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21Mal von ihm wiederholt, ggf. gesteigert werden muss

Im Dokument Kennen ja!? – Verstehen mh?! (Seite 21-25)

Das Gespräch wird jetzt nach den Standards der Konfrontativen Gesprächsführung kon-struiert, diese Entschuldigung von Ali wird nicht akzeptiert und der Sachverhalt intensiver hinterfragt:

A: Guten Morgen, Frau Müller! Entschuldigung, ich habe den Bus verpasst. Er ist vor mei-ner Nase weggefahren.

M: Moment, wann musstest du hier sein?

A: Ja, um acht Uhr.

M: Wie spät ist es jetzt?

A: Ja, wie? … Ich weiß nicht.

M: Dann schau mal auf die Uhr.

A: Ja, es ist 8.30 Uhr.

M: Wie oft fährt dein Bus?

A: Ja, ich habe den Bus verpasst.

M: Ich habe dich gefragt, wie oft dein Bus fährt.

A: Der ist vor meiner Nase wegge…

M: Du sollst meine Frage beantworten.

A: Ja, halt in 10 Minuten.

M: Und warum bist du eine ganze halbe Stunde verspätet?

A: Ja, weil ich den Bus verpasst habe.

M: Der Bus fährt alle 10 Minuten, und du bist eine halbe Stunde später dran. Das stimmt also so nicht.

A: Ja, ich habe zu spät das Haus verlassen, und…

M: Beim nächsten Mal verlässt du das Haus rechtzeitig, damit du pünktlich in die Schule kommst. Warum hast du so spät das Haus verlassen?

A: Ja, ich musste frühstücken.

M: Dann musst du früher aufstehen, um zu frühstücken. Dass du zu spät kommst, ist deine Schuld. Daran ist nicht der Bus schuld und auch nicht das Frühstück. Rechtzeitig aufstehen und rechtzeitig das Haus verlassen.

Ali wird höchstwahrscheinlich in einigen Wochen wieder zu spät kommen. Aber er wird die Begründung, dass er den Bus verpasst hat, nicht mehr vorbringen. Er wird sicherlich andere Gründe für seine Verspätung ausmachen und diese auch den Lehrern glaubwürdig zu erklären versuchen. Der Lehrer muss dann erneut die Konfrontation annehmen und nicht nachgeben, weil die Heranwachsenden die Grenzen ausloten wollen. Die Vorteile der Konfrontation in dieser Form können wie folgt zusammengefasst werden:

• Der Heranwachsende lernt unmittelbar, dass er dem Pädagogen nicht willkürlich er-fundene Dinge erzählen kann, weil dieser sie hinterfragt und auf seine Richtigkeit hin überprüft. Das bedeutet, dass der Pädagoge den Heranwachsenden und seine Geschich-te ernst nimmt und nicht oberflächlich abhandelt.

• Der Heranwachsende kann für sein Fehlverhalten nicht dieselbe Begründung anbieten, weil sie bereits widerlegt wurde. Er muss sich etwas Innovativeres überlegen, um den Pädagogen in Verlegenheit zu bringen. Wenn all seine Versuche mit demselben Stil widerlegt oder hinterfragt werden, verliert der Heranwachsende die Motivation und die Energie, um unterschiedliche Entschuldigungen zu suchen: Die logische Konsequenz ist die Pünktlichkeit.

• Diese Vorgehensweise hat einen präventiven Charakter nicht nur für den einzelnen Jugendlichen – hier Ali –, sondern auch für die anderen Heranwachsenden, weil sie pla-stisch miterleben, dass sie mit willkürlichen und erfundenen Begründungen den Lehrer nicht überzeugen können.

3.5. Interpretation des Gesprächsstils

Bei genauer Betrachtung dieses Gesprächsstils sind folgende Bestandteile des Gespräches hervorzuheben:

1. Zielvereinbarung: Unabhängig davon, welche Probleme die Jugendlichen hier haben, möchten die Pädagogen von ihnen nur wissen, warum die Vereinbarungen bzw. die Aufgaben nicht erledigt wurden. Alle „wichtigen“ Nebenfaktoren sind als Hindernis nicht zu akzeptieren. Die Nichteinhaltung der Vereinbarung zieht sich als „roter Faden“

durch das Gespräch.

2. Unnachgiebigkeit: Unabhängig davon, welche Gründe vorliegen, dürfen die Pädagogen nicht nachgeben. Türkische Jungen legen Nachgiebigkeit und Basisdemokratie als Schwä-che aus; das schwächt vor allem die männliSchwä-chen Betreuer. Die bewusste Unter-Druck-Set-zung der Pädagogen seitens der Jugendlichen in unterschiedlichen Feldern hat System.

Die meisten Jugendlichen wissen sehr wohl, wie die Pädagogen „funktionieren“, weil sie

„pädagogen-trainiert“ sind. Die Devise der Jugendlichen heißt: „Ich erzähle ihm meine schlechte und traurige Kindheit, schon habe ich meine Ruhe.“ Gerade der verständnisvolle Ansatz der Pädagogen wird von Jugendlichen missbraucht und gegen sie verwendet, weil den Jugendlichen die kognitiven Hypothesen der Pädagogen vertraut sind.

3. Widerlegen: Alles, was vom Jugendlichen kommt, sollen die Pädagogen gegen ihn verwenden, wie z. B. die Aussage, dass Hakan im Unterricht eine SMS an seine Mutter schreiben muss. Es soll nicht in Frage gestellt werden, dass die Mutter krank ist. Aber der Betreuer konfrontiert ihn sofort damit, seine Mutter wisse sehr genau, dass man im Unterricht nicht das Mobiltelefon benutzen dürfe. Deshalb kann Hakans Mutter von ihrem Sohn keine SMS erwarten.

4. Ständiges Wiederholen: Die Jugendlichen versuchen permanent für ihr Verhalten keine Verantwortung zu übernehmen. Entweder sind die anderen Jugendlichen daran schuld oder aber die Mutter, weil sie krank ist etc. Auf den Jugendlichen müssen die Pädago-gen so lange wiederholend einreden, dass er Pädago-genervt aufgibt, seine Teilverantwortung übernimmt und keine Entschuldigung sucht.

5. Unterbrechen und verunsichern: Wenn die Jugendlichen nicht zum Punkt kommen oder aber bewusst vom Problem ablenken, dann sollen die Betreuer die Jugendlichen unterbrechen und wieder konfrontieren. Das permanente Unterbrechen impliziert die Tatsache, dass der Pädagoge nur an den Fakten interessiert ist, und der Rest für ihn einen sekundären Charakter hat. Dieser Stil trägt dazu bei, dass der Jugendliche die Lust verliert, sein Verhalten schön zu reden bzw. zu rechtfertigen.

6. Keine Einsicht verlangen: Einsicht verlangen ist die beliebteste Form der Pädagogen in Deutschland, wenn ein Konflikt gelöst wird bzw. gelöst werden soll. Auch die Justiz baut auf Reue und Einsicht: So wird z. B. der reuige und einsichtige Angeklagte milder bestraft als der unkooperative. Ziel ist es, dem Jugendlichen bzw. dem Angeklagten vor Augen zu führen, dass er Unrecht getan hat. Einsicht kann aber nicht verlangt werden.

Das ist ein Gefühl, worauf man selbst kommen muss, entweder der Jugendliche ist einsichtig oder aber auch nicht. Die meisten Jugendlichen bzw. Angeklagten zeigen sich einsichtig, weil sie sehr genau wissen, dass sie dann milder bestraft werden. Hier lautet die Vorgehensweise der Jugendlichen6: „Ich erzähle ihm (dem Pädagogen oder dem

Richter), was er hören möchte, dann komme ich hier gut weg!“ 6 vgl. oben „Unnachgiebigkeit“

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3.6. Bedingungen für den Einsatz der Konfrontativen Gesprächsführung

Die Konfrontative Gesprächsführung ist kein Allheilmittel im pädagogischen Setting, sondern eine Ergänzung im Methodenbereich. Sie soll zur Anwendung kommen, flankiert von anderen Maßnahmen, wie z. B. die Stärken des Jugendlichen hervorheben, loben oder sensibel gegenüber seinen persönlichen und sozialen Rahmenbedingungen sein. Denn nur Konfrontation kann bei bestimmten Jugendlichen kontraproduktiv sein, wenn sie nicht an anderer Stelle verarbeitet wird. Folgende Punkte sollten beachtet werden, wenn die Konfrontative Gesprächsführung angewendet werden soll:

1. Fingerspitzengefühl und maßvoller Einsatz: die Beziehungsebene: Nicht für jedes Kind und jeden Jugendlichen ist dieser Stil geeignet. Das Kind bzw. der Jugendliche muss per-sönlich und intellektuell in der Lage sein, die Konfrontation anzunehmen. Bei ruhigen und zurückhaltenden Kindern und Jugendlichen sollte man eher auf die Konfrontation verzichten, bei auffälligen sie aber bewusst einsetzen. Wichtig ist, dass die Konfron-tation erst dann zum Einsatz kommt, wenn der Jugendliche die KonfronKonfron-tation – latent oder bewusst – sucht.

2. Regelbruch: Die Konfrontative Gesprächsführung wird primär eingesetzt, wenn eine Regel oder eine Vereinbarung nicht eingehalten wird. Der Pädagoge konfrontiert den Jugendlichen mit dem Bruch der Regel.

3. Konfliktfall: Dieser Stil wird bei Konfliktlösungsstrategien eingesetzt und die Entschei-dung nicht den Kontrahenten überlassen. Der Pädagoge konfrontiert jeden nur mit seinem eigenen Verhalten. Es geht nicht um die Tatsache, wer Recht hat, sondern um die Übernahme der Teilverantwortung: Denn beide Parteien haben in einer Form zur Eskalierung des Konfliktes beigetragen. Ziel ist es, dass jede Konfliktpartei ihren Anteil der Verantwortung übernimmt.

4. Prävention als Grenzziehung: Bei sehr vielen Jugendlichen ist es pädagogisch legitim, die Konfrontative Gesprächsführung auch ohne Anlass einzusetzen, weil viele türkische Jungen die Konfrontation suchen und die Grenzen der Pädagogen ausloten möchten.

Wird die Grenze sehr früh und konsequent gesetzt, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass es zur Eskalation und Grenzüberschreitung kommt.

3.7. Schlussfolgerungen

Im Folgenden sollen die wichtigsten Ansätze als Schlussfolgerungen dargestellt werden.

1. Kenntnisse der Interkulturellen Kompetenz: Kenntnisse der Interkulturellen Kompetenz in der Sozialen Arbeit gehören zu den wichtigsten Schlüsselkompetenzen überhaupt, wenn man bedenkt, dass beispielsweise ca. 50 Prozent der Teilnehmer in den Aggressivitäts-Trainings einen Migrationsbezug haben. Auch wenn der Jugendliche mit seinem abweichenden Verhalten konfrontiert werden muss, unabhängig davon, aus welchen sozialen und kulturellen Milieus sein Verhalten resultiert, sind die Kenntnisse der Interkulturellen Kompetenz von entscheidender Bedeutung. Denn die Konfron-tation muss in der Realität und in der Lebenswelt der Jugendlichen verlaufen, wenn sie erfolgreich und effizient sein soll. Unüberlegte und von stereotypen Vorurteilen geprägte Konfrontationen, wie z. B. „Alle türkischen Jungen sind Gewalttäter“ oder

„Der Islam erlaubt dir nicht zu schlagen“, können verletzend, kränkend und schließlich

kontraproduktiv sein. Auf die Abwertung der kulturellen Wertvorstellungen reagieren die türkischen Jugendlichen sehr gereizt und fühlen sich nicht verstanden und ernst genommen. Wenn die pädagogischen Fachkräfte die Kenntnisse der kognitiven Hypo-thesen der Zielgruppe erwerben, können sie sicherer und bewusster die Jugendlichen konfrontieren oder an geeigneter Stelle schweigen, um eine Eskalation zu verhindern.

2. Konfrontative Haltung: Der konfrontative Ansatz bzw. die Konfrontative Gesprächsfüh-rung ist kein Allheilmittel im Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Diese Methode ist im Kontext der „Erweiterung bzw. Ergänzung der Methodenvielfalt“ zu sehen.

Die Konfrontative Gesprächsführung ist weder für jeden Jugendlichen noch für jede pädagogische Fachkraft geeignet. Die Pädagogen müssen ihre Haltung in Bezug auf diesen Ansatz überprüfen und ggf. die Haltung der Konfrontativen Gesprächsführung in den Fortbildungen einüben, bevor sie den Ansatz bei den Jugendlichen anwenden.

Die Erfahrungen in den Fortbildungen mit Multiplikatoren zeigen, dass die methodische Umstellung viele Übungseinheiten und zeitliche Ressourcen in Anspruch nimmt.

3. Übertragung auf andere Jugendliche: Es wurde der Versuch unternommen, diese Methode exemplarisch auf die türkischen Jungen zu beziehen. Die Erfahrungen in der Praxis machen hingegen deutlich, dass dieser methodische Stil ohne Abstriche auf deutsche und andere Jugendliche übertragen werden kann. Dieser Stil darf nicht auf den kulturellen Kontext reduziert werden, weil ebenfalls den deutschen und anderen Jugendlichen in bestimmten Kontexten mit der Konfrontativen Gesprächsführung Gren-zen gesetzt werden können. Denn nicht alle deutschen und anderen Jugendlichen sind immer mit dem verständnisvollen Ansatz zu erreichen. Sie suchen die Konfrontation und möchten die Grenzen der Bezugspersonen ausloten.

4. Übertragung auf die Mädchen: Mädchen werden im Zusammenhang von Gewalt, Anti-Aggressivitäts-Trainings oder der Konfrontativen Methode kaum genannt. Der Anteil der Mädchen an den Gewaltdelikten und in den Anti-Aggressivitäts-Trainings beträgt unter zehn Prozent. Sind die Bedingungen der Mädchen und der Jungen gleich – sozial auffällig, sucht die Konfrontation oder verharmlost und rechtfertigt ihr abweichendes Verhalten – ist die Konfrontation ohne Abstriche auf alle Mädchen zu übertragen.

5. Andere Übertragungsfelder: Oben wurden die pädagogischen Felder aufgelistet, in denen die Konfrontative Gesprächsführung angewendet werden kann. Unabhängig von diesen pädagogischen Feldern kann die Konfrontative Gesprächsführung dort einge-setzt werden, wo Heranwachsende und pädagogische Fachkräfte zusammenkommen.

Eine wichtige Einschränkung bzw. Bedingung muss wiederholt erwähnt werden: Der Heranwachsende muss die intellektuelle sowie persönlich-soziale Reife für die Konfron-tation mitbringen.

3.8. Literatur

Dieken van, Christel/Rohrmann, Tim/Sommerfeld, Verena:

Richtig streiten lernen. Neue Wege in der Konfliktbewältigung unter Kindern, Freiburg 2004.

Toprak, Ahmet:

Jungen und Gewalt. Die Anwendung der Konfrontativen Gesprächsführung in der Bera-tungssituation mit türkischen Jugendlichen, Herbolzheim 2005.

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