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Medical Anthropology, Medizinanthropologie, Ethnomedizin

Der Fokus meiner Arbeit und der Arbeiten des gesamten Projektes liegt auf der Frauengesundheit chinesischer und südostasiatischer MigrantInnen. Dazu ist es zwingend notwendig, einen kurzen Überblick über die Medical Anthropology zu geben. Auf Grund der Datenfülle muss ich mich aber auf das Wichtigste beschränken, sonst würde diese Thematik den Rahmen sprengen.

3.1. Begriffserklärung

Medical Anthropology versteht sich als ein interdisziplinäres Wissenschaftsgebiet und liegt zwischen der Kultur- und Sozialanthropologie und der Biomedizin, der sie aber näher steht, da sie den Körper als zentrales Thema hat (vgl. Hadolt 2004: 12).

Sind die Ethnomedizin und die Medizinanthropologie nun dasselbe?

Thomas Lux beschreibt Ethnomedizin als zwischen Medizin und Ethnologie, das man am Wortstamm schon erkennt. Ethnos ist der griechische Ausdruck für das Volk. Dieser Terminus wurde dann mit dem Wort Medizin verbunden. In den Anfängen der Ethnomedizin meinte man damit die Unterschiede zwischen „fremder“ und „eigener“ Medizin. Das hat zum Glück schon längst an Gültigkeit verloren, denn es wurde oft die „eigene“ Medizin als die einzig Wahre dargestellt, von der aus alles andere untersucht wurde (vgl. Lux 2003a: 10).

Heute beschäftigt sich die Ethnomedizin mit alternativen Heilmethoden und Medizinsystemen. Die Daten dazu werden in ethnographischen Feldforschungen in verschiedenen Gesellschaften erfasst und dann miteinander verglichen (vgl. Janzen 2002: 3).

Zentraler Erklärungsansatz der Ethnologie ist demnach die Kulturtheorie, was meint, dass die kulturellen Perspektiven die Phänomene von Gesundheit und Krankheit in anderen Gesellschaften, sowie in unserer eigenen Gesellschaft beleuchten. Hier kommen die soziologischen, die politischen, philosophischen und ökologischen Betrachtungsweisen zum Tragen (vgl. Lux 2003a: 11).

Nach Knipper und Wolf sagt die Medizinethnologie Ähnliches aus: „dass sie ein zentrales

„Untersuchungsobjekt“ fokussiert: den menschlichen Umgang mit „Leiden“ und

„Krankheit“ in seinen vielfältigen kulturellen, sozialen und nicht zuletzt auch politischen Dimensionen“ (Knipper/ Wolf 2004: 61).

Thomas Ots meint dazu, dass es ohne die Kenntnis der Vorstellungen der „PatientInnen“ der Sozial- und Kulturgeschichte des Landes, der Schichtzugehörigkeit und der Familienverhältnisse nicht gelingen wird, eine patientenzentrierte Heilkunde der

krankheitszentrierten Medizin entgegenzustellen, in der der Mensch das „Subjekt“ ist (vgl.

Ots 1999:113). Die Medizinethnologie beschäftigt sich demnach mit dem Umgang mit Leiden und Krankheit und setzt sich weiters auseinander mit den Wissensbeständen und Institutionen der Biomedizin. Die Methoden der Erforschung müssen auf diese Anforderungen adäquat reagieren (ebd. 63).

Als Methoden kommen in erster Linie die qualitativen Forschungsmethoden wie die Beobachtung und die Befragung in Fall. Das ist auch in der Kultur- und Sozialanthropologie so üblich.

Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch die eigene Betroffenheit. Während der Forschung wäre es ideal, angeleitet durch kompetente KollegInnen methodologische Reflexion zu betreiben, um die Qualität des Forschungsmaterials dadurch zu verbessern (vgl. Knipper/

Wolf 2004: 64).

Wie wir nun sehen, sind die Begriffe Medical Anthropology, Ethnomedizin, und Medizinanthropologie schwer voneinander zu trennen. Im angloamerikanischen Sprachgebrauch jedoch wird nur von Medical Anthropology gesprochen, was ich der Einfachheit halber ebenfalls machen werde.

3.2. Das Gesundheitssystem als kulturelles System

Um eine Krankheit heilen zu können, gibt es spezifische kulturelle Medizinsysteme. „Ein kulturelles Medizinsystem ist effizient, wenn der kulturelle Alltag vom Phänomen Erkrankung möglichst unbeeinträchtigt abläuft, in emotionaler, sozialer wie ökonomischer Hinsicht, auf der Ebene des Individuums, der des Sozialwesens (Familie, Gruppe, Gemeinwesen) und der Ebene der ganzen kulturellen Gemeinschaft. Das kulturelle Medizinsystem enthält die Verhaltensnormen für den Erkrankungsfall (Sich 1995: 19).

Dazu hat Arthur Kleinman das „Health care system“ dargestellt, in welchem die verschiedenen Traditionen und Formen von Heilkunde als kulturelle Systeme betrachtet werden müssen (vgl. Kleinman zitiert in Ots 1999: 113).

Das health care system beinhaltet die Vorstellungen und Gründe einer Krankheit, die Deutung der Symptome, die Entscheidung für den richtigen Heilweg, die Bedeutung von Krankheit, die Rolle des Kranken selbst und die verschiedenen Heilbereiche mit ihren Institutionen, und deren Bezug zueinander. In diesem System sind die HauptakteurInnen nicht nur die PatientInnen und ihre HeilerInnen selbst, sondern auch die Menschen des sozialen Umfeldes

(Familie, Freunde), die großen Einfluss auf den Heilweg ausüben (vgl. Kleinman zitiert in Ots 1999: 113).

Eine Krankheit kann also nur erkannt und geheilt werden, wenn die gesamte Lebenswelt mit einbezogen, verstanden und akzeptiert wird.

Die Biomedizin allein schafft es nicht, Heilung herzustellen, sie betreibt lediglich

„Reparaturtätigkeit“. PatientInnen und ÄrztInnen müssen gemeinsam die Lebenswelt erschließen (vgl. Lux 1994: 149). Der Begriff Lebenswelt umfasst die geschichtlichen, sozialen und individuellen Situationen. Verschiedene Lebenswelten bedeuten auch große Verschiedenheiten der Erfahrungs- Deutungs- und Orientierungsmuster (vgl. Lux 1994:152).

In jedem Fall muss man die gesamte Lebenswelt erfassen und analysieren, um hilfreich sein zu können. Lebenswelten in verschiedenen Kulturen führen auf Grund unterschiedlicher Perspektiven in Wahrnehmung und Erleben, Einschätzung und therapeutischer Orientierung nicht nur zu unterschiedlichem „Kranksein“, sondern auch zu unterschiedlichen Krankheiten (ebd. 154).

In seinem Buch „Patients and Healers in the Context of Culture“ erklärt Arthur Kleinman das Gesundheitssystem als kulturelles System, das sich aus drei überlappenden Teilen bildet (vgl.

Kleinman 1980). Diese Teile sind:

Der professionelle Sektor:

Hier wird oft die Biomedizin gemeint, also unsere klassische „Schulmedizin“. In dieser wurden früher anerkannte Heilmethoden später illegalisiert oder einfach weggedrängt, da sie zu große Konkurrenz gewesen wären. In diesem Sektor wird viel über die Machtverhältnisse strukturiert.

In letzter Zeit wird dieser professionelle Sektor des Systems nicht mehr unhinterfragt angenommen. Es werden zusehends alternative Methoden gesucht und ausprobiert, wobei der Fokus auf die Ganzheitlichkeit zielt (vgl. Kleinman 1980: 53f.).

Leider arbeiten hierzu noch immer ÄrztInnen und Gesundheitspersonal dagegen, die alternative Methoden als nicht wissenschaftlich auslegen. Stattdessen wird in der Medizin die Technik hervorgehoben – die Medikalisierung des Lebens, wie Illich es ausdrückt (vgl. Illich 1995: 31ff).

Der Sektor der Volksheilkunst:

Dieser Bereich wird als der „mehr oder weniger institutionalisierte, bzw. legalisierte Bereich der alternativen Medizinszene angesehen“ (Ots 1999: 118).

Der Sektor der Volksheilkunst wurde lange als das Gegenteil der modernen, „professionellen“

Medizin angesehen. Man dachte bei Volksheilkunst meist an Schamanismus oder rituelle Praktiken, die mit übernatürlichen Mächten behaftet waren.

Heute sieht das schon anders aus, da auch SchamanInnen und HeilpraktikerInnen eine lange Ausbildung brauchen, um überhaupt darin arbeiten zu dürfen. Anerkennung und Wertschätzung haben heute auch einen höheren Stellenwert, denn HeilpraktikerInnen sowie SchamanInnen werden oft von selbst aufgesucht und kontaktiert.

Diese haben den Vorteil, dass sie bei ihren PatientInnen in die soziale Umwelt integriert sind und so eine bessere Interaktion zwischen „Heiler“ und „Patient“ entsteht. Man fühlt sich besser verstanden, bei jemandem, von dem man sich Hilfe erwartet, der um das eigene soziale Leben Bescheid weiß, als bei einem/r ÄrztIn, die Daten und Fakten der Krankheit aufschreibt und dann Arzneimittel verschreibt.

Heute ist die Medizin so weit, dass diese traditionellen Heilsysteme neben unserer

„Schulmedizin“ anerkannt sind. So wird auch die medizinische Versorgung von MigrantInnen gewährleistet.

Der Laiensektor:

Dieser Sektor bezieht sich auf die Eigenmedikation durch den Kranken selbst (Ots 1999:

118). Dieser Bereich ist der Größte. Diese Selbstmedikation ist am häufigsten verbreitet.

Kleinman nennt die Stufen der Erkrankung, wonach zuerst die Krankheitssymptome erkannt werden. Diese Symptome werden mit der Familie oder FreundInnen bewertet. Daraufhin wird entschieden, was zur Anwendung kommen soll, entweder Selbstbehandlung, zu Rate ziehen von weiteren FreundInnen oder den ÄrztInnen-Besuch. Hier gibt es wieder verschiedene Möglichkeiten, wie die Schulmedizin oder Mediziner aus der oben genannten Volksmedizin (vgl. Kleinman 1980: 51).

Die Grenzen dieser Sektoren sind natürlich nicht starr, sondern verlaufen fließend und auch transkulturell unterschiedlich, was man am Beispiel der Akupunktur deutlich erkennen kann.

In den USA zählt die Akupunktur nicht zur ärztlichen Kunst, was in Österreich ganz anders gesehen wird. Hier gibt es ein Ausbildungsvorbehaltgesetz, das besagt, dass nur ÄrztInnen Akupunktur ausüben dürfen. Außerdem gibt es in Österreich ein Diplom für diese Art der Heilung (vgl. Ots 1999: 118).

An Hand dieses Beispiels zeigt sich sehr deutlich, wie unklar diese Grenzen sind. Zählt die Akupunktur nun zum professionellen Sektor oder doch zur Volksheilkunst?

Die Differenzierung von „Krankheit“ und „Kranksein“ wurde von Viktor von Weizsäcker begründet, wurde aber erst durch die Begriffe Disease und Illness von Kleinman populär (vgl.

Ots 1999: 123). „Unter Krankheit versteht die medizinische Wissenschaft den als objektiv erkennbar geglaubten Prozess der Erkrankung, da sie in ihr ein Faktum sieht. Kranksein dagegen beschreibt das subjektive Erleben des betroffenen Individuums hierauf (Ots 1999:

123).

Ots beschreibt weiters, dass es keine Krankheit ohne ihren Träger gibt, aber trotzdem von den ÄrztInnen nur die Krankheit behandelt wird, weil diese messbar ist. Den PatientInnen wird nicht so recht vertraut, da die eigenen Angaben nur subjektiv sind im Gegensatz zur Krankheit, die ja objektiv gesehen werden kann (ebd.).

Beim Kranksein „fühlt“ sich der Betroffene krank, was mit Beachtung und Aufmerksamkeit seiner Umwelt (Familie, Freunde…) einhergeht. So gesehen gibt es Kranksein immer im sozialen Kontext, da durch das Kranksein die Umwelt aktiv eingebunden wird.

Lock und Nguyen sprechen ebenso über die soziale Konstruktion des Krankseins und der Krankheit, wenn sie meinen „many families when confronted with, for example, psychiatric illness or biological conditions that result in disability, seek out medical help with the hope of being given a neutral professional label for the condition, thus relieving either the affected individual or their family of responsibility (Lock/ Nguyen 2010: 72).

Es ist auf jeden Fall die gesamte Umwelt eingebunden in das Kranksein bzw. die Krankheit.

Leider fühlt sich der Betroffene oft missverstanden, wenn nur die Krankheit behandelt wird, und seine „subjektiven“ Zeichen nicht wahrgenommen werden. Natürlich kommt es auf die Rolle die der Kranke in seiner Gesellschaft oder Umwelt innehat an, wie damit umgegangen wird.

Ots meint, dass Krankheit in nicht so produktionsbetonten Gesellschaften einen weniger negativen Aspekt hat. In China ist ein kranker Mensch ein krankes Familienmitglied oder ein kranker Freund, währenddessen ein kranker Mensch in den westlichen Industrieländern als ein kranker Arbeitnehmer gesehen wird (vgl. Ots 1999: 127).

Es fehlt die Arbeitskraft, der Mensch trachtet danach, schnellstens wieder gesund zu werden, um in der Arbeit nicht zu fehlen, was wiederum zur Folge hat, dass viele Menschen der westlichen Industrieländer an psychischen Erkrankungen leiden, da sie maßlos überfordert sind, weil sie sich selbst in ihrer Tätigkeit nur als ArbeitnehmerInnen sehen.

Die Familie ist selten am Genesungsprozess aktiv beteiligt, da ein Kranker schnellstens zum Arzt geschickt wird, um die Verantwortung jemandem anderen zu übertragen.