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3. ARTIKEL 16

3.3 Zusätzliche Erwägungen

3.3.4 Mehrere Arten betreffende Ausnahmen

(3-86) Manche Projekte (z. B. große Infrastrukturprojekte von öffentlichem Interesse, etwa Verkehrsnetze) können sich auf eine ganze Reihe von in Anhang IV genannten Arten auswirken. In solchen Fällen sollten die Auswirkungen auf jede der betroffenen Arten geprüft werden, und anhand dieser Informationen sollte ein Überblick über die Gesamtauswirkungen erstellt werden, um die am besten geeigneten Lösungen zu wählen. Auch diese Lösungen müssen alle drei Kriterien erfüllen. Es reicht nicht aus, lediglich die Zahl der potenziell gefährdeten Arten aufzulisten, ohne in einem weiteren Schritt die Größenordnung der Probleme zu bewerten und darzulegen, wie diese vermieden werden können.

3.3.5 „Temporäre Natur“: Umgang mit der Besiedlung von neu erschlossenem Bauland durch in Anhang IV aufgeführte Arten (3-87) In einigen Fällen werden bereits genehmigte Erschließungsmaßnahmen (z. B. für den Bau neuer Infrastrukturen wie Straßen, Häuser usw. oder fortdauernde Abbautätigkeiten in Steinbrüchen) dazu führen, dass neue, günstige Lebensräume geschaffen und von in Anhang IV der Richtlinie aufgeführten Arten besiedelt werden. So können beispielsweise an Abbaustätten Naturelemente wie neue Teiche (vorteilhaft für Amphibien und Libellen), Areale mit offenem Boden, Sand- und Kiesgruben (die Insekten und Vögel anlocken), Pionierrasen (attraktiv für Insekten und Vögel), Abbruchkanten

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(günstig für Vögel und Solitärbienen) und Bereiche mit Unterschlüpfen (für Reptilien, Amphibien und Insekten) entstehen.

Da in den strengen Artenschutzregelungen nach Artikel 12 nicht zwischen temporären (z. B. auf 5–10 Jahre begrenzten) oder dauerhaften sowie zwischen künstlich angelegten oder natürlich entstandenen Umgebungen unterschieden wird, ist davon auszugehen, dass die in Anhang IV aufgeführten geschützten Tier- oder Pflanzenarten auch dann in vollem Umfang unter die Schutzbestimmungen des Artikels 12 fallen, wenn sie infolge genehmigter Erschließungsmaßnahmen einen neuen Standort zu besiedeln beginnen.

(3-88) Die Anwendung der strengen Artenschutzregelungen nach Artikel 12 auf solche Fälle kann eine erhebliche Herausforderung für Projektentwickler und Landeigentümer darstellen, die aufgrund der Art der Tätigkeiten möglicherweise diese „temporären“

Lebensräume entfernen müssen, um ihre Arbeiten so, wie sie genehmigt wurden, fortzuführen. Das Beseitigen der Lebensräume – während einer Vorbereitungs-, Betriebs- oder Stilllegungsphase eines Projekts – erfordert eine Ausnahmeregelung gemäß Artikel 16 Absatz 1, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind (siehe unten).

Ohne Rechtssicherheit, dass das fragliche Gebiet rechtmäßig und wie geplant für den genehmigten Zweck genutzt werden kann, würden Landeigentümer oder Projektentwickler möglicherweise versuchen, das Eindringen geschützter Arten in der Übergangszeit, in der die Flächen noch nicht aktiv erschlossen werden, zu verhindern (z. B. durch Pestizide oder Pflügen), um zusätzliche Belastungen, Restriktionen oder Beschränkungen im Zusammenhang mit dem Vorkommen geschützter Arten, die ursprünglich auf ihren Grundstücken nicht beheimatet waren, zu vermeiden. Dadurch könnten Chancen verloren gehen, da alle zusätzlichen temporären Lebensräume, die ansonsten in dem betreffenden Gebiet nicht entstanden wären, unter bestimmten Bedingungen einen positiven Beitrag zu den Zielen der Richtlinie darstellen könnten.

(3-89) Um diese Rechtssicherheit zu schaffen und auf diese Weise einen Anreiz zu bieten, temporäre Naturstätten zu schaffen oder aufrechtzuerhalten, können Erschließungsgesellschaften in einem frühen Stadium des Planungsprozesses eine Ausnahmeregelung gemäß Artikel 16 beantragen, also zu einem Zeitpunkt, an dem die geschützten Arten den Standort noch nicht besiedelt haben, eine solche Besiedlung jedoch mit einiger Sicherheit zu erwarten ist (dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn eine entsprechende Art in den umliegenden Gebieten bereits vorkommt). Diese Form der vorab genehmigten Ausnahme würde es ermöglichen, temporäre Naturelemente entsprechend den Erfordernissen der Projektentwicklung nach und nach zu beseitigen.

Die rechtlichen Standards für solche Ausnahmen dürfen jedoch nicht niedriger sein als für Ausnahmen für bereits vorkommende geschützte Arten und deren Lebensräume, und sie müssen ebenfalls alle in Artikel 16 genannten Bedingungen erfüllen. Unter anderem bedeutet dies, dass in Entscheidungen über Ausnahmen, die vor dem tatsächlichen Auftreten der kolonisierenden Art oder ihres Lebensraums ergehen, die mit der Ausnahmeregelung geltend gemachten Ziele klar und genau festgelegt sein müssen.160 (3-90) Daher ist es von zentraler Bedeutung, dass Anträgen auf Ausnahmegenehmigungen nach Artikel 16 eine vollständige Zustandserhebung vorausgeht, die darauf abzielt, alle geschützten Arten zu ermitteln, und zwar nicht nur innerhalb des Projektgebiets, sondern auch in den umliegenden Gebieten. Dadurch wird sichergestellt, dass alle „vorhersehbaren“ in Anhang IV aufgeführten Arten ermittelt werden, ebenso wie ihre Abundanz und die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Projektgebiet besiedeln werden. Die Entscheidung über eine Ausnahme nach Artikel 16 kann dann herangezogen werden, um Bedingungen für die Aufrechterhaltung der ökologischen Funktionalität des Lebensraums der Art festzulegen, falls der neue besiedelte

160 Siehe C-674/17, Rn. 41.

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Lebensraum innerhalb des Projektgebiets für die Zwecke des genehmigten Projekts bzw.

der genehmigten Tätigkeit beseitigt werden muss. Eine solche Bedingung könnte beispielsweise die Schaffung und der Schutz ähnlicher Lebensräume außerhalb des Projektgebiets und die Umsiedlung der Art innerhalb des Projektgebiets in diese Lebensräume sein, unterstützt durch eine Langzeitüberwachung. Wie bei allen Ausnahmeregelungen muss die korrekte Umsetzung ebenfalls überprüft und dokumentiert werden.

(3-91) Ausnahmen, die sich auf die oben beschriebenen temporären Szenarien beziehen, müssen aus einem der in Artikel 16 Absatz 1 genannten Gründe objektiv gerechtfertigt sein. Eine Möglichkeit besteht darin, die Ausnahmeregelung auf die in Artikel 16 Absatz 1 Buchstabe a genannten Gründe zu stützen, die eine Ausnahme „zum Schutz der wildlebenden Tiere und Pflanzen und zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume“

rechtfertigen. Der Wortlaut der Bestimmung beschränkt sich nicht auf Ausnahmen, die zum Schutz einer Pflanzen- oder Tierart vor anderen, konkurrierenden geschützten Arten gewährt werden. Der Wortlaut kann vielmehr so ausgelegt werden, dass eine Ausnahme von den strengen Schutzregelungen für eine geschützte Art auch zu deren eigenem Vorteil zulässig ist. Die Formulierung in der Vorschrift legt nahe, dass die Ausnahme einen Mehrwert für die betreffende Art erbringen muss. Dies würde bedeuten, dass Artikel 16 Absatz 1 Buchstabe a anwendbar wäre, wenn nachgewiesen werden kann, dass für die betreffende Art ein Nettonutzen besteht, der erst durch die Gewährung der Ausnahme ermöglicht wurde.

(3-92) Artikel 16 Absatz 1 Buchstabe c sieht die Möglichkeit vor, eine Ausnahme „aus […]

zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses, einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art oder positiver Folgen für die Umwelt“, zu gewähren. Der Hinweis auf „positive Folgen für die Umwelt“ könnte in ähnlicher Weise ausgelegt werden wie die oben erwähnte Bezugnahme auf den „Schutz der wildlebenden Tiere und Pflanzen und [die] Erhaltung der natürlichen Lebensräume“ gemäß Artikel 16 Absatz 1 Buchstabe a, d. h. es kann davon ausgegangen werden, dass eine Ausnahme von den strengen Schutzregelungen für eine Art auch zu deren eigenem Vorteil gewährt werden könnte. Der Mehrwert müsste jedoch „positiv“ sein, sodass hier ein höherer Schwellenwert als in Bezug auf Artikel 16 Absatz 1 Buchstabe a angesetzt wird.

(3-93) Die Möglichkeit, Ausnahmeregelungen für temporäre Naturstätten in Anspruch zu nehmen, sollte in der Projektplanungsphase sorgfältig geprüft werden und eine eingehende wissenschaftliche Bewertung der Frage umfassen, wo sich geschützte Arten in den verschiedenen Phasen des Projekts ansiedeln könnten. Bereits in der Planungsphase sollte bewertet werden, auf welche Weise die Arten, die die temporären Lebensräume besiedelt haben, während und nach dem Projekt möglichst erhalten bleiben können, z. B. durch geeignete Schadensbegrenzungsmaßnahmen und unterstützende Umsiedlungen.

(3-94) Die Entscheidung über eine Ausnahmeregelung muss dennoch alle anderen in Artikel 16 genannten Kriterien erfüllen (Fehlen von Alternativlösungen, keine Beeinträchtigung des Erhaltungszustands) und sollte schon im Vorfeld strenge Kontroll- und Überwachungsverpflichtungen definieren.161 Dadurch würde sichergestellt, dass die Erschließung der temporären Naturstätte so vonstattengeht, dass dem voraussichtlichen Auftreten bzw. Vorkommen geschützter Arten an diesem Ort Rechnung getragen wird.

Diese Überwachungsarbeit würde auch die Nachweise liefern, die erforderlich sind, um eine weitere Ausnahme für neue Vorkommen zu beantragen, die nicht bereits von Anfang an vorhersehbar waren.

161 Vgl. zum Beispiel das niederländische Modell: Staatscourant (2015), Beleidslijn Tijdelijke Natuur (concept 11 juni 2015) – Nr. 209016, https://zoek.officielebekendmakingen.nl/stcrt-2015-29016.html

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25 – Beispiel für bewährte Verfahren: LIFE-Projekt „Life in Quarries“ in Belgien:

dynamisches Management der biologischen Vielfalt im Bereich aktiver Steinbrüche

Ziel des LIFE-Projekts „Life in Quarries“ (Leben in Steinbrüchen) [LIFE14 NAT/BE/000364] ist die Entwicklung von Methoden zur Optimierung des Biodiversitätspotenzials beim Betrieb von Abbaustätten. Im Rahmen von steinbruchspezifischen Plänen zum Management der biologischen Vielfalt wurden für dieses Projekt wissenschaftliche und rechtliche Ansätze zur Unterstützung temporärer Lebensräume (z. B. temporärer Teiche oder Sandbänke) untersucht, die durch die Abbauaktivitäten entstehen und davon abhängig sind und in denen geschützte Arten beheimatet sein können (z. B. Uferschwalben, Eidechsen, Mauereidechsen, Kreuzkröten oder Algen, die für nährstoffarme Umgebungen typisch sind). Dieses dynamische Management der biologischen Vielfalt zur Pflege bereits vorhandener und/oder neuer Arten, abgestimmt auf die Steinbruchtätigkeit (sowohl bestehende als auch zusätzliche vorübergehende Tätigkeiten), kann mit den voraussichtlichen Maßnahmen zur Wiederherstellung dauerhafter Lebensräume während und nach der Abbauphase kombiniert werden, um nach Abschluss des Projekts mehr stabile Ökosysteme mit großer biologischer Vielfalt zu haben (zusätzliche dauerhafte Natur).162

162 Weitere Informationen finden Sie auf der Website zum LIFE-Projekt: https://www.lifeinquarries.eu

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3.4 Überwachung und Berichterstattung in Bezug auf