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Melek Günersu

Im Dokument Hoşsohbet Erika Glassen zu Ehren (Seite 178-181)

Auch die nächsten Erinnerungen drehen sich um einen Erinnerungsverlust und dessen Rekonstruktion. Dieser Verlust ist jedoch schwerer, eigentlich traumatischer Natur. Die Autorin Melek Günersu (geb. Kocamemili) stammt mütterlicherseits aus einer alten prominenten osmanischen Familie. Sie ist die Enkelin von Yusuf Kamil Suphi, dem Sohn von Abdüllatif Suphi Paşa. In dessen konak wächst die unmittelbar am Ende des Osmanischen Reiches geborene Melek bei ihrer Groß-mutter auf. Ihr in einem kleinen Verlag 2004 erschienenes Buch trägt den Titel:

Nevbahar: Liebe und Geschichte im Konak des Abdüllatif Suphi Paşa.35 Nevbahar ist der Name ihrer Mutter. Ihre Erinnerung an diese Mutter ist ebenso so vage wie die Er-innerung der vorigen Autorin Muhibbe Darga an ihren Großvater, denn die Mut-ter ist jung verstorben, als die Autorin noch ein kleines Kind war. Ihr ist das Buch gewidmet. Die Kindheitserinnerungen der Autorin spielen sich im konak ihrer Großeltern ab, wo sie aufwächst. Aber das Leitthema bildet die Suche der Autorin nach ihrem Vater, über den in der Familie niemals gesprochen wurde. Es dauert Jahre, bis sie erfährt, dass er ein Ingenieur und ein russischer Offizier war, der unter dem weißrussischen General Pjotr Nikolajewitsch Wrangel auf der Krim kämpfte

34 Darga/Çaykara: Arkeoloji’nin Delikanlısı, 76-77.

35 Melek Günersu, Abdüllatif Suphi Paşa Konağında Aşk ve Tarih. Nevbahar, Istanbul 2004.

Daneben bieten die Ausführungen eines weiteren Familiensprosses, Fazıl Bülent Kocame-mi, Bir Türk Ailesinin 450 Yıllık Öyküsü, Istanbul 2004, noch einen weiteren Blick auf diese Familie.

und später nach Istanbul kam. Die junge Frau mit den großen Augen, die ihre Mutter ist, verliebt sich in den jungen Offizier, der als Gast eines ihrer Brüder ins Haus kommt. Er konvertiert zum Islam, nimmt den Namen Refik an, und die bei-den heiraten. Noch bis zwanzig Jahre vorher hätte ein junger gutausgebildeter Konvertit, der in eine prominente osmanische Familie einheiratet, höchstwahr-scheinlich gute – wenn vielleicht auch nicht mehr wie weitere dreißig Jahre vorher – glänzende Karriereaussichten in der osmanischen Bürokratie, zumindest aber an den staatlichen osmanischen Hochschulen gehabt. Aber die Zeiten haben sich ge-ändert. Es liegt in diesem Fall wohl nicht daran, dass der soziale Automatismus des intisab, der Protektion, für die alten osmanischen Familien nun nicht mehr funk-tioniert, weil es eine neue Elite mit neuen Seilschaften in Ankara gibt. Der Familie Abdüllatif Suphi Paşas geht es in der frühen Republik nicht gerade generell schlecht; zu ihren Verwandten gehörte z. B. der Erziehungsminister Hamdullah Suphi Tanrıöver.36 Die Autorin behandelt diesen Punkt sehr ausweichend. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass die Familie auf die Heiratsabsichten in gleicher Wei-se negativ reagierte wie später auf die Heiratsabsichten der Autorin Wei-selbst. Als die nun um die zwanzig Jahre alte Melek in den 1940er Jahren einen nicht mittellosen, aber unvermögenden jungen Marinekadetten heiraten will, bedarf es ihrerseits ei-nes Suizid-Versuchs, bevor einer ihrer Onkel die Einwilligung der Familie erteilt.

Aber er macht unmissverständlich deutlich, dass diese Heirat gegen den Willen der Familie erfolgt und dass die Autorin keine Hilfe von dieser Seite zu erwarten ha-be.37 In ähnlicher Weise, so kann man vermuten, mussten wohl auch ihre Mutter und ihr Vater, der ehemalige russische Offizier mit dem eigentlichen Namen Ivan Kukuşkin, ohne die Unterstützung der Familie auskommen. Weil er zudem be-fürchten musste, wegen des Freundschaftsvertrags der werdenden Republik Türkei mit den Bolschewisten nach Russland ausgeliefert zu werden, emigrierte er mit sei-ner jungen Frau nach Serbien, um dort als Ingenieur Geld zu verdienen. Die Toch-ter, die Autorin des Buches, wird dort geboren. Aber ihre MutToch-ter, die junge Istan-bulerin aus reichem Haus, hält dem rauhen Klima der Fremde in Belgrad nicht stand. Sie erkrankt an Schwindsucht und wird von ihrem Mann nach Istanbul zu-rückgebracht, wo sie im Sanatorium auf der Insel Heybeliada stirbt. Die kleine Tochter verbleibt bei den Großeltern, und die Familie bricht den Kontakt zu ihrem Vater in Serbien ab, da sie befürchtet, er würde das Kind zu sich nehmen wollen.

Es dauert Jahre, bis Melek Günersu die französisch geschriebenen Briefe ihres Va-ters an ihre Mutter mit Mühen entziffern kann und eine Ahnung von der tragi-schen Liebesgeschichte bekommt, die sich da abgespielt hat, und weitere Jahre, bis sie – inzwischen selbst verheiratet und Mutter – schließlich ihren in Wien leben-den Vater ausfindig macht. Zusammen mit ihrem Mann Hanefi fährt sie nach Wien, um ihn zu treffen. An das dramatische Wiedersehen schließt sich eine lange,

36 Günersu, Nevbahar, 87.

37 Günersu, Nevbahar, 59.

wenngleich nicht immer ganz spannungsfreie Freundschaft zwischen der Tochter und ihrem Vater in Wien an, die bis zu dessen Tod dort im Jahr 1985 dauert.

Die sehr persönlichen Erinnerungen der Autorin berichten nur am Rande von ihrer Lebenszeit als Frau in der Republik Türkei seit den 1940er Jahren, vielmehr erzählen sie im Kern die Geschichte der Restitution ihres persönlichen Erinne-rungsverlustes an ihre Eltern. Der konak, in dem sich ihre Eltern das erste Mal be-gegneten und in dem sie mit ihren Großeltern und zahlreichen anderen Verwand-ten aufgewachsen ist, spielt eine besondere Rolle in ihren Erinnerungen.38 Im letz-ten Kapitel beschreibt sie, wie sie dieses Haus, welches heute (oder jedenfalls im Jahr 2003) als Medizinmuseum der Universität Istanbul genutzt wird, noch einmal besucht und dort die Räume ihrer Kindheit abschreitet. Es ist dieses Haus, in dem ihre Identität – und das heißt letztlich ihre osmanische Identität – wurzelt. Diese eklektisch konstruierte oder rekonstruierte osmanische Identität kommt auch darin zum Ausdruck, dass sie in archaisierender Weise an bestimmten Stellen ihrer Erin-nerungen Gedichte in die Erzählprosa einflicht, ohne dass ihre Sprache selbst os-manisierend wäre. Ihre Erinnerungen schließen mit den Worten:

„Als ich mich von dem konak trennte und die abschüssige Strasse [an welchem es liegt (C. H.)] hinaufzusteigen begann, da war es, als seien die Stimmen der Kinder zu hören, die im Garten um die Wette nach Kastanien suchten. Eines dieser Kinder war ich, Me-lek, die Tochter von Nevbahar.”39

Die Bevorzugung der matrilinearen Identität, die hier zum Ausdruck kommt, ist natürlich ein Ausdruck ihrer Biographie, denn sie ist in der republikanischen Türkei aufgewachsen, nicht an der Seite ihres Vaters in Russland, Jugoslawien oder in Wien. Der Verlust ihres Vaters wird nicht als Verlust einer anderen mögli-cherweise reicheren oder interessanteren Identität aufgefasst. Nicht nur die väter-liche Abwesenheit, sondern auch der soziale Unterschied hebt die Vorgaben der patriarchalischen und patrilinearen osmanischen wie türkischen Gesellschaft qua-si auf. Schließlich wird der unstandesgemäßen Liebesheirat ihrer Mutter mit ih-rem tragischen Ende die eigene ebenfalls unstandesgemäße, aber glückliche Lie-besheirat entgegengesetzt.

Es gibt noch ein sehr interessantes Detail dieser Erinnerungen, das hier Er-wähnung finden soll: Als Melek Günersu ihren Vater wiederfindet, stellt sich die Sprachenfrage. Tatsächlich haben sie und ihr Vater keine gemeinsame Sprache, in der sie kommunizieren können. Das Französische beherrscht sie wohl nur passiv.

Am Anfang leistet ein türkischer Bekannter in Wien Übersetzerdienste. Aber dann stellt sich heraus, dass ihr Mann Hanefi das Serbokroatische beherrscht und nun als Übersetzer fungieren kann. Er spricht diese Sprache, weil er aus einer

38 Über die Zentralität des „türkischen Hauses“ als Symbol der Identitätskonstruktion vgl.

Carel Bertram, Imagining the Turkish House. Collective Visions of Home, Austin 2008.

39 Bertram, Imagining, 136.

muslimischen Familie kommt, die aus dem Gebiet des früheren Jugoslawien nach Istanbul geflohen ist. Nur wird diese Geschichte, eines von mehreren hundert-tausend muslimischen Flüchtlingsschicksalen aus dieser Region zwischen 1878 und 1921, in dem Buch leider nicht erzählt.

Im Dokument Hoşsohbet Erika Glassen zu Ehren (Seite 178-181)