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Kapitel I: Ausgangspunkt

B. Abriss der Forschungsgeschichte seit 1930

10. Lieselotte Mattern

L. Mattern hat 1966 im zweiten Hauptteil ihrer Dissertation Das Verständ-nis des Gerichtes bei Paulus alle wesentlichen Texte untersucht, die vom Gericht über Christen sprechen. Sie kommt zum Ergebnis, dass man zwei Gerichte unterscheiden müsse: 1. das „Vernichtungsgericht“ über die Un-gläubigen; von diesem Gericht seien die Christen durch die Rechtfertigung sola gratia und sola fide frei, trotz ihrer Sünden (97.110 f.) – sofern sie

„Christen geblieben sind“ (139); 2. das Gericht „über das unterschiedlich gute Werk des Christen“. Bei den paulinischen Aussagen über Letzteres

„fehlen die Termini ‚gerecht‘, ‚ungerecht‘, ‚Heil‘, ‚Vernichtung‘“ (139), es

„erscheint … nie der Begriff Sünde“ (192). Der Christ sei verantwortlich, immer mehr zu lieben, zu hoffen und zu glauben (211), es gebe „so etwas wie ein mehr oder weniger an Christsein“ (194). Darüber werde im Gericht über die Christen befunden. Jedes „Verdienstdenken und jegliche Lohn-spekulation [sind aber] verwehrt“, weil erst Gott im Gericht souverän richten werde (192); es gehe bei den paulinischen Lohnaussagen „nicht um Jenseitsspekulation, nicht um Plätze im Himmel, sondern darum, dass der Christ seinen Dienst vor Gott verantwortet“ (193). Wann dieses Gericht nach Paulus stattfindet – ob im Zusammenhang mit dem Jüngsten Gericht oder nicht –, lässt Mattern offen (211 f.).

Matterns Arbeit ist vor allem wichtig wegen der Unterscheidung von Rettung/Rechtfertigung und (gestuftem) Lohn und wegen ihres Hinweises auf die Korrelation von Liebeshandeln und Lohn bei Paulus. Ob man im Blick auf die Liebe allerdings von einem „mehr oder weniger an Christ-sein“ sprechen kann, ist doch fraglich. Weiter ist zu fragen, ob Paulus tatsächlich nicht auf Lohn gehofft, „spekuliert“ hat; Matterns Auslegung wirkt wie eine anachronistische Eintragung des kategorischen Imperativs bei Paulus. Auch Matterns Ansicht, der Heilsverlust habe bei Paulus immer ausschließlich mit der Grenze zwischen „Christsein oder Nichtchristsein“

zu tun, nie mit Sünde,52 muss im Blick auf Texte wie 1Kor 6,9 f. und Gal 5,19–21 korrigiert werden, die doch auch als Warnung an Christen fun-gieren (bes. 1Kor 6,9 f.) und nicht nur besagen: „Würden die Christen die Laster und nicht die ‚Tugenden‘ tun, dann wären sie keine Christen.“53 11. Calvin J. Roetzel

Ähnlich wie kurz nach ihm Ernst Synofzik (s. u. Abschn. 13) hat sich C. Roetzel in seiner Arbeit Judgement in the Community (1972) auf die kontextuelle Funktion von Gerichtsaussagen bei Paulus konzentriert. Er stellt fest, dass die paulinischen Gerichtsaussagen kaum im Kontext von

52 So z. B. MATTERN, Verständnis des Gerichtes 115.

53 So MATTERN, Verständnis des Gerichtes 133.

Aussagen über die Rechtfertigung oder den Glauben zu finden sind (177).

Vielmehr sieht Roetzel die Relevanz der Thematik „Gericht“ in zwei Zu-sammenhängen (112–176): im Gericht, das die Kirche jetzt schon ausübt (z. B. Röm 14,1–23; 1Kor 5; 6,1–11), um ihre eigene Reinheit und damit ihr eschatologisches Heil zu sichern, und im Gericht über die Kirche (z. B.

1Kor 3,10–17; 11,27–34; 16,22; 2Kor 5,9 f.). Dass die Perspektive von Gericht und Heil Einzelner bei Roetzel völlig ausgeblendet ist, hängt mit seiner Voraussetzung zusammen, „that the major thrust of Paul’s theology is corporate rather than individualistic“ (10).

Während Roetzel wichtige Beobachtungen zum Verhältnis von gegen-wärtigem und zukünftigem Gericht macht, bleibt sein Ergebnis durch die ausschließliche Konzentration auf Texte, die von der Gemeinde sprechen, und durch seinen rein korporativen Ansatz einseitig.

12. Karl P. Donfried

K. Donfried unterscheidet in seinem Aufsatz „Justification and Last Judg-ment in Paul“ (1976) zwischen „justification“ als Beginn des Christseins,

„sanctification“ als gegenwärtigem Weg der Christen und „salvation“ als endgültigem Empfang des Heils im Endgericht (102). Die endgültige Ret-tung richte sich nicht danach, „how many good works man has performed“, sondern nach dem Kriterium, „whether man has held fast and remained obedient to his new life in Christ“ (ebd.). Donfried unterscheidet von daher vier Kategorien von Gerichtstexten: 1. das universale Gericht, 2. das Gericht über gehorsam gebliebene Christen, 3. das Gericht über das Werk der Missionare, 4. das Gericht über ungehorsam gewordene Christen (103).

Dabei betont Donfried besonders, dass es paulinische Texte gebe, die vom drohenden Abfall von Christen und vom Vernichtungsgericht über abgefal-lene Christen sprächen (vor allem 100.106–110).

E. Synofzik kritisiert mit Recht, dass sich Donfrieds Unterscheidung von

„Rechtfertigung“ und „Rettung“ an den Texten lexikalisch nicht bestätigt.54 Trotz einiger problematischer Exegesen im Einzelnen55 weist Donfrieds Hinweis auf die Texte, die von der Möglichkeit eines Abfalls von Christen sprechen, über Matterns Arbeit hinaus und stellt die Frage nach der Per-severanz der Glaubenden und dem Maßstab des Gerichts über sie.

13. Ernst Synofzik

1977 erschien E. Synofziks Dissertation Die Gerichts- und Vergeltungs-aussagen bei Paulus. Hier werden die GerichtsVergeltungs-aussagen „konsequent unter formgeschichtlicher Fragestellung“ untersucht: „einerseits wird das

54 SYNOFZIK, Gerichts- und Vergeltungsaussagen 153.

55 Vgl. SYNOFZIK, Gerichts- und Vergeltungsaussagen 153 f.

paulinische [= urchristliche] Vorstellungs- und Begriffsmaterial heraus-gearbeitet, andererseits wird gezeigt, wie Paulus dieses Material im Zusammenhang seiner Briefe rezipiert hat“ (5). Synofzik kommt zum Ergebnis, dass die Gerichtsaussagen bei Paulus vielfach zueinander in Spannung stünden. Er erklärt dies damit, dass das Gericht nie eigenständig Thema sei, sondern dass Paulus „den Gerichts- und Vergeltungsgedanken ausschließlich als Mittel für seine auf ein ganz anderes Ziel gerichtete Argumentation einsetzt“ (105). Bei der „Begründung der Paränese“ sei der Gerichtsgedanke nur „eine Möglichkeit unter vielen“ (107). Lediglich in der paulinischen Rechtfertigungslehre gewinne die Gerichtserwartung eine notwendige Funktion: „Die Rechtfertigung … wird von Paulus als ein fo-rensisches Geschehen verstanden. … Die Rechtfertigungsaussagen wider-sprechen … nicht den Gerichtsaussagen, sondern setzen diese voraus.

Rechtfertigung aufgrund des Glaubens und der Gnade und Gericht nach den Werken bilden für Paulus einen in sich einheitlichen Gedanken.“ (108) Matterns Unterscheidung verschiedener Gerichte lehnt Synofzik jedoch ab;

durch die Annahme eines Lohn- und Strafgerichts für Christen gebe Mat-tern „[d]e facto … die iustificatio impii sola gratia auf “ (11); eine ähnliche Kritik trifft Donfried: Dieser vermeide nicht „die Gefahr eines synergisti-schen Heilsverständnisses“ (152).

Synofziks Arbeit ist besonders für die Diskussion über das Verhältnis von Rechtfertigung und Endgericht wichtig, indem sie herausstellt, dass die paulinischen Rechtfertigungsaussagen im Horizont der Gerichtserwartung stehen und nur in ihrer Bezogenheit auf das Endgericht adäquat verstanden werden können. E. Brandenburger kritisiert an Synofziks Arbeit mit Recht, dass hier „ein zu enger Begriff von Traditionsgeschichte vorausgesetzt (wird), der diese erst ab dem urchristlichen Kerygma beginnen läßt“;56 dadurch ist Synofzik zu stark auf die (oft sehr hypothetische) Unterschei-dung von Tradition und Redaktion konzentriert. Für ihn repräsentiert nur die paulinische Redaktion die eigene Position des Paulus (106); damit setzt er in fragwürdiger Weise voraus, dass Paulus sich die rezipierte Tradition nicht zu eigen mache. Warum sonst sollte er sie aber zitieren, wenn nicht deshalb, weil sie mit seiner Position übereinstimmt? Dass der Gerichts-gedanke für Paulus „kein selbständiges Thema“ sei (107), wird schon dadurch widerlegt, dass die Lehre über das Endgericht bei Paulus ein wesentlicher Bestandteil der gemeindegründenden Anfangskatechese ist (1Thess 1,9 f.). Dass das Gericht in den ausführlicheren eschatologischen Passagen nicht vorkommt, heißt noch lange nicht, dass für Paulus der

„Gegenstand der eschatologischen Hoffnung … in erster Linie die … Auferstehung der Christen“ gewesen sei (107); die uns erhaltenen Briefe bieten nur einen situationsbezogenen und damit zufälligen Ausschnitt aus

56 BRANDENBURGER, „Gerichtskonzeptionen“ 303 Anm. 26.

der Lehre des Paulus, und insbesondere die Bezogenheit der Rechtferti-gungsaussagen auf das Endgericht zeigt, dass für Paulus das Endgericht theologisch wesentlich war. Für den fragmentarischen Charakter der pauli-nischen Gerichtsaussagen gibt es noch einen weiteren Grund: „Gerade weil das Urchristentum bei seinen Gerichtskonzeptionen sich so stark im Rah-men traditioneller AusdrucksforRah-men bewegt, genügten szenische Andeutun-gen, kennzeichnende Stichwörter und theologisch geprägte Gerichtstermi-nologie. Die Codewörter waren bekannt“.57 Schließlich hat Synofziks Ab-lehnung eines speziellen (Lohn- und Straf-)Gerichts für die Christen pauli-nische Texte wie 2Kor 5,10; 1Kor 3,5–15 gegen sich.

14. Roman Heiligenthal

R. Heiligenthal geht in seiner 1983 erschienenen Dissertation Werke als Zeichen der Zeichenfunktion menschlicher Werke in der Gemeinde, gegen-über ihrer Umwelt und gegengegen-über Gott nach. Es geht ihm vor allem darum nachzuweisen, dass die menschlichen Werke nach dem Neuen Testament nicht, wie es in der Bultmannschule gesehen wurde, „als Zeichen mensch-licher Selbstrechtfertigung“ zu verstehen sind (315). Im Abschnitt „Die Funktion der Werke im Verhältnis des Menschen zu Gott“ untersucht er vor allem die Frage „Werke und Vergeltung“ (143–278). Die im Gericht offen-bar werdenden Werke seien nach Paulus „als Zeichen für die … ‚innere‘

Wirklichkeit des Menschen anzusehen“ (195); diese „‚innere‘ Wirklichkeit ist durch die Rechtfertigung für den Christen bereits grundlegend verän-dert“ (196). Die Werke des Christen „zeugen nun von der real vollzogenen neuen inneren Wirklichkeit des Glaubenden und sind in dieser Funktion auch dem Gericht unterworfen. … Grundsätzlich steht der gerechtfertigte Christ … bereits jetzt vollständig gerechtfertigt da – und zwar auch, was die Dimension seines Handelns betrifft. … Paulus ist darin zuversichtlich, daß die Christen den Anforderungen des Richters werden entsprechen können.“ (197) Nach 1Kor 3,5–17 habe der „christliche[…] Sünder“ zwar nicht mit „dem vernichtenden Zorn Gottes“, wohl aber mit „Bestrafung“ zu rechnen; nur der, der gegen die Gemeinde, d. h. deren Einheit, und somit gegen den Heiligen Geist selbst sündigt, könne „unter das vernichtende Urteil Gottes fallen“ (217).

Heiligenthal zeigt überzeugend auf, dass für Paulus die menschlichen Werke nicht nur negative Zeichen der Selbstrechtfertigung sind. Auch Hei-ligenthals differenzierter Bezug von 1. Korinther 3 auf die Frage nach dem Gericht über alle Christen ist bedenkenswert. Den Texten nicht angemessen ist hingegen seine die Notwendigkeit der Paränese ausklammernde Sicht eines Automatismus von Rechtfertigung und gerechtem Lebenswandel und

57 BRANDENBURGER, „Gerichtskonzeptionen“ 290.

folglich auch seine – ausdrücklich mit Braun übereinstimmende – Sicht der Endrechtfertigung der Christen aufgrund ihrer dem Richter genügenden Werke.

15. Egon Brandenburger

E. Brandenburger vermisst in seinem Aufsatz „Gerichtskonzeptionen im Urchristentum und ihre Voraussetzungen“ (1989) eine Monografie zum Thema „Gericht im Neuen Testament“ (302). Er will eine solche durch seine „Problemstudie“58 vorbereiten, indem er fünf semantisch und funk-tional unterscheidbare „Gerichtskonzeptionen“ herausarbeitet (306 ff.):59 1. der kommende Zorn Gottes, 2. das Erlösungs- und Heilsgericht, 3. das Vernichtungsgericht, 4. das Gerichtsforum vor dem Thron Gottes, 5. das universale Weltgericht.

Mit M. Klinghardt ist an dieser Unterscheidung zu kritisieren, „daß diese Vorstellungen ganz offensichtlich völlig problemlos nebeneinander ver-wendet werden konnten“.60 Zudem ist schon vom alttestamentlich-frühjüdischen Verständnis des Gerichts als Mittel zur Durchsetzung der göttlichen, heilsamen Wohlordnung in der Welt her eine solche Differen-zierung verschiedener Gerichtstypen verwehrt.61 Wichtig bleibt an Bran-denburgers Untersuchung, dass sie den ganzen Begriffs- und Bildreichtum der neutestamentlichen Gerichtsaussagen sowie ihre Verwurzelung im Alten Testament und Frühjudentum eindrücklich herausarbeitet.

16. Judith M. Gundry Volf

1990 erschien J. Gundry Volfs Dissertation Paul and Perseverance: Stay-ing in and FallStay-ing Away. Hier werden die paulinischen Passagen analysiert, die mit dem Problem der Perseveranz der Christen im Heil zu tun haben.

Gundry Volf geht dabei von den Aussagen über Gottes Treue und über die Gewissheit des Heils aus; diese sind für sie eigentliche Rede (9–82). Von ihnen her interpretiert sie die Texte, die von einem Abfall der Glaubenden in den Ungehorsam oder den Unglauben und von ihrer Verdammnis zu sprechen scheinen, als uneigentliche Rede (83–229). Gundry Volf verneint, dass Paulus mit der Möglichkeit des Abfalls und der Verurteilung von Christen gerechnet habe: „We have uncovered clear and abundant evidence that for Paul sure continuity characterizes the salvation of individual

58 So der Untertitel.

59 Vgl. auch BRANDENBURGERs Artikel „Gericht Gottes“, in dem er die Unterschei-dung dieser „Gerichtskonzeptionen“ schon voraussetzt, sie aber nicht diskutiert (vgl. z. B.

Abschn. 4.1.5, S. 475 f.).

60 KLINGHARDT, „Sünde und Gericht“ 71.

61 Siehe C. STETTLER, Das letzte Gericht.

believers“, und zwar garantiert durch „the repeated intervention of God in human lives“ (283).62

Gundry Volfs Werk ist wichtig als bisher einzige gründliche exegetische Arbeit zum Thema Perseveranz bei Paulus. Leider wird sie in der Exegese der Stellen, die vom Abfall und der Verurteilung von Christen sprechen, der Anstößigkeit der Texte nicht gerecht, sondern zähmt sie von einer Dog-matik her, die von der Unmöglichkeit des Heilsverlusts ausgeht.63

17.David W. Kuck

In seiner Studie Judgment and Community Conflict von 1992 konzentriert sich D. Kuck auf 1Kor 3,5–4,5. Er legt den Schwerpunkt seiner Analyse auf die situative Funktion der Gerichtsaussagen dieses Abschnitts. Diese sieht er darin, dass Paulus die Korinther dazu bringen will, ihr Streben nach gegenwärtigem Status aufzugeben und die Erfüllung ihrer Status- und Anerkennungssuche von der künftigen Belohnung im Endgericht zu erwar-ten. Aufgrund ihres Kommentarcharakters haben wir uns mit dieser Aus-legung im Rahmen der Behandlung von 1. Korinther 3 auseinanderzusetzen (s. u. Kap. IV.B).

18.Matthias Klinghardt

1997 erschien ein Aufsatz von M. Klinghardt über „Sünde und Gericht von Christen bei Paulus“. Klinghardt rollt darin das alte Problem des Verhält-nisses von Gericht nach den Werken und Rechtfertigung aus Glauben neu auf. Im Unterschied zu bisherigen Untersuchungen setzt er nicht bei den Rechtfertigungsaussagen ein, sondern bei den Stellen, „die einen ein-deutigen Zusammenhang zwischen Verfehlungen von Christen und ihrem Gerichtetwerden herstellen“ (59): In 1Kor 3,5–15 gehe es um die „Erpro-bung (nicht: Läuterung!) der Werke“ (61); in 1Kor 5,1–5 sei die Übergabe an Satan eine „Strafe“ des Übeltäters, „sie … verbürgt seine Rettung im Endgericht“ (63); ebenfalls von einer „zeitlichen Strafe zum Zweck ewiger Rettung“ spreche 1Kor 11,28 ff. (ebd.). Schon in den alttestamentlichen Spätschriften finde sich das Konzept einer „Züchtigung in der Zeit“, die

„vom Endgericht unterschieden werden kann“ (67); diese Züchtigung sei für das erwählte Israel reserviert, das somit die Möglichkeit erhalte, seine

62 JUDITH GUNDRY VOLF stimmt damit einer Studie ihres Vaters zu (R. H. GUNDRY,

„Grace“) und widerspricht nicht nur DONFRIED (s. o.), sondern auch MARSHALL, Kept by the Power of God, und vor allem SANDERS, Paul and Palestinian Judaism, z. B. 515–

518.543; DERS., Paul, the Law, and the Jewish People 105–113.

63 MARSHALL, Kept by the Power of God, ist hier weniger dogmatisch voreingenom-men. Vgl. VANLANDINGHAMs Kritik an Gundry Volfs Arbeit: „Her investigation is im-properly guided by a few key passages that serve as heuristic templates against which she excludes everything else“ (Judgment 186).

Sünden innergeschichtlich abzubüßen, um nicht wie die Völker im End-gericht verurteilt zu werden (68 f.). Nach Klinghardt unterscheidet Paulus genauso diese beiden Gerichtsweisen Gottes: Gott richtet sein erwähltes Volk (nun die Christen und Israel gleichermaßen) innergeschichtlich, um es im Endgericht zu retten. Maßgeblich sei also die Erwählung, aufgrund derer nicht alle Menschen „in derselben Weise gerichtet … werden“ (73). Dem entspreche eine unterschiedliche Terminologie für Sünden von Erwählten (παράπτωµα) und Nichterwählten (ἁµαρτία).

Klinghardt bietet eine weiterführende Analyse der Stellen, die von

„Züchtigung“ sprechen, und führt wichtige frühjüdische Belege als Hinter-grund dafür an. Jedoch ist die Übertragung des Schemas „Züchtigung in der Zeit für Israel – Endgericht für die Völker“ auf die paulinische Lehre vom Gericht nicht befriedigend. Paulus betont in Römer 1–3 gerade den einen, für Juden wie Heiden geltenden Gerichtsmaßstab, nach dem die Sünde von Juden bzw. Christen nicht weniger schwer wiegen kann als die von Heiden,64 vielmehr kann sich kein Mensch vor dem Gericht Gottes auf seine Erwählung berufen. Das zeitliche Züchtigungsgericht ist bei Paulus kaum ein fest gültiges „Konzept“ (vgl. 76), sondern eher als eine freie Maß-nahme der Güte Gottes zu verstehen, die Christen trotz Sünden Umkehr und damit Rettung ermöglichen soll. Durch ein so verstandenes Züchtigungs-gericht wird die unabänderliche Geltung des Gerichtes nach den Werken unterstrichen.

19. Kent L. Yinger und die „New Perspective on Paul“

Die Arbeit von K. Yinger (Paul, Judaism, and Judgment according to Deeds) von 1999 stellt nach einer längeren Pause seit der Arbeit von Synofzik (1977) die erste Monografie dar, die sich spezifisch mit dem Gericht bei Pau-lus befasst. Kurz nach Yingers Buch folgten die Untersuchungen von Nico-la Wendebourg (s. u. Abschn. 21) und Matthias Konradt (s. u. Abschn. 22).

Yinger schließt sich für sein Bild des antiken Judentums der Sicht des

„covenantal nomism“ an, wie sie von E. P. Sanders herausgearbeitet wurde (Paul and Palestinian Judaism, 1977, dt.: Paulus und das palästinische Judentum, 1985).65 Er ist somit ein Vertreter der „New Perspective on Paul“. Wegen der großen Bedeutung der „New Perspective“ für die Paulus-exegese der vergangenen drei Jahrzehnte soll sie hier vor der Darstellung von Yinger in einem Exkurs kurz besprochen werden.

64 KLINGHARDT gibt denn auch zu, dass die Differenzierung in verschiedene Sünden-begriffe nur „[v]on wenigen Ausnahmen abgesehen“ gelte („Sünde und Gericht“ 74), wodurch die Unterscheidung schon lexikalisch widerlegt ist.

65 Ivana Bendik hat gezeigt, dass Sanders sich an Vorarbeiten seines Lehrers Johannes Munck anschloss (BENDIK, Paulus in neuer Sicht? 80–88.150). Zum „covenantal nomism“ siehe auch C. STETTLER, Das letzte Gericht 148–179.

a)Exkurs: Die „New Perspective on Paul“66 (1)Darstellung

Die „New Perspective on Paul“ (NPP) ist einerseits dadurch charakterisiert, dass sie E. P. Sanders’ Bild des Frühjudentums folgt (s. u.), und anderer-seits dadurch, dass sie die reformatorische Paulusauslegung für überholt, weil Paulus unangemessen, ansieht. Die NPP stellt keineswegs eine in sich geschlossene, einheitliche Position dar, die einzelnen Vertreter teilen aber die beiden genannten Charakteristika und bauen zum Teil aufeinander auf.

Im englischen Sprachraum war die NPP in den 90er Jahren wohl die beherrschende Sicht, während sie im deutschen Sprachraum zunächst vor allem kritisch rezipiert wurde.67 Mittlerweile finden sich aber auch hier einige Vertreter,68 während umgekehrt in der englischsprachigen Welt differenziert-kritische Stimmen zunehmen.69 Auch in der Diskussion um die paulinische Rechtfertigungslehre werden nicht mehr einfach nur die beiden Sichtweisen, die reformatorische Sicht oder die der New Perspec-tive, verteidigt wie in den ersten Jahren der Debatte; eine wachsende Anzahl von Exegeten versucht, auf beiden Seiten die Spreu vom Weizen zu trennen und anhand der Texte weiterzudenken.70

66 Für einen kurzen und präzisen Überblick über die wichtigsten Argumente und Spiel-arten der „New Perspective“ siehe WILK, „Gottesgerechtigkeit“ 267–271; weiter z. B. NIE -BUHR, „Rechtfertigungslehre“; STRECKER, „Paulus in einer ‚neuen Perspektive‘“; GERBER,

„Blicke auf Paulus“; WEDDERBURN, „Paulusperspektive“; LANDMESSER, „Umstrittener Paulus“; FREY, „Das Judentum des Paulus“ 35–42; VOLLENWEIDER, „Paulus“ 1064 f.;

STUHLMACHER, „Zum Thema Rechtfertigung“; WESTERHOLM, „The ‚New Perspective‘“;

WATERS, „Justification Undermined“. Eingehender setzen sich mit der NPP auseinander:

z. B. DUNN, New Perspective (bes. 1–88); MASCHMEIER, Rechtfertigung; BENDIK, Paulus in neuer Sicht?; M. B. THOMPSON, New Perspective; WESTERHOLM, Perspectives Old and New (bes. 101–258); BACHMANN (Hg.), Lutherische und neue Paulusperspektive (bes. HAACKER, „Verdienste“, und DUNN, „The Dialogue Progresses“); STUHL -MACHER/HAGNER, Revisiting Paul’s Doctrine of Justification; S. KIM, Paul and the New Perspective; GATHERCOLE, Where Is Boasting?; THIESSEN, Gottes Gerechtigkeit 13–42.

67 Vgl. STUHLMACHER, „Zum Thema Rechtfertigung“, und die bei FREY, „Das Juden-tum des Paulus“ 35 Anm. 132, genannten Titel.

68 Beispiele: HAACKER, Paulus; BACHMANN (Hg.), Lutherische und neue Paulus-perspektive; NIEBUHR, „Rechtfertigungslehre“.

69 Vgl. WESTERHOLM, Perspectives Old and New; GATHERCOLE, Where Is Boasting?;

CARSON/O’BRIEN/SEIFRID (Hg.), Justification and Variegated Nomism (2 Bde.).

70 So z. B. AVEMARIE, Tora und Leben; DERS., „Erwählung und Vergeltung“; ELLIOTT, Survivors; GATHERCOLE, Where Is Boasting?; BIRD, Saving Righteousness; S. KIM, Paul and the New Perspective. Auch WRIGHTs Justification, sein Paul and the Faithfulness of God (bes. 2,925–1042), sein Paul and His Recent Interpreters (bes. 64–134) sowie einige Aufsätze in seinen Pauline Perspectives (bes. 273–316.332–355.379–406.422–438.474–

488) gehen über die bloße Wiederholung seiner früheren Aussagen hinaus und integrieren Anliegen der traditionellen reformatorischen Auslegung in seine Sicht, ebenso DUNN,

„Response“.

Den Auslöser der NPP bildete ein programmatischer Aufsatz von Krister Stendahl von 1963, in dem er verlangt, dass die Paulusexegese sich von

„the introspective conscience of the West“ und somit vom reformatorischen Paulusverständnis frei machen müsse.71 Paulus sei es nicht um die indi-viduelle Soteriologie gegangen („Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“), sondern um die Frage, wie sich Juden und Heiden in der Kirche zueinander verhalten: Stendahl knüpft damit an ältere Entwürfe an, welche die Recht-fertigungslehre des Paulus nicht als Zentrum seiner Theologie, sondern als erst in der Auseinandersetzung um die gesetzesfreie Heidenmission ent-wickelte „Kampfeslehre“ (William Wrede72) und als bloßen „Nebenkrater“

der paulinischen Theologie (Albert Schweitzer73) ansahen.

Entscheidenden Einfluss hat sodann E. P. Sanders’ Paul and Palestinian Judaism (1977) ausgeübt. Nach Sanders ist das antike Judentum keines-wegs eine Religion der Werkgerechtigkeit, nach der man sich das Heil durch Gesetzesgehorsam „verdienen“ muss, sondern eine Gnadenreligion, nach der Gott Israel allein aus Gnade in den Bund mit ihm aufnahm. Der

Entscheidenden Einfluss hat sodann E. P. Sanders’ Paul and Palestinian Judaism (1977) ausgeübt. Nach Sanders ist das antike Judentum keines-wegs eine Religion der Werkgerechtigkeit, nach der man sich das Heil durch Gesetzesgehorsam „verdienen“ muss, sondern eine Gnadenreligion, nach der Gott Israel allein aus Gnade in den Bund mit ihm aufnahm. Der

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