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Leben als zentrales, praktisches Unterscheidungskriterium

Im Dokument Zählt Wahrheit heute noch? (Seite 94-97)

5. Fazit

5.2. Leben als zentrales, praktisches Unterscheidungskriterium

Im 1985 verfassten Nachwort zu Hinkelammerts Die ideologischen Waffen des Todes betont Kuno Füssel ausdrücklich, dass es in der Auseinanderset-zung der Befreiungstheologie mit einer rechtskonservativen Theologie, zu der tendentiell die römisch-lehramtliche Theologie zu zählen ist, weder gangbar ist, im Modus einer simplen, vereindeutigenden und gegenseitig

211 Sobrino 1998, 165.

212 Ebd.

213 Ebd.

214 Vgl. ebd., 165–167.175; vgl. systematisch zum ›Reich Gottes‹ und seiner Stellung in der Theologie der Befreiung Sobrino 1984, 41–78; 1995a; 1995b; 1998, 173–190; vgl.

zur Notwendigkeit der geschichtlichen Konkretion der Sünde z.B. Dussel 1988a, 35.

verurteilenden ›Schwarz-Weiß-Differenzierung‹ den theologischen Stand-punkt des*der anderen abzuqualifizieren und sich argumentativ so in ei-nem bloßen »ideologischen Rechtfertigungsdiskurs«215 zu bewegen, noch, sich in der Asymmetrie bestehender Machtverhältnisse der theolo-gischen Position des Diskursgegenübers zu unterwerfen. Zielperspektive sei vielmehr die Suche nach einem adäquaten und klaren Kriterium für einen argumentativen anstelle eines machtpolitischen Diskurses darüber, wer nun theoretisch im Recht sei. Ein solches Kriterium sei auf der Basis der Praxis und Lehre Jesu sowie seiner Reich-Gottes-Botschaft im univer-salen Willen Gottes zu menschlichem Heil und einem Leben in Fülle (und gerade nicht im Mangel) gegeben. Der Diskurs sei also vielmehr über die praktische Frage zu führen, ob eine zu diskutierende theologische These bzw. Praxis in der Konsequenz Leben schenkt oder Tod bringt bzw.

im Rahmen der Ideologiekritik das Vorenthalten von Leben bzw. das Brin-gen von Tod ideologisch verdeckt. Es geht Füssel also nicht darum, den Problemhorizont durch eine bloß inhaltliche Verlagerung der Kriteriolo-gie zu verschieben, sondern ihn von einer primär orthodoxen auf eine vorrangig orthopraxe Argumentationsebene zu heben, von der ausgehend dann auch orthodoxe Fragen relevant werden.216 Entsprechend diesem le-benskriteriologischen Schema verfuhr auch Jesus in der Auseinanderset-zung mit seinen theologischen Gegnern (vgl. z.B. Mk 2,1–12; 2,23–28;

3,1–5).217

215 Füssel 1986, 328.

216 Das menschliche Leben bildet kriteriologisch auch das zentrale und universale ma-terial-ethische Prinzip in Dussels Ética de la Liberación en la Edad de la Globaliza-ción y de la Exclusión (Ethik der Befreiung im Zeitalter von Globalisierung und Ex-klusion) von 1998: »Jede Norm, Handlung, Mikrostruktur, kulturelle Institution oder Sittlichkeit [eticidad] besitzt immer und notwendig als letzten Inhalt irgendein Moment der Produktion, Reproduktion und Entfaltung des konkreten menschlichen Lebens.« (Dussel 1998, 91, siehe überblicksartig dazu auch Mills 2018, 66–70). Siehe zum Verhältnis von Orthodoxis und Orthopraxis bei Dussel v.a. Dussel 1985c.

217 Vgl. Füssel 1986, 328f.; In dieser Logik resümiert auch Georg Kraus zur Frage der Frauenordination: »Das Entscheidende in der Frage der Frauenordination ist nicht das Faktum einer sehr langen Tradition, sondern die Prüfung, ob diese Tradition in der gegenwärtigen geschichtlichen Situation das Heil der Menschen fördert. Nach dem Willen Jesu ist – analog zum Sabbatwort von Mk 2,27 – der Mensch nicht für die Tradition da, sondern die Tradition für den Menschen. So entspricht es dem Willen Jesu, der ›Herr über den Sabbat‹ (Mk 2,28) und damit auch Herr über die Tradition ist, daß eine Tradition, die in ihrem Heilsdienst sehr umstritten ist,

geän-Die befreiungstheologische Rezeption der Marx’schen Ökonomiekritik mit ihrer implizit ideologiekritischen Methode ermöglicht die dazu erfor-derliche je neue Aktualisierung, Historisierung und konkrete Realisie-rung der befreienden biblischen Botschaft vom Reich Gottes und erfüllt gerade nicht den Vorwurf der »Perversion der christlichen Botschaft«

(VAS 57, 18 [IX.1.]):

»Dabei verlängern die marxistischen Kategorien die biblische Botschaft in den Herrschaftsraum der kapitalistischen Gesellschaftsformation, bewahren ihr gera-de so die Wirksamkeit gera-der prophetischen Kritik unter geängera-derten Bedingungen, statt sie zu überfremden oder zu verkürzen, wie man so oft der Theologie der Be-freiung von seiten des kirchlichen Establishments vorwirft.«218

dert werden kann. Wenn sich die katholische Kirchenleitung am Heilswillen des Herrn orientiert, hat sie eindeutig die Vollmacht, Frauen die Priesterweihe zu spen-den. Das Heil der Menschen muß oberstes Prinzip in der Kirche sein. Da die Ordi-nation von Frauen ein neues, spezifisches Feld des Heilsdienstes eröffnet, wird in unserer heutigen gesellschaftlichen Situation das Heil vieler Menschen gefördert.

Heilsdienst aber ist der zentrale Wille des Herrn Jesus Christus. Darf die Leitung der katholischen Kirche diesen absoluten Willen des Herrn weiterhin ignorieren?«

(Kraus 2011, 803).

In gleicher Weise und Schärfe ist aus befreiungstheologischer Sicht auch das Nein des Responsum ad Dubium zur Frage der Segnung gleichgeschlechtlicher Partner-schaften vom 15.03.2021 zu kritisieren (vgl. Kongregation für die Glaubenslehre 2021). Die Kongregation für die Glaubenslehre argumentiert in der angehängten Nota Explicativa immer noch naturrechtlich und instruktionstheoretisch, wenn sie von »Pläne[n] Gottes [spricht], die in die Schöpfung eingeschrieben und von Chris-tus dem Herrn vollständig offenbart sind«. Die ideologische (weil selbsttotalisie-rend und ungeschichtlich) Immunisierung folgt dem üblichen Argumentations-schema, das auch bei der Frage der Frauenordination angewandt wird: Die Kirche habe in dieser Sache überhaupt keine Vollmacht zu Veränderung. Lebens- und Lie-besgemeinschaften aber, welcher Zusammensetzung sie auch immer sein mögen, a priori eine Absage zu erteilen und als sündhaft abzuqualifizieren, weil sie vorgeb-lich nicht dem göttvorgeb-lichen Plan entsprechen, stellt – entgegen der Selbstdarstellung der erläuternden Note – nicht nur eine »ungerechte Diskriminierung« dar, sondern propagiert eine partikulare (bürgerliche) Moralkonzeption als universales göttliches Gesetz. Dies verhindert die Entfaltung menschlichen Lebens und Heils mehr, als es sie fördert, widerspricht daher auch der Reich-Gottes-Botschaft Jesu mehr, als es ihr entspricht, und lässt sich somit nicht anders als ›ideologisch‹ (im Sinne des Ideolo-gieverständnisses dieses Aufsatzes) charakterisieren.

218 Füssel 1986, 328.

In dieser Hinsicht ist neben dem Denken Franz Hinkelammerts beson-ders die befreiungsethische Rezeption bzw. Lektüre der Marx’schen Ökono-miekritik durch Enrique Dussel von exzeptioneller Bedeutung.

Bei der Rezeption der Marx’schen Theorie weist die Theologie der Be-freiung immer wieder darauf hin, dass (zumindest ihrem Verständnis der Marx’schen Theorie zufolge)

»nicht der Glaube an den lebendigen und erlösenden Gott das erklärte Objekt marxistischer Religionskritik und Fetischanalyse ist, sondern der Götzendienst, der Kniefall vor den Fetischen, die Anbetung der ›Nichtse‹, wie die Bibel es aus-drückt«219.

Insgesamt nimmt in der Befreiungstheologie die Ideologie- und Herr-schaftskritik aus der Perspektive der Armen und Unterdrückten eine zen-trale Stellung ein. Besondere Rezeption erfahren dabei die Marx’schen Analysen zum Fetisch, wie sie z.B. in dieser Arbeit im Zusammenhang mit der Marx’schen Ideologiekritik dargestellt worden sind.

5.3. Notwendigkeit einer epistemologischen Dekolonialisierung der

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