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DAS GENRE SCIENCE FICTION

Science Fiction („Wissenschafts-Erdichtung“) ist eine Literaturgattung, die die Auswirkungen neuer (vermute- ter) wissenschaftlicher Entdeckungen für das menschliche Dasein und Zusammenleben darzustellen versucht.

„Dabei werden in Gedankenexperimenten und in schreck-enden bzw. schockierschreck-enden Darstellungen von ‚Über-menschen’, ‚Robotern’ und außerweltlichen Befehlszentra- len sowohl das zukünftige Verhältnis des Menschen zu der immer weiter fortschreitenden, sich verselbständigenden und ihn u.U. bedrohenden Technik als auch Möglichkeiten des Einsatzes natur- und sozialwissenschaftlicher Technologien für die Entfaltung und Sicherung neuer Gesellschafts- und Herrschaftsverhältnisse ‚durchge- spielt’.74

In seinem 1757 erstmals veröffentlichten Werk „Vom Erhabenen und Schönen“ schreibt Edmund Burke:

„Alles, was auf irgendeine Weise geeignet ist, die Ideen von Schmerz und Gefahr zu erregen, das heißt alles, was irgendwie schrecklich ist oder mit schrecklichen Objekten in Beziehung steht oder in einer dem Schrecken ähnlichen Weise wirkt, ist eine Quelle des Erhabenen75; das heißt, es ist dasjenige, was die stärkste Bewegung hervorbringt, die zu fühlen das Gemüt fähig ist.76

Für den SF-Autor Brian W. Aldiss ist SF die

„[…] Variation der ‚gotischen’ Schauergeschichten auf eine Weise, die erlaubt, jene Ängste auszudrücken, die aus dem Fortschritt und der technologischen Fortentwicklung hervorgehen und die gleichzeitig zu den

74 Karl-Heinz Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1994, S. 766-767.

75 Hervorhebung im Original.

76 Edmund Burke, Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, Hamburg 1989,

S. 72.

Hauptmerkmalen eben dieses Fortschritts gehören. Die Renaissance-Gemäuer verwandelten sich in unterirdische Kampfzentralen, Mondfestungen [usw.][…]“.77

In seiner (nicht unumstrittenen) Historiographie der SF verortet Aldiss ihren Beginn im 1818 erschienen Roman

„Frankenstein: oder, Der neue Prometheus“ von Mary Shelley. Victor Frankenstein entscheidet sich gegen die Alchemie (die Vergangenheit) und für die Wissenschaft (die Zukunft) — und wird dafür mit seinem furchtbaren Erfolg belohnt. Mit ihrer Kombination aus neuen wissen- schaftlichen Ideen und sozialer Kritik (aus Vorurteil und purer Bosheit wenden sich alle gegen das Monster) zeichnet Shelley ein Bild ihrer eigenen Epoche und nimmt gleichzeitig die Methoden der Scientific Romances vorweg.78 79 Aldiss verortet also den Ursprung der Science Fiction in der Kombination aus Industrieller Revolution und der gotischen Schauergeschichte (ihrerseits ein Kind der Romantik). „Die ‚Gotik’ beschwört wie die Science Fiction das Ferne und Unirdische.“80 „[…] Schrecken, Geheimnisse und das entzückte Schaudern, Topos der

‚Gothic Novel’ haben sich bis heute in der Science Fiction gehalten.“81 Auf die klassischen Attribute des Schauerromans (düstere Verliese, Spukschlösser, Geister) verzichtete Shelley, das ganze phantastische Geschehen spielt sich in einem realistischen Rahmen ab.82

77 Brian W. Aldiss, Der Millionen-Jahre-Traum, Die Geschichte der Science Fiction, Bergisch Gladbach 1980, S. 85-86.

78 Das Faustische Thema wird auf den Stand der Zeit gebracht:

Die Wissenschaft nimmt jetzt den Platz der übernatürlichen Kräfte ein. Die Saat für Schöpfungen wie Klone, Mutanten und Roboter ist gelegt. Vgl. ebda.

79 Vgl. Aldiss, Der-Millionen-Jahre-Traum, a.a.O., S. 42-47.

80 Marcel Feige, Science Fiction, Hamburg 2001, S. 16.

81 Ebda., S. 16-17.

82 Vgl. Karin Priester, Mary Shelley, Die Frau, die

Frankenstein erfand, Biographie, München 2001, S. 122.

Am Beispiel von „Krieg der Welten“ beschreibt Aldiss die drei Prinzipien, die H.G. Wells anwandte: (1) eine Beschreibung seiner eigenen Zeit, die für den damaligen Leser gut wieder zu erkennen ist, dadurch wird die Wahrscheinlichkeit von dem, was dann folgt, anerkannt;

(2) die Berücksichtigung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse (Evolutionstheorie, Mikroorganismen); (3) Kritik an der (britischen) Gesellschaft, an der Menschheit i.A.83

Definitionen über SF gibt es so viele, wie es Personen gibt, die sich darin versucht haben.

Stellvertretend für viele andere: 1972 definierte Darko Suvin die SF

„[…] als literarische Gattung, deren notwendige und ausreichende Bedingungen im Vorhandensein und Zusammenspiel von Entfremdung und Erkenntnis und deren hauptsächlicher formeller Kunstgriff in einem einfallsreichen Grundgerüst alternativ zur empirisch fassbaren Umwelt des Autors besteht“.84

Unter „Erkenntnis“ versteht Suvin das rationale Verstehen und unter „Entfremdung“ das „Novum“, etwas Neues, der Unterschied zwischen der fiktiven und der wirklichen Welt. Peter Nicholls weist darauf hin, dass SF sich an die Naturgesetze halten muss, während es der Fantasy gestattet ist, diese außer Kraft zu setzen. Im Gegensatz zu Suvin betont John Clute, dass SF genau das Gegenteil von Verfremdung erreichen will: Das Unglaubliche und Unmögliche soll plausibel erscheinen.85

Was SF freilich immer ist: eine Verkaufskategorie.

Von Verlagen bewusst verwendet - oder eben nicht. Von

83 Vgl. Aldiss, Der-Millionen-Jahre-Traum, a.a.O., S. 167-168.

84 Darko Suvin, zit. nach Brian Stableford/John Clute/Peter Nicholls, Die Definition der Science Fiction. In:

The Encyclopedia of Science Fiction. In: Epilog – Medien, Kultur, Geschichte, Technik und mehr. Internet:

http://www.epilog.de/Lexikon/S/Science_Fiction.htm (zuletzt abgefragt am 4.2.2009)

85 Vgl. ebda.

manchen Autoren (Kurt Vonnegut) als Etikett abgelehnt.

SF verkauft sich manchmal ganz ordentlich (aktuell:

Sergej W. Luk’janenko), aber die ach so heiß ersehnten

„Bestseller“ werden aus anderen Genres rekrutiert.

Es ist hier nicht der Platz, die „klassischen“

„Meilensteine“ der Entwicklung/Geschichte dieses Genres, die häufig verwendeten Motive, die immer wiederkehrenden Themen oder die Untergattungen von SF zu erläutern, daher verweise ich auf die umfangreiche Literatur hierzu.86

Kritisches zum Abschluss dieses Kapitels: Die

„Gegenwart der Zukunft“ gibt leider keinen Anlass zu Jubelgeschrei, meint Dietmar Dath, denn „[…] der Geist des ganzen Unternehmens aber, das seit Verne und Wells schon ein paar Namen hatte, bis Hugo Gernsback es

‚Science Fiction’ taufte, atmet nur noch flatternd und flach“.87 Die Gegenwart sei nicht mehr kohärent genug, um daraus eine Zukunft zu extrapolieren. Ständig werden neue Subströmungen wie „New Weird“ oder „New Hard SF“

erfunden und verschlissen; die (derzeit erfolgreichen) Space Operas à la Dan Simmons und Alastair Reynolds

„gehören aufs tote Gleis der Gattung, sprich: ins Kino

86 Vgl. Aldiss, Der-Millionen-Jahres-Traum, a.a.O.

John Clute, Sciene Fiction, SF, Die illustrierte

Enzyklopädie, München 1996. Feige, Science Fiction, a.a.O.

Edward James, Science Fiction in the Twentieth Century, Oxford 1994. David Pringle, Das ultimative Science Fiction- Lexikon, Stories, Filme, Fernsehserien, Biografien, Helden und Bösewichter, Magazine, Augsburg 1997. Adam Roberts, Science Fiction, London 2000. Ulrich Suerbaum/Ulrich Broich /Raimund Borgmeier, Science Fiction, Theorie und Geschich- te, Themen und Typen, Form und Weltbild, Stuttgart 1981.

Thomas P. Weber, Science Fiction, Frankfurt am Main 2005.

87 Dietmar Dath, Gegenwart der Zukunft – Die Kultur der

Science Fiction erlebt eine bedeutsame Krise. In: „Frank- furter Allgemeine Zeitung“, Nr. 192 (19.8.2004), S. 33.

Internet:

http://www.faz.net/s/Rub1DA1FB848C1E44858CB87A0FE6AD1B68/

Doc~EDAE52E4F11C844139932B315CD3BA241~ATpl~Ecommon~

Scontent.html (zuletzt abgefragt am 5.2.2009)

oder ins Fernsehen“.88 Die Kurzgeschichte, die „Urform“

der SF, „in der eine einzelne spekulative Idee ihre literarische Nagelprobe bestehen muss“ ist in schwerster Bedrängnis:89 Für das Genre wichtige Zeitschriften wie

„Analog“, „Interzone“ „Asimov’s Science Fiction“ und

„Magazine of Fantasy & Science Fiction“ sind in kommerziellen Nöten.

88 Ebda.

89 Ebda.