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Mögliche Einflussfaktoren auf das Verordnungsverhalten der Ärzte

1. Einleitung

1.6 Mögliche Einflussfaktoren auf das Verordnungsverhalten der Ärzte

Zwischen 60% und 75% aller Patientenkontakte führen laut Palmer (1990) in der Allgemein-arztpraxis zur Verordnung eines Arzneimittels. Diese Entscheidung zur Verordnung eines Präparates wird daher offensichtlich weniger von medizinischen Notwendigkeiten, als von sekundären, z.T. krankheitsunabhängigen Faktoren bestimmt. Im englischen Sprachraum werden diese Faktoren auch als „non-pharmacological basis of therapeutics" bezeichnet (Kochen 1988).

Kochen (1994) nennt verschiedene Gründe für die Verordnung von Arzneimitteln in der Allgemeinarztpraxis:

• symptomatische Linderung von Beschwerden,

• Erwartungen des Patienten,

• vom Patienten gewünschte Aufrechterhaltung der „Krankenrolle",

• Beendigung der Konsultation,

• ärztliches Sicherheitsbedürfnis,

• Heilung von Krankheiten.

Die Erwartung des Patienten stellt hierbei einen starken Einflussfaktor dar. So konnten Cockburn und Pit (1997) zeigen, dass Patienten, die eine Verschreibung eines Arzneimittels erwarteten, verglichen mit solchen ohne diese Erwartung eine etwa 3fach erhöhte Wahrscheinlichkeit hatten dieses auch zu erhalten (Odds ratio (OR) 2,9). Sie war sogar etwa um das 10fache erhöht, wenn der behandelnde Arzt vermutete, der Patient erwarte ein Rezept (OR 10,1). Diese Einstellung der Patienten war laut Bradley (1992 a) der stärkste Grund im Rahmen von Medikamentenverordnungen eine Entscheidung zu finden und rangiert deutlich vor der medizinischen Angemessenheit. Offensichtlich besteht hier jedoch eine Diskrepanz bei der

Wahrnehmung der Patientenerwartungen durch die behandelnden Ärzte, wie eine Untersuchung von Himmel et al. (1997) bestätigen konnte. So nahmen Ärzte in dieser Untersuchung die Erwartungen ihrer Patienten nur in 41% der Fälle korrekt wahr. Diese Beobachtungen werden gestützt durch eine Studie aus dem Jahr 2000. Von Ferber (2000) konnte hier bei 635 befragten Patienten zeigen, dass diese in nur 20% der Fälle ein Rezept erwarteten, jedoch zu 55% eines erhielten.

Webb und Loyd (1994) fanden eine deutlich geringere Differenz. In ihrer Untersuchung von 1080 Konsultationen durch 12 Allgemeinärzte erwarteten 51% der Patienten eine Verordnung gegenüber 55% tatsächlicher Verordnungen. Insgesamt besteht bei den behandelnden Ärzten die Neigung die Patientenerwartungen an eine Verschreibung überzuinterpretieren (Britten 1995).

Eine Ursache der fehlenden Kongruenz der Patientenerwartung einerseits und ihrer Wahrnehmung durch den Arzt andererseits ist u.a. ein Kommunikationsdefizit (Britten et al.

2000). So konnten Butler et al. (1998) in einer britischen Studie zeigen, dass nur eine von 21 interviewten Allgemeinärzten die Patienten bezüglich ihrer Erwartungen und Wünsche explizit befragt hatte. Offensichtlich gab es hier auf beiden Seiten eine größere Hemmschwelle. Dabei steht aus Sicht der Patienten das Gespräch mit dem Arzt an erster Stelle der Patientenerwartungen an den Arztbesuch (von Ferber 2000), und zwar noch vor diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen und der allgemeinen Untersuchung. Nach einer Studie von Kravitz et al. (1994) bei 304 ambulanten internistischen Patienten wurde deren Erwartung dadurch am meisten enttäuscht, dass ihre eigene Meinung zur Behandlung zu wenig oder gar nicht diskutiert wurde (38% der Nennungen). Himmel et al. (1997) empfehlen daher, die Betroffenen direkt zu ihren Erwartungen zu befragen. Dieses Vorgehen führte nach ihren Ergebnissen zu keinem Anstieg des Arzneikonsums, da eine gerechtfertigte und begründete Ablehnung eines Arzneiwunsches bei der Mehrheit der Ratsuchenden keine negative Einschätzung des Arztbesuches zur Folge hatte. Ein derartiges Procedere wird jedoch nur von einer Minderheit der Ärzte tatsächlich angewendet, wie in der qualitativen Studie von Butler et al. (1998) mittels Arzt- und Patienteninterviews bei der Behandlung von Halsschmerzen gezeigt wurde. Nur eine Ärztin von 21 Interviewten befragte ihre Patienten selbst nach deren

Erwartungen. Zwei Ärzte bezeichneten dieses Vorgehen sogar als belastend für die Arzt-Patienten-Beziehung.

Neben dem fehlenden Gespräch über die Patientenerwartung ist sicherlich auch eine Diskrepanz in der Begrifflichkeit zu suchen. So wird die Patientenerwartung aus ärztlicher Sicht weiter gefasst im Sinne einer Zufriedenheit mit der Konsultation. In dem Zusammenhang sind u.a.

Aspekte wie die symptomatische Linderung der Beschwerden, das Vermitteln einer

„Ernsthaftigkeit" der Symptome als Bestätigung der Notwendigkeit der Konsultation und das Bedürfnis den Patienten etwas mitzugeben zu nennen (Kochen 1994). Letztlich sind dies Bemühungen, den Patienten an die Praxis zu binden. Zumeist wird dies mit dem Mittel der Arzneiverordnung verknüpft, was sich in der bekannt hohen Rate an Verordnungen widerspiegelt (Himmel et al. 1997).

Die Verordnung von Medikamenten entspricht in diesem Zusammenhang dem einer „Pseudo-plazebo"-Verordnung (Kochen 1994). Hierunter versteht man die Anwendung von Präparaten trotz fehlender, dokumentierter Wirksamkeit, einer annähernden Nebenwirkungsfreiheit sowie einer Kostengünstigkeit des Medikamentes.

Dabei ist wohl vielen Ärzten bewusst, wie zweifelhaft dieses Verordnungsverhalten ist. So zeigte Bradley (1992 b) in einer qualitativen Studie zum Verordnungsverhalten von Allgemeinärzten, dass die Verschreibung von Medikamenten gerade bei der Diagnose eines Atemwegsinfektes mehr als bei anderen Diagnosen zu einem hohen Maß an „Unbehagen" (engl. „discomfort") bei den Ärzten führte. Hierzu trugen vor allem Ängste vor Nebenwirkungen (51,4% Nennungen) und die Kosten (41,4%) bei. Die Zunahme von Antibiotikaresistenzen spielte nur eine untergeordnete Rolle (17,1%).

Die Konzentration der Ärzte auf das Mittel der Arzneiverordnung stellt dabei jedoch eine Reduktion dar, die von Patientenseite keineswegs immer so gewünscht wird. Nach Sanchez-Menegay et. al. (1992) wurde von 237 Patienten mit oberen Atemwegsinfekten am häufigsten als Ziel des Arztbesuches genannt eine Diagnose zu erhalten (57%). Auch in dieser Studie erhielten mehr Patienten eine Medikamentenverordnung als von Patientenseite erwartet.

Sanchez-Menegay et al. (1992) ermittelten ebenfalls, dass die Patientenzufriedenheit mit einem Arztbesuch bei oberen Atemwegsinfekten mit dem Maß an Beruhigung durch den Arzt stärker korrelierte als mit der erhaltenen Medikation. Diesen Sachverhalt fasst Kochen (1994) in dem Satz zusammen, dass Allgemeinärzte bei ihrem Verordnungsverhalten bedenken sollten, dass der häufigste Grund zur Konsultation nicht der Wunsch nach einer Behandlung, sondern nach einer Erklärung der Beschwerden ist.