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Das Lohnende des „Blicks zurück“

Die Beobachtung des Beobachtens

3. Das Lohnende des „Blicks zurück“

Die Beiträge von Horst Siebert im REPORT (Siebert 1991; 1993; 1999 b) geben auch heute noch einen guten Einblick in die Entpuppungsschübe der „Konstruktivistischen Erwachsenenbildung“ (Arnold/Siebert 2004). Bereits in seinem 1991er Beitrag distan-ziert sich Siebert von den überlieferten „objektivistischen“ lerntheoretischen Konzepten unterschiedlicher Provenienz, die einem Input-Output-Schematismus folgen, und stellt diesen eine an der kognitionswissenschaftlichen Konzeption von Francisco Varela (1990) orientierte Interpretation des Lernens gegenüber. Diese bricht konsequent mit

der Abbildungsvorstellung im Lernprozess und rückt die wirklichkeits(er)schaffende, an die biografische Erfahrung des Lernenden stets anschließende, ja durch diese konstitu-ierte kognitiv-emotionale Substanz des Lerngeschehens in den Blick. Lernen erscheint hierdurch als eine zutiefst subjektive Aktivität, deren Funktion nicht in einer Übernahme und Abbildung von Welt besteht, sondern ausschließlich darin, dass sie – wie Varela sagt – „(...) in kreativer Weise eine Welt hervorbringt, für die die einzige Bedeutung die ist, dass sie erfolgreiche Handlungen ermöglicht“ (ebd., S. 110). Für Siebert stellt diese konnektionistische Einsicht Varelas eine erwachsenenpädagogisch hoch anschlussfä-hige Interpretation des Lernens Erwachsener dar, hilft sie doch zu verstehen, wie Er-wachsene das „Netz der Welterkenntnis“ (Siebert 1991, S. 77) stets erneut knüpfen, um in einem „dynamischen, ‚emergenten’, zirkulären Prozess“ (ebd.) beständig ihre eigene Welt fortzuschreiben. Es ist deshalb nicht die „Vermittlung“, sondern subjektive Form der „Welterzeugung“ das, dessen Beobachtung und Analyse uns vertiefte Einblicke in die Logik des Erwachsenenlernens zu erschließen vermag:

Pädagogisch gesehen bedeutet Konnektionismus Anschlusslernen, biographische Synthetisierung neuen Wissens. So wünschenswert solche lebensgeschichtlichen Verknüpfungen sind – selektive Wahrnehmungen werden damit nicht zur Ausnahme, sondern zur Regel. (Ebd., S. 78)

Bereits Anfang der 1990er Jahre sucht Horst Siebert deshalb nach erwachsenen-didaktischen Wegen jenseits der linearen Input-Output-Vorstellungen. Ihn interessiert ein subjektbezogener Ansatz der erwachsenenpädagogischen Lernforschung, der die biographische Spezifität, die hier sichtbar wird, nicht vorschnell in irgendwelchen Verallgemeinerungsformeln auflöst. Das Universalisierbare ist dabei das Nichtuniver-salisierbare bzw. die formalen Mechanismen, aus denen sich die Subjekte ihre jeweils eigene Welt erzeugen und zu spezifischen Ausprägungen gelangen. Erwachsenenbil-dungsforschung ist auf die Rekonstruktion dieses Spezifischen in ihrem Allgemeinen verwiesen, wofür Siebert an anderer Stelle auch praktikable Hinweise für Lehrende in der Erwachsenenbildung entwickelt hat (Arnold/ Siebert/ Krämer-Stürzl 1999). Und die Erwachsenendidaktik bedarf eines situativen Anschlusslernens, welches Lernge-legenheiten durch die Gestaltung von Vielfalt ermöglicht (vgl. Arnold/ Gómez Tutor 2007).

Die frühen Texte von Siebert zeigen zugleich – eher unfreiwillig –, zu welchen Wi-dersprüchlichkeiten uns die Tatsache führt, dass wir die konstruktivistischen Selbst-bezüglichkeiten in einer Sprache ausdrücken müssen, die selbst von einer Subjekt-Objekt-Trennung durchdrungen ist. So fragt er nach den Gefahren eines „selektiven Lernens“ (ebd., S. 78) – wissend, dass man nicht nicht „selektiv“ lernen kann –, erkennt diese dann allerdings in „Wirklichkeitsverzerrungen“, einem möglichen „Realitäts-verlust“ sowie in den Formen eines selbstbestätigenden „Dogmatismus“ bzw. einer entsprechenden „Rigidität“ (ebd., S. 79). Zwar erweckt die Rede von der Gefahr der

„Wirklichkeitsverzerrung“ den Eindruck, dass es eine Wirklichkeit gäbe, mit der man die eigene Konstruktion derselben vergleichen könne, was der Konstruktivismus doch zugleich verneint, doch ist dies nicht der eigentliche Inhalt des Siebertschen Arguments.

Ihm geht es um die – fast spielerische – Balance zwischen Offenheit und

Deutungs-flexibilität einerseits und die Klarheit und biografische Kontinuität andererseits. Diese Balance ist für Lehrende und Lernende gleichermaßen grundlegend. Es ist gerade dieser schwebende Zustand des Umgangs mit Wirklichkeitskonstruktionen, dessen Wirkungszusammenhänge in uns und zwischen uns in den Lernprozessen selbst zum Bewusstsein gebracht werden können. Eine solche konstruktivistische Erwachsenen-bildung impliziert Selbstreflexion, d. h.

(...) die Einsicht in die eigenen Wahrnehmungs-, Gefühls- und Denkvorgänge, aber auch die Erkenntnis, dass und warum andere anderes denken und wahrnehmen, und somit eine erwei-terte Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Eine solche Sensibilisierung läßt sich durchaus als Schlüsselqualifikation definieren und auch didaktisieren. (Ebd., S. 80)

Wegweisend sind auch die professionstheoretischen Anregungen, die Siebert aus sei-nen konstruktivistischen Überlegungen ableitet. In einem ermöglichungsdidaktischen Gestus fordert er die Einsicht,

(...) dass nicht wir andere Menschen ‚bilden’ können, sondern dass jede/r für seine/ihre Bildung selber verantwortlich ist. (...) Insofern muss Bildungsarbeit immer beides zugleich sein: bedürfnis-orientiert und gegensteuernd.“ (Ebd., S. 81)

Mit diesen Hinweisen hat Siebert bereits 1991 die neuere kompetenztheoretische Debatte vorweggenommen, welche zunehmend der Frage nach den übergreifenden Gestaltungs- und Regulierungskompetenzen für den Umgang mit den unsicheren und komplexen Lebenslagen der Postmoderne gewidmet ist. Dieser Gedanke wird auch in dem 1993er Text aufgegriffen und auch professionstheoretisch entfächert. Siebert erkennt in der Erwachsenenbildungspraxis „kein unverwechselbares Berufsbild mehr“

(Siebert 1993, S. 58), welches eine gesellschaftlich anerkannte Berufsidentität zu stiften vermag. Die Trends der postmodernen Erwachsenenbildung der 1990er Jahre sind nicht auf Einheit, sondern auf Entstrukturierung, Diversivität, Kontingenz und Pluralität sowie auch auf einen Abschied von der „Überlegenheit wissenschaftlichen Wissens“

(ebd., S. 59) bezogen. Die Rede ist nicht mehr von Bildung, sondern von Kompetenz bzw. Kompetenzentwicklung, welche sich am besten selbstgesteuert und marktver-mittelt herausbilden kann. Dieser Paradigmenwechsel verändert die traditionellen erwachsenenpädagogischen Perspektiven grundlegend, und auch die ostdeutschen Erwachsenenbildungsansätze haben diesem neuen Paradigma nicht wirklich etwas entgegenzusetzen.

Doch Siebert ist selbstkritisch: Er fragt sich – bereits ganz im Sinne einer „selbstein-schließenden Reflexion“ (Varela u. a. 1992) welcher eigenen biografischen Prägung sich seine Beobachtung und Beurteilung der historischen Erwachsenenbildungsent-wicklung verdankt:

„Um Zusammenhänge und wenn schon keine Gesetzmäßigkeiten, so doch zumindest Trends zu erkennen, benötigt man zeitliche, räumliche und auch emotionale Distanz, sonst erkennt man den Wald vor lauter Bäumen nicht. (...) Erkennen, auch Geschichtsschreibung ist somit untrennbar mit der Lebensgeschichte des Betrachters verknüpft“ (Siebert 1993, S. 60f).

Wie zum Beleg seiner konstruktivistischen „Zweifel an der Objektivität der Historio-graphie“ (ebd., S. 60) greift Siebert in diesem Zusammenhang wieder auf Francisco Varela zurück, dem zufolge die „kognitive(n) Fähigkeiten untrennbar mit einer Le-bensgeschichte verflochten sind, wie ein Weg, der als solcher nicht existiert, sondern durch den Prozess des Gehens erst entsteht“ (Varela 1990, S. 61). Es ist dieser Viabili-tätsgedanke, an dem sich die Kritik am Konstruktivismus festmacht; liegt diesem doch auch eine Aufweichung der Subjekt-Objekttrennung zugrunde, über die die neuere Philosophie erst angefangen hat nachzudenken und es dabei u. a. mit der Schwierigkeit zu tun hat, dass auch der erkennenden Status des Subjektes, welches sich selbst als Ur-heber bzw. deutender Erbauer seiner Welt zu sehen lernt, zugleich sich selbst verlustig zu gehen droht. Wie ist Erwachsenenbildung ohne eine klare Konzeption von Selbst, Identität und Bewusstsein und Erkennen möglich? - so lautet die grundlagentheoretische Frage. Doch auch der Bezug zu den vielfach nötigenden Kräften von Geschichte und Gesellschaft muss neu gedacht werden, wenn es stimmt, „(...) dass unser Gehirn nicht eine vorhandene Wirklichkeit abbildet, sondern eine eigene Wirklichkeit erzeugt, die uns individuell lebensfähig macht“ (Siebert 1993, S. 61). Wie sickert in diese Wirk-lichkeitserzeugung milieutypische Sichtweise und sozialisatorische Prägung ein? Gibt es etwas Typisches in den individuellen Konstrukten, und welcher Beobachter kann dieses mit Hilfe welcher Unterscheidungen beobachten?