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Das lange 19. Jahrhundert

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IX

Vor der „Industriellen Revolution“ lebte ein Großteil der Bevölkerung in Europa unter kärglichen Bedingungen. Die um 1800 einsetzende Industrialisierung veränderte – ausgehend von England – nicht nur die Arbeitswelt, sondern erfasste alle Lebensbereiche. Vieles von dem, was heute unser modernes Leben bestimmt – Demokratie, Konsum, Kommunikations- und Verkehrsmittel, die Versorgung einer wachsenden Bevölkerung mit Nahrungsmitteln – ent-stand im „langen 19. Jahrhundert“ und wurde seither weiterentwickelt. Ohne Industrie und internationalen Handel wäre unser Leben mit all seinen Annehmlichkeiten wie Handys etc. nicht vorstellbar. Die Industrialisierung hat eine neue soziale Ordnung hervorgebracht und jene Kräfte geschaffen, die im 20. Jh. in den Ländern des Nordens Wohl-stand und soziale Absicherung für viele erreichten.

Allerdings sind wir seit dem Beginn der Industrialisierung auch mit negativen Folgen konfrontiert: Im 19. Jh. waren das die soziale Frage oder die Verschmutzung der Städte und Flüsse; heute sind es Ressourcenverbrauch, Klima-wandel, globale Ungleichheit und globale Migration. Die Frage nach Fluch oder Segen dieses Prozesses stellt sich mit jedem Entwicklungsschritt der Industrialisierung neu.

Dieses Kapitel orientiert sich an folgenden Kompetenzen:

▸ Historische Methodenkompetenz (De- und Rekonstruktionskompetenz)

Fachspezifische Recherchefähigkeiten entwickeln; Gattungsspezifik von Darstellungen der Vergangenheit erkennen

▸ Historische Sachkompetenz

Geschichte als Konstruktion der Vergangenheit wahrnehmen

▸ Historische Orientierungskompetenz

Erkenntnisse über die Vergangenheit zur eigenen Orientierung nutzen

▸ Politische Urteilskompetenz

Eigene und fremde Urteile in ihrer Bedingtheit erkennen; Interessen in Urteilen erkennen

▸ Politische Sachkompetenz

Unterschiedliche Verwendung von Begriffen in Alltag und Fachsprache erkennen

K

Vor der Vollendung, Eisenbahnbau bei Borsig, Paul Friedrich Meyerheim, 1873 – 1876, Deutsches Technikmuseum, Berlin

Bekleidungsfabrik in Bangladesh, Tareq Salahuddin, Fotografie, 2011

M1 M2

Brainstorming

Suchen Sie im Internet eine Definition des „langen 19. Jahrhunderts“.

Erörtern Sie anhand von M4 den Sinn von Periodisierungen.

Diskutieren Sie in Kleingruppen die Rolle der Industrie für Ihr Leben und Ihren Alltag.

Erörtern Sie anhand der Abbildungen Fluch und Segen der Industrialisie-rung.

Plakat

„Internationale Elektro-Technische Ausstellung“, Frankfurt 1891

M3 ab 1750

Industrialisierung, Bevölkerungswachstum

Industrialisierung und Gesellschaft, soziale Frage

Sozialismus/Kommunismus

Liberalismus/Nationalismus

Demokratisierung, Entwicklung des Wahlrechts

Aufbruch ins

massenmediale Zeitalter

Geschlechterverhältnisse im 19. Jh.

Wien um 1900:

Metropole mit Schattenseiten

1918/1919

Ende und Folgen des Ersten Weltkieges Epochenjahr 1917 1914 – 1918 Der Erste Weltkrieg Frauenbewegungen Im Vordergrund der „entfesselte Prometheus“ als Symbol für den

Fort-schritt.

i

Der Historiker Andreas Fahrmeir über den Epochenbegriff des „langen 19. Jahrhunderts“:

Zunächst einmal gibt es neben dem „langen“ ein „kurzes“ 19. Jahrhun-dert, das mit Napoleon oder dem Wiener Kongress beginnt und viel-leicht sogar bereits in den 1880er Jahren endet. Darüber hinaus ist das Angebot an Epochenbegriffen für das 19. Jahrhundert außergewöhnlich breit und farbenfroh; es gibt keinen Begriff, der sich auch nur einiger-maßen durchgesetzt hätte.

Zit. nach: www.sehepunkte.de/2004/06/6126.html (13.12.2019) M4

Das lange 19. Jahrhundert

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IX 1 Die Industrielle Revolution

In der zweiten Hälfte des 18. Jhs. begann in England ein Prozess, der Wirtschaft und Gesellschaft grundlegend verändern sollte.

Dieser Wandel erfasste immer mehr Regionen der Welt und ist bis heute nicht abgeschlossen. Begonnen hatte die Entwicklung schon Jahrhun-derte früher. Mit dem Verlagssystem des Frühkapitalismus wurden erst-mals Waren in größerer Zahl für den Markt produziert. In den Manu-fakturen der Zeit des Merkantilismus stellte man Luxuswaren für den Export (z. B. Porzellan, Spiegel) arbeitsteilig her. Wo es Rohstoffe, genü-gend Kapital und Arbeitskräfte gab, entstanden vorindustrielle Land-schaften, wie etwa in Flandern oder in England. Eine Reihe besonders günstiger Bedingungen löste in England den Industrialisierungsprozess aus, der das Land zum „workshop of the world“ machen sollte. Auf dem Kontinent begann die Industrialisierung später. Der Prozess lief in meh-reren Wellen ab, die von Krisen unterbrochen wurden und durch Inno-vationen immer wieder neuen Auftrieb bekamen. Allerdings dauerte es viele Jahrzehnte, bis die Industrie wirklich alle Bereiche erfasste.

Technische Neuerungen und Fabriksystem

Erst der Einsatz von Maschinen ermöglichte die Entstehung von Fabriken. Dort diktierte die Maschine das Arbeitstempo. Die Arbeiter- innen und Arbeiter hatten klare Zeitvorgaben mit Arbeitstagen von bis zu 12 Stunden oder mehr. Strenge Fabrikordnungen sollten die Men-schen disziplinieren und an die Erfordernisse der Fabriken anpas-sen. Die Trennung von Arbeitsplatz und Wohnung verlangte Mobilität.

Dank Maschineneinsatz und Arbeitsteilung konnten große Mengen von Waren in annähernd gleicher Qualität hergestellt werden.

Spinnmaschinen und mechanischer Webstuhl als Vorreiter

Der steigende Import von Rohbaumwolle beschleunigte die Suche nach technischen Lösungen für das Spinnen. 1764 wurde die hand-betriebene „Spinning Jenny“ erfunden, fünf Jahre später eine wasser-betriebene Spinnmaschine. Samuel Crompton (1753 – 1827) verband 1779 beide Modelle in seiner „Mule“ genannten Spinnmaschine.

Um die wachsenden Garnmengen verarbeiten zu können, mussten auch die Webstühle mechanisiert werden, z. B. Edmond Cartwrights (1743 – 1823) Maschinenwebstuhl von 1786. Mit Joseph-Marie Jacquards (1752 – 1834) Entwicklung des programmierbaren Webstuhls mittels Lochkarte konnten dann auch gemusterte Stoffe gewebt werden. Am Beginn jedes Aufschwungs

standen bahnbrechende Neuerungen.

1800 1850 1900 1950 2000

PRODUKTIVE LANDWIRTSCHAFT (intensive Schafzucht)

Rohstoffe (Wolle) | Arbeitskräfte England als „first nation“

ÜBERSEEHANDEL | KOLONIALMACHT PROFITABLER SKLAVENHANDEL

Bildung von Kapital | Bankwesen

BEVÖLKERUNGSWACHSTUM verbesserte Ernährungslage

Arbeitskräftepotential für die Industrie ROHSTOFFVORKOMMEN

Kohle, Eisen, Rohbaumwolle, Wolle Basis für Industrialisierung

Interesse an technischen Neuerungen

HÄFEN

SCHIFFBARE FLÜSSE Bau von Kanälen

Grafische Darstellung der „langen Wellen der Konjunktur“, nach: Herbert Matis, Das Industriesystem, 1968, S. 158

Schematische Darstellung der Industriellen Revolution in England

M2 M1

Industrielle Revolution: bezeichnet einerseits die Periode der raschen Industrialisierung seit Ende des 18. Jhs.

in England, die durch die Erfindung der Dampfmaschine und neuer Arbeitsma-schinen (z. B. mechanischer Webstuhl) in Verbindung mit der Fabrikproduktion ausgelöst wurde; andererseits – weiter gefasst – den durch wissenschaftlichen Fortschritt und technische Entwicklung ausgelösten schnellen Wandel der Pro-duktionstechniken und die damit ver-bundenen gesellschaftlichen Verände-rungen, z. B. Übergang vom Agrar- zum Industriestaat.

Kapital: Geld für Investitionszwecke;

Quellen können Sparen, Unternehmer-gewinn oder Kredite sein.