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Parteimitglied werden ist aber auch nicht schlecht

1. Lerngelegenheiten im Video

Grundsätzlich ist eine moderne Massendemokratie ohne Wahlen nicht denkbar. Daher ist es besonders wichtig, dem verbreiteten Vorurteil entgegenzutreten, „dass es sich nicht lohne, zu wählen“ (Weißeno u. a. 2010, S. 150).

Dennoch droht die Emphase, mit der Abdelkarim in dem Video „Wahlen und Parteien“ für das Wählen und die Mit-wirkung in Parteien eintritt, ins Leere zu laufen, wenn nicht zugleich auf die Vorurteile gegenüber insbesondere den etablierten Parteien (z. B. reines Machtstreben, Staat als

„Beute“) eingegangen wird. Nur so kann die Chance genutzt werden, über das Aufgreifen dieser Vorurteile und die Irritation von Präkonzepten einen Denkprozess bei den Lernenden in Gang zu setzen.

Das Video „Wahlen und Parteien“ fokussiert vor allem auf die politischen Fachkonzepte parlamentarische Demokratie, Parteien und Wahlen. Die didaktische Analyse des Videos zielt daher auf die Identifikation von Lerngelegenheiten zur Bedeutung von Wahlen und zu den Leistungen der politi-schen Parteien für die parlamentarische Demokratie, reflek-tiert diese jedoch ergänzend in Hinsicht auf die Präkonzepte der Lernenden, um diese als Lernchance aufzugreifen.

ABSCHNITT 1:

Wahlen als die zentrale Möglichkeit, Politik mitzugestalten [00:08 – 01:51]

In diesem Abschnitt betont Abdelkarim die Bedeutung der Wahlen und ihre Funktion für die parla-mentarische Demokratie.

Kontrastiert wird das Recht mitzuentscheiden, was in Deutschland „passiert“, mit dem Vorurteil, dass Wahlen nichts ändern.

Die Aufforderung, wählen zu gehen, also von seinem aktiven Wahlrecht tatsächlich auch Gebrauch zu machen, basiert im Kern auf zwei Argumenten: Erstens geht es darum, durch eine Wahl aktiv die Inhalte von Entscheidun-gen zu beeinflussen, die einen angehen (Bsp. Cannabis).

Zweitens geht es darum, nicht anderen, die ggf. die Folgen von Entscheidungen gar nicht tragen müssen, aufgrund eigener Wahlverweigerung, also aus eigener Passivität, das Feld zu überlassen (Bsp. Altersstruktur der Wahl-berechtigten). Direkt angesprochen sind damit insbesondere die Artikulations-, Integrations- und Repräsentations-funktion von Wahlen, nicht jedoch die Legitimations-,

Kontroll-, Regierungsbildungs- und Machtverteilungs-funktion. Diese können und müssen jedoch ergänzt werden, damit das parlamentarische Regierungssystem mit seinem Zusammenspiel von Parlamentsmehrheit und Regierung sowie der Bedeutung von Opposition als Gegen-gewicht zu dieser Funktionseinheit verstanden wird.

Die Repräsentationsfunktion wird auch in dem Beispiel mit dem Freundeskreis deutlich („Das ist, als würde ich sagen:

‚Leute, ich entscheide, wo wir heute feiern gehen, aber ich komm nicht mit.‘ Sinnlos.“). Hier lassen sich grundsätzliche Fragen nach demokratischen Mitwirkungsrechten formu-lieren, z. B.: Ist es legitim, auch solche Personen an Ab-stimmungen zu beteiligen, die nichts mit der Sache zu tun haben? Erweiterbar wäre der Abschnitt durch einen Hinweis auf das sog. Familienwahlrecht, bei dem Eltern für ihre noch nicht volljährigen Kinder stellvertretend das Wahlrecht ausüben, da Politik z. B. häufig auch Kinder betrifft, diese aber gar nicht mitbestimmen können. Berührt sind damit zentrale Grundsätze des Wahlrechts, insbesondere die Gleichheit bzw. das Gewicht der Stimmen.

Schwierigkeiten und zugleich didaktische Chancen könnten sich aus der Vorurteile aufgreifenden Formel „Vorzeige-moslem“ und dem nicht begründeten Einstellungswandel („Das habe ich früher auch gedacht, aber das stimmt nicht.“) ergeben. Der Grund für den Wandel wird nicht genannt, es handelt sich also entweder um eine zu füllende Leer-stelle oder die nachfolgende Begründung hängt in der Luft.

Hier bietet es sich an, aus Abdelkarims Äußerungen mögliche Gründe für seinen Sinneswandel erschließen zu lassen. Im Übrigen ist auch der Zusammenhang von Wahl berechtigung und Staatsbürgerschaft hier kein Thema.

Diese Thematik wird jedoch im 3 Video 03 „Volk“ auf-gegriffen.

Weitere Schwierigkeiten könnten sich aus der negativen Konnotation des Wahlvorgangs vor Ort („oldschoolmäßig“) und der Briefwahl („Oder noch tragischer: eine Briefwahl.

Warum nicht gleich ’ne Brieftaube?“) ergeben. Auch hier stecken didaktische Möglichkeiten in der Erörterung, warum eine Wahl mit Stimmzettel in einem Wahllokal besser als andere technische Lösungen („App“) die Wahrung der Wahlrechtsgrundsätze ermöglicht und auch der Aufwand, persönlich im Wahllokal zu erscheinen, zur Legitimation der Wahl beiträgt. Schließlich ist ein Wahlvorgang immer auch ein soziales Ereignis: Man kann Bekannte treffen und kommt an Orte, mit denen man etwas verbindet (z. B.

eigene Schule, Vereinsheim des Sportvereins).

ABSCHNITT 2:

Wer steht überhaupt zur Wahl? – Die Rolle der politischen Parteien [01:52 – 02:56]

In diesem Abschnitt werden die politischen Parteien von Abdelkarim eingeführt und ihre Bedeutung für die Demo-kratie begründet. Die Verschränkung mit dem Wahlsystem erfolgt über die Thematisierung des passiven Wahlrechts, das einer Person sowie Kandidat*innen aus Wählerver-einigungen und eben auch Parteien zukommt. Politische Parteien werden mit dem Wortlaut des Parteiengesetzes definiert und als „politische Handlungsbevollmächtigte“

(Jun 2016) beschrieben. Unmittelbar angesprochen werden die Selektionsfunktion (Personalbeschaffung: Man kann als Mitglied für Wahlen aufgestellt werden), die Mediatisie-rungsfunktion (Interessenartikulation: Parteien vertreten partikulare Interessen) und die Partizipationsfunktion (Parteien ermöglichen die politische Beteiligung von Einzel-nen und Gruppen). Ihre Bedeutung wird daraus abgeleitet, dass freie Parteien in Autokratien Restriktionen erfahren und in Diktaturen verboten werden. Die Abschaffung der Demokratie geht Hand in Hand mit dem Verbot politischer Parteien. Ex negativo lassen sich so auch die Integrations-funktion bzw. ProgrammIntegrations-funktion (Parteien integrieren gesellschaftliche Interessen und stellen ihr Programm in freien Wahlen zur Abstimmung) und die Legitimations-funktion (Parteien integrieren die Gesellschaft) ansprechen.

Diese stehen in Zusammenhang mit den rechtlichen Vor-gaben für politische Parteien (Stichwort: innerparteiliche Demokratie) und mit den hohen Hürden, die das Grund-gesetz hinsichtlich eines Parteienverbots aufrichtet.

Schwierigkeiten könnten sich aus der Metapher „Gang“

ergeben, die einen negativen Bedeutungsgehalt im Sinne einer kriminellen Vereinigung hat. Das wird im Video später noch einmal aufgegriffen, dort aber aufgehoben (Abdel-karim, 05:03 – 05:11: „Diskurs, Baby! So richtig mit ver-schiedenen Positionen, und am Ende hat man einen Kom-promiss! Weil im Gegensatz zum Gangmitglied muss man in einer Partei gar nicht immer die gleiche Meinung haben wie der Chef.“). Es empfiehlt sich daher, das Video hin-sichtlich der Metaphorik als Ganzes in den Blick zu nehmen.

Dies ist auch deshalb wichtig, weil die „Gang“-Metapher

in Zusammenhang mit problematischen bzw. als problema-tisch wahrgenommenen Aspekten der Parteiendemokratie (z. B. dem Stellenwert von Wahlversprechen im Kontext von Koalitionsverhandlungen oder Skandalen um Parteifinan-zierung) gängige Vorurteile, die auch die mediale Kom-mentierung insbesondere von Parteipolitik durchziehen, bestätigen und bestärken kann. Die Idealisierung der Par-teien in Abdel karims Darstellung ist hier nicht zielführend, da sie einem Negativbild lediglich ein positives gegenüber-stellt, die Probleme aber nicht thematisiert. Im Unterricht muss daher ein offener Diskurs über die Probleme, die eine Parteien demokratie mit sich bringen kann, stattfinden.

Weitere Schwierigkeiten, aber auch didaktische Möglich-keiten erwachsen aus der „Kachelwand der Diktatoren“, die historisch anspruchsvoll ist. Den meisten Lernenden dürften nur Hitler und Kim Jong-un ein Begriff sein, während es wenig wahrscheinlich ist, dass Figuren wie z. B. Charles Taylor, Jean-Claude Duvalier oder Manuel Noriega bekannt sind. Der Sinn sollte dennoch klar sein. Zudem ergibt sich auch die Chance kollaborativer Recherche: Da auch nicht alle Lehrenden die Personen kennen werden (es sind einfach zu viele!), wird einerseits die Allgegenwart von Autokratien erfahrbar, andererseits auch die Frage thema-tisierbar, ob Personen wichtiger sind oder Strukturen.

ABSCHNITT 3:

Was für Parteien gibt es?

Parteientypologie und -programmatik [01:52 – 04:45]

Im Mittelpunkt des Abschnitts steht die Programm-funktion der politischen Parteien und das durch unter-schied liche Programmatik aufgespannte Parteiensystem.

Der Begriff „Volkspartei“ wird eingeführt, aber lediglich vom Wahlergebnis her erläutert (03:00 – 03:04: „Früher war das einfach. Man entschied sich einfach für eine der beiden großen Volksparteien.“). Die Charakterisierung von Volks-parteien allein als „Catch-all“-Parteien, die am Wahlerfolg gemessen werden, sieht jedoch von ihrer Leistung ab, unterschiedlichste gesellschaftliche Interessen zu integrieren und auszugleichen (vgl. zum Folgenden: Schmid 2019, S. 2ff.).

Die politikwissenschaftliche Literatur benennt vier Indika-toren für die Charakterisierung von Volksparteien:

1. heterogene Sozialstruktur der Mitglieder- und Wählerschaft bei gleichzeitiger Bewahrung eines „Markenkerns“;

2. Stammwählerschaft von 20 – 25 Prozent;

3. beständiger Wahlerfolg von mindestens 35 Prozent der Wähler*innen;

4. Fähigkeit zur Regierungsübernahme.

Die „Erosion der Volksparteien“ wird im Video deutlich her-ausgestellt, aber nicht begründet. Hier liegt eine inhaltliche Leerstelle, die gefüllt werden kann und sollte. Dazu können einerseits die Lernenden grundsätzliche Überlegungen anstellen, andererseits böten auch die Durchführung einer lerngruppeninternen Wahl und die anschließende Aus-einandersetzung mit dem Wahlergebnis – mit oder ohne

„Volkspartei“ – einen konkreten Gesprächsanlass dazu.

Die „bunte“ Parteienlandschaft in der Bundesrepublik Deutschland wird in der Folge mit pointierten und satirisch überzogenen Kurzcharakterisierungen der politischen Parteien vorgestellt (03:40 – 03:59: Farbe, Fähnchen, State-ments). Am Beispiel einer „Kleinpartei“ bzw. „ganz albernen Splitterpartei“ („Aluhut“) wird die Fünf-Prozent-Hürde als „etwas sehr Sinnvolles“ dargestellt (04:03 – 04:20).

Diese Darstellung ist nicht nur wertend, sondern muss hinsichtlich Inhalt, Bewertung und Art der Darstellung hinter-fragt werden. Schließlich wird hier deutlich politisch Position bezogen. Eine Sperrklausel ist und bleibt ein erheblicher Eingriff in das Wahlrechtsprinzip der Gleichheit und muss inhaltlich gerechtfertigt werden. Sie ist jedenfalls nicht zum Lachen, sondern hat politische Konsequenzen. Daher muss diese Thematik aufgegriffen werden, um die politische Urteilsfähigkeit der Lernenden zu schulen, d. h. hier die Fähigkeit, Einschränkungen zu begründen bzw. sie nicht einfach hinzunehmen.

Schwierigkeiten können sich aus den Anspielungen auf Parteifarben und der Kurzkennzeichnung der Parteien er-geben. Auch die Ebene der programmatischen Äußerungen ist unterschiedlich. Es stehen grundsätzliche Aussagen (z. B. Gleichheit aller) gegen Einzelaspekte (z. B. Kiffen).

Hier bietet sich viel Raum zur Diskussion von Programma-tik und Markenkern (z. B.: Ist Freiheit das Recht, zu tun, was man will, oder nicht das tun zu müssen, was man nicht will?). Auch die historischen Anspielungen (Papagei) könnten Schwierigkeiten bereiten. Auf jeden Fall sollte hinterfragt werden, ob die Kurzcharakterisierung von Abdelkarim ein (legitimes; satirisches?) Zerrbild ist (z. B.

„für Kiffen“, „gegen Ausländer“) oder reale Bezugspunkte hat.

Nötig ist jedenfalls die Erweiterung der Charakterisierung der Parteien durch Ergänzung weiterer von ihnen zentral vertretener Positionen, um ihnen gerecht zu werden.

Eine erhebliche Schwierigkeit steckt auch in der Schluss-folgerung: „Informiert euch, lest Parteiprogramme, guckt, ob eine Partei einfach nur tolle Sachen verspricht, um eure Stimme zu kriegen, oder ob sie die Sachen auch wirklich umsetzen will“ (04:24 – 04:32). Zum einen wären Partei- und Wahlprogramme zu unterscheiden, zum anderen ist die Umsetzung eigener Ziele in Zeiten bunter Koalitionen an Aushandlungsprozesse und Wahlergebnisse gebunden.

Auch hier müsste das Video um eine differenzierende Sicht ergänzt werden. Dies ist jedoch sehr zeitaufwendig.

ABSCHNITT 4: zusammen. In ihm geht es zentral um die prozedurale Dimension von Politik („politics“) und damit um die Frage, wie angesichts von politischen Konflikten Meinungs- und Willensbildungsprozesse ablaufen, was daran anstrengend ist und wie die Ergebnisse zufriedenstellend ausfallen können. Allerdings enthält der Abschnitt eher Appelle als konkrete Inhalte. Diese bilden wiederum Leerstellen, um Diskurse anzuschließen:

(1) Inwiefern und wann ist Komplexitätsreduktion durch politische Parteien notwendig und geboten, und wann ist sie problematisch und zu kritisieren?

(2) Wieso wird Parteimitgliedschaft im Video grundsätzlich positiv gesehen, zugleich aber als problematisch gewertet?

Schwierigkeiten könnten aus der „Hinterzimmer“- und

„Dorfkneipen“-Metaphorik entstehen. Obwohl der Sinn des Abschnitts darin besteht, dass Diskurse grundsätzlich positiv sind, trägt das evozierte Bild negative Bedeutungen in sich (Politik in Hinterzimmern und unter Dörflern). Wieso Abdelkarim also diese Orte wählt, könnte eine Frage für den Unterricht sein. Jedenfalls ist die Dorfkneipe nicht der gewöhnliche Aufenthaltsort gerade junger Menschen.

Insofern dürfte der im Video enthaltene Appell, sich doch vor Ort zu engagieren, hier nicht der Lebenswelt der Adressa-ten entsprechen. Das führt unmittelbar zu der Frage, wo sich diese denn treffen würden, um politische Konflikte auszutragen und Lösungen dafür zu finden.