ionales Verständnis von Diskriminierung umfassen. Bereits der erste Paragraf des Allgemeinen Gleichbehandlungs-gesetz (AGG), dass die Ziele des

Geset-5 Das Weltbild, die Strukturen und Wechsel-beziehung von (damaligen) Kolonien und Metropolen sind nicht mit dem Ende der Kolonialzeit verschwunden.

Die Analyse und Kritik dieser Kontinuitäten sind Gegen-stand des Postkolonialismus, und müssen bei der Aus-einandersetzung berücksichtigt werden.

Bild: Bob Simpson / flickr.com

zes verankert, weist zwar auf ein Ver-ständnis von Mehrfachdiskriminierung hin aber nicht auf Intersektionalität:

„Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse6 oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuel-len Identität zu verhindern oder zu be-seitigen.“

Hier ist das Wort „oder“ ausschlaggebend und deutet darauf, dass die aufgeführten Diskriminierungsgründe eher einzeln auf-treten. Stattdessen könnte „und“ verwendet werden, um die Möglichkeit von wechsel-wirkenden Mehrfachdiskriminierungen anzuerkennen. Das Gleiche gilt für Ar-tikel 3 des Grundgesetzes. Dort steht:

„Niemand darf wegen seines Geschlech-tes, seiner Abstammung, seiner Rasse , seiner Sprache, seiner Heimat und Her-kunft, seines Glaubens, seiner religiö-sen oder politischen Anschauungen be-nachteiligt oder bevorzugt werden.

Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Intersektionale Diskriminierung wird so-wohl im AGG (z.B. §4 Unterschiedliche Be-handlung wegen mehrerer Gründe) als auch in anderen Gesetzestexten adressiert. Al-lerdings wird diese weder ausreichend de-finiert noch werden dessen konkrete Um-setzung oder rechtliche Folgen aufgeführt.

Das NDC Saar bemüht sich bereits seit sei-ner Gründung um eine intersektionale Perspektive. In Projekttagen werden Bil-der und Falleispiele eingesetzt, um den Teilnehmenden die Verbreitung von dis-kriminierenden Botschaften in der Gesell-schaft zu verdeutlichen. Viele der Beispiele zeigen, dass einzelne Menschen mehr als

6 Anm. d. Verf.: Die Bundesregierung hat im März 2020 beschlossen, dass der Begriff „Rasse“ im Grund-gesetz zukünftig durch „aus rassistischen Gründen“ er-setzt werden soll.Der Zeitpunkt der Umsetzung dieses Be-schlusses bleibt noch unklar.

eine Diskriminierungserfahrung machen können. Zum Beispiel kann eine Schwar-ze Frau von Sexismus und Rassismus be-troffen werden. Ein schwuler Mann im Rollstuhl kann LSBTIQ-Feindlichkeit, und Ableismus erleben. Solche mehrfachen Diskriminierungen werden mit den Teil-nehmenden ausgearbeitet und deren Aus-wirkungen auf das Leben der Betroffen diskutiert. Dabei ist es wichtig, dass Dis-kriminierungserfahrungen nicht ein-fach nebeneinander betrachtet werden, wie eine Zusammenaddierung, sondern als spezifische Erfahrungen von Individu-en verstandIndividu-en werdIndividu-en. Diese ErfahrungIndividu-en werden auch bei der Er- oder Über-arbeitung von Konzepten berücksichtigt, zum Beispiel bei der Entscheidung wel-che Begriffe benutzt werden. Wenn zum Beispiel bei dem Thema Sexismus von Frauen* die Rede ist: die Benutzung des Gendersternchen macht deutlich, dass hiermit die Erfahrungen aller Men-schen, die sich unter diesem Begriff sicht-bar gemacht sehen, berücksichtigt wird.

Ein intersektionales Verständnis auf allen Ebenen des NDC Saar bringt auch Heraus-forderungen mit sich. Dies bedarf zum Bei-spiel eine kontinuierliche theoretische und praktische Auseinandersetzung mit Wechsel-wirkungen von Diskriminierungsformen.

Dabei müssen Konzepte/Begriffe, die von Communities entwickelt und aktu-alisiert werden, berücksichtigt werden.

Veranstaltungen müssen so kon-zipiert werden, dass Betroffen-heiten nicht ausgeblendet werden.

Werden bei einem Handlungstraining für Menschen, die Sexismus erleben, auch die Perspektiven von Transfrauen berück-sichtigt? Zusätzlich sollten alle Beteiligte im Verein keine voreiligen Schlüsse aus ihrer eigenen Wahrnehmung, oder aus ihrem Wissen über eine Person, ziehen. Zum Bei-spiel indem sich darauf konzentriert wird, wie eine Person sich identifiziert oder von welchen Erfahrungen sie erzählt hat.

Wenn eine Auseinandersetzung mit in-tersektionalen Perspektiven auch

be-reits im Vorfeld von klaren Positio-nierungen innerhalb der Strukturen stattfindet, ist es einfacher zusätzliche In-tersektionalitäten mit einzubeziehen.

Literatur

Jagusch, Birgit und Chehata, Yasmin:

Empowerment und Powersharing.

Ankerpunkte, Positionierungen, Are-nen. Beltz Juventa, 2020.

Center for Intersectional Justice: In-tersektionalität in Deutschland. Chan-cen, Lücken, Herausforderungen (im Auftrag des DeZim Instituts). Septem-ber 2019. www.dezim-institut.de/fi- leadmin/PDF-Download/CIJ_Broschue-re_190917_web.pdf [Stand: 08.07.2021]

„Reach Everyone on the Planet…“

– Kimberlé Crenshaw und die Inter-sektionalität. Herausgegeben vom Gunda-Werner-Institut in der Hein-rich-Böll-Stiftung. www.boell.de/

sites/default/files/crenshaw_-_reach_

everyone_on_the_planet_de.pdf [Stand: 08.07.2021]

Eine Welt der Vielfalt e.V.: Intersekt-ionalität. www.ewdv-diversity.de/di-versity/intersektionalitaet/ [Stand:

08.07.2021]