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Marktübergreifende Marktverschluss strategien besser erfassen

Besonders grundlegende Fragen für das Wettbewerbsrecht wirft die Digitalisierung dort auf, wo sich unternehmerische Strategien von einem herkömmlichen Marktkontext, also von der Ausrichtung auf eingrenzbare Produkt- oder Dienst-leistungsmärkte, lösen (siehe dazu Abschnitt II.3). Unter-nehmen, die im digitalen Kontext mit Ausrichtung auf End verbraucher tätig sind, stehen oft nicht nur in einem Wettbewerb auf einem spezifischen Dienstemarkt, sondern vor allem in einem Wettbewerb um die Aufmerksamkeit und Bindung von Kunden. Die Aufmerksamkeit von Kunden ist nicht zuletzt dort zentral, wo Dienste durch Werbung finanziert werden. Kundenbindung ist dann primäres Ziel im Aufbau digitaler Ökosysteme.

Um die Bedeutung der Aufmerksamkeit von Kunden für die Werbefinanzierung zu erfassen, haben Ökonomen das Konzept der „Aufmerksamkeitsmärkte“ („attention markets“) entwickelt.79 Verschiedene wettbewerbsbehördliche Ent-scheidungen haben sich hiermit bei der Marktabgrenzung

76 Siehe Furman-Report, para. 1.117. Siehe auch para. 2.116 – 17: Der Furman-Bericht verweist hier auf das Konzept der „beträchtlichen Marktmacht“

aus der TK-Regulierung sowie auf die Konzepte ökonomischer Abhängigkeit und relativer Marktmacht.

77 Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 17 Rn. 4.

78 Näher dazu: Marktmacht-Studie (Fn. 1), S. 47 ff. Siehe auch Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 17 Rn. 3.

79 Für frühe Untersuchungen zur Bedeutung des Wettbewerbs um Aufmerksamkeit in Rundfunk- und Fernsehmärkten siehe Anderson/Coate, Market Provision of Broadcasting: A Welfare Analysis, The Review of Economic Studies (2005), Vol. 72(4), 947–972. Für neuere Untersuchungen im Kontext des Internet siehe Ambrus /Argenziano, Asymmetric Networks in Two-Sided Markets, American Economic Journal: Microecono-mics (2016), Vol. 1(1), p. 17–52; Anderson/Foros/Kind, Competition for Advertisers and for Viewers in Media Markets, The Economic Journal 128 (2018), p. 34; Prat/Valletti, Attention Oligopoly (2018). Für einen Überblick: Lear-Report, S. 6, 28 und Annex A.2.

gegenüber Werbekunden auseinandergesetzt.80 Tendenziell führt dieses Konzept allerdings zu sehr weiten Marktab-grenzungen: Um die Aufmerksamkeit von Kunden konkur-rieren höchst unterschiedliche Dienste.81 Die Funktion der Marktabgrenzung, diejenigen Faktoren einzugrenzen, die das unternehmerische Verhalten faktisch disziplinieren, und auf dieser Grundlage die Identifikation von Macht-potentialen zu ermöglichen, kann ein solches Konzept daher nur eingeschränkt erfüllen. Zu Recht verweist das Konzept der „Aufmerksamkeitsmärkte“ allerdings auf die hohe praktische Relevanz der Werbemärkte in der Digital-ökonomie. Die Funktionsweise dieser Märkte bedarf einer weitergehenden Analyse. Verschiedene Wettbewerbsbe-hörden haben in jüngerer Zeit entsprechende Sektorunter-suchungen eingeleitet.82

Zu fragen ist daher, ob die wettbewerbliche Analyse markt-übergreifender unternehmerischer Strategien neuer Ansätze bedarf. Der Sonderberater-Bericht hat dafür plädiert, die Marktabgrenzung als Instrument zur Ermittlung und Sys-tematisierung wirksamer Wettbewerbskräfte zwar nicht aufzugeben, jedoch der Identifizierung ggfs. anti-kompeti-tiver unternehmerischer Strategien und Schadenstheorien besondere Bedeutung einzuräumen.83 In der Fusionskont-rolle wird auf der Grundlage des sogenannten SIEC-Tests (näher dazu s. u., Kapitel VIII) auf die Anreize und Fähigkeit der Zusammenschlussparteien abgestellt, den Zugang zu bestimmten Kunden und Märkten zu erschweren oder zu verschließen.

Im Kontext des Art. 102 AEUV könnte eine relevante Machtposition aus der Kontrolle über Ressourcen und Fertigkeiten folgen, welche die Fähigkeit zum Verschluss bestimmter Märkte oder zur Verdrängung von Wettbewer-bern vermitteln. Dies entspricht im Ausgangspunkt der sogenannten „Essential Facilities“-Doktrin (näher dazu, mit Blick auf ihre Bedeutung im Kontext des Zugangs zu Daten:

s. u., Kapitel V). Die „Essential Facilities“-Doktrin beruht aber zugleich auf der Erkenntnis und Erfahrung, dass das Wett-bewerbsrecht in der Anordnung von Zugangspflichten zu bestimmten Ressourcen grundsätzlich große Vorsicht wal-ten lassen muss, da diese regelmäßig negative Auswirkun-gen auf Innovations- und Investitionsanreize haben. Eine Interessenabwägung ist erforderlich, die diesen Gesichts-punkten Rechnung trägt. Es bedarf weiterer Erfahrungen und theoretischer Grundlegung, um diese Interessenabwä-gung unter den BedinInteressenabwä-gungen der digitalen Ökonomie in neuen Fallgruppen zu konturieren.

Die Kommission Wettbewerbsrecht 4.0 empfiehlt vor die-sem Hintergrund, Studien in Auftrag zu geben, welche die verschiedenen Dimensionen marktübergreifender Markt-verschlussstrategien in der digitalen Ökonomie sowie die Möglichkeiten des Wettbewerbsrechts untersuchen sollen, sowie diese frühzeitig zu adressieren.

Empfehlung 3:

Die Kommission Wettbewerbsrecht 4.0 empfiehlt eine Untersuchung marktübergreifender Marktverschluss-strategien in der digitalen Ökonomie und der Möglich-keiten, ihnen mit den Mitteln des Wettbewerbsrechts zu begegnen.

80 Vgl. EU-Kommission, Beschluss v. 3.10.2014, M.7217, Rn. 73 ff. – Facebook/WhatsApp; EU-Kommission, Beschluss v. 6.12.2016, M.8124, Rn. 153 ff. – Microsoft/LinkedIn – allerdings jeweils ohne den Begriff der „Aufmerksamkeitsmärkte“ zu verwenden und ohne eine Festlegung im Ergebnis.

81 So auch der Lear-Report (Fn. 6), S. 28.

82 So bereits mit Nachdruck der Lear-Report (Fn. 6), S. 45 (Werbemärkte als ein „blind spot“ der Wettbewerbsbehörden), 117 f. Die französische Autorité de la Concurrence hat eine Sektoruntersuchung zur Online-Werbung durchgeführt – siehe den Abschlussbericht Avis no. 18-A-03 portant sur l’exploitation des données dans le secteur de la publicité sur internet, http://www.autoritedelaconcurrence.fr/pdf/avis/18a03.pdf.

Die CMA hat am 3. Juli 2019 eine Marktstudie in Auftrag gegeben – siehe https://www.gov.uk/cma-cases/online-platforms-and-digital-advertising-market-study. Auch das Bundeskartellamt hat eine Untersuchung der Marktverhältnisse bei der Online-Werbung gestartet – siehe Pressemitteilung v. 1.2.2018 – siehe https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2018/01_02_2018_SU_

Online_Werbung.html (zuletzt abgerufen am 3.9.2019). Der ACCC-Report (Fn. 5) widmet den Wettbewerbsverhältnissen auf Werbe märkten ein eigenes Kapitel (Chap. 3). Siehe ferner Adshead/Forsyth/Wood/Wilkinson, Online advertising in the UK. A Report commissioned by the Department for Digital, Culture, Media & Sport, January 2019.

83 Sonderberater-Bericht (Fn. 4), S. 46. Kritisch dazu: Franck/Peitz, Market Definition and Market Power (Fn. 6), S. 10 f.

IV. MARKTGRENZEN UND MARKTMACHT DIFFERENZIERTER ERFASSEN 33

1. Zugang zu Daten als Quelle von Innovations-