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7. KULTURELLES ERBE

7.2 E RBE , E RBEN UND DIE T RADITION . P HÄNOMENOLOGISCHE S KIZZEN AUS

7.2.3 Kulturelles Erbe als soziale Konstruktion der Vergangenheit

Der Begriff „kulturelles Erbe“ signalisiert trotz seiner unterschiedlichsten Konnotatio-nen stets die Verbindung von Wissenschaft, kultureller Identität und kultureller bzw.

kulturpolitischer Praxis. Der Begriff, um den es sich hier handeln wird, steht nicht für eine oft restriktiv konservative Auslegung einer bloßen Objektschau und Erhaltung.

Vielmehr wird kulturelles Erbe als Prozess verstanden und nicht als Katalog toter und erhaltenswerter Kulturschätze (vgl. Thum 1985:XVII). Der Begriff beinhaltet trotz

allem weiterhin die materiellen Zeugnisse, aber es sind – wie ich noch darstelle und oben bereits angedeutet habe - Zeugnisse mentaler Prozesse.

Kirschenblatt-Gimblett definiert kulturelles Erbes bzw. „World Heritage […] as a mode of cultural production that has recourse to the past and produces something new“

(2004:1). Als zentrales Argument führt die Autorin die Bemerkung an, dass: „heritage is created through metacultural operations that extend museological values and methods (collection, documentation, preservation, presentation, evaluation, and interpretation) to living persons, their knowledge, practise, artifacts, social worlds, and life space“ (2005:1).

Was genau “metacultural” bedeutet und wie es zu verstehen ist, erklärt die Autorin hingegen nicht. Sie erörtert diesbezüglich, dass kulturelle Phänomene und „Träger“

kultureller Elemente durch eine bestimmte Gruppe von Akteuren auf eine Ebene gehoben werden, in der sie zu „metacultural artefact[s]“ transformieren. Durch diesen Prozess entsteht eine neue Beziehung zu jenem „Nachlass“ (ebd. 1f).

Die Intention der Autorin ist, an sich veraltete, nicht mehr lebensfähige, disfunktionale Elemente eines kulturellen Kontextes mit einem neuen Wert auszustatten, mit einem

„second life as heritage“ (Kirshenblatt-Gimblett 1998:146f; vgl. Turtinen 2000:4f), indem diese Elemente zu einer Repräsentation ihrer selbst gemacht werden (ebd.;

vgl. Schneider 2005:42).

Kulturelles Erbe ist nach Ansich Kirshenblatt-Gimblett etwas Neues, das durch eine sogenannte „heritage industry“ erschaffen wird. Vorhandenen Ressourcen, die bis-weilen kaum Beachtung fanden oder als obsolet galten, weil sie unter anderem keine ökonomische Verwertbarkeit implizierten, werden durch Interaktionen zwischen Ak-teuren einer elitären Gruppe neue Werte und symbolische Bedeutungen beigemes-sen (vgl. Kirschenblatt-Gimblett 1995:369f; vgl. ebd. 2004; 2005; vgl. Langbein 2002;

vgl. Turtinen 2000:4f).

Die vielfältigen Bemühungen um das kulturelle Erbe, um dessen Bewahrung, Erhal-tung, Wiederbelebung, Unterschutzstellung und Archivierung verändern die betroffe-nen kulturellen Phänomene in ihrer symbolischen Konsistenz radikal (Schneider 2005:42). Dieser Wertewandel (transvaluation) ist nicht notwendigerweise als negativ zu betrachten, es sollte aber gefragt werden, ob eine derartige Produktion kulturellen Erbes in allen Sphären des Kulturellen, wie in allen Schutzkategorien gleiche Er-folgschancen hat bzw. gleichermaßen Sinn macht und in welcher Art und Weise der Wertewandel sich vollzieht bzw. mit welchen normativen Mustern und Orientierungen

dieses vermeintliche „Neue“ ausgestattet wird. Wie bereits in einem vorhergegange-nen Kapitel erwähnt, ist es ein beachtlicher Unterschied, ob man eine Tempelanlage oder eine Andenpopulation unter Schutz stelle. (vgl. Schneider 2005:42; s. Kapitel 4).

Kirshenblatt-Gimblett bemerkt hierzu treffend: „if it is truly vital, it does not need safeguarding; if it is almost dead, safeguarding will not help” (2004:56).

Ob und inwieweit sich kulturelles Erbe alleinig durch die Neubewertung obsoleter Elemente konstruiert bleibt ebenfalls fragwürdig, wenn man bedenkt, dass die „Erfin-dung“ bzw. „Erzeugung“ eines kulturellen Erbes in Form einer institutionalisierten Mnemotechnik als Manifestationen eines kulturellen Gedächtnisses interpretierbar ist (vgl. Assmann 1997:52).

Das Erklärungsmuster Assmanns konstatiert im Gegensatz zu Kirshenblatt-Gimbletts Ansatz, dass sich Vergangenheit in symbolischen Figuren manifestiert, die Erinne-rung beinhalten. Der Holocaust, die Atombombe auf Hiroshima53, Mythen, Tänze, Riten sind solche Erinnerungsfiguren. Für das kulturelle Gedächtnis zählt nach An-sicht Assmanns nicht faktische, sondern nur erinnerte Geschichte. Durch Erinnerung wird Geschichte zum Mythos und dadurch wird sie Wirklichkeit im Sinne einer fort-dauernden normativen und formativen Kraft. In der Erinnerung an ihre Geschichte und in der Vergegenwärtigung der fundierten Erinnerungsfiguren vergewissert sich eine Gruppe ihrer Identität (ebd. 52f) und im Falle eines kulturellen Erbes der Menschheit wäre dies – der Logik folgend - die Identität des Menschen als Mensch per se.

Die Gedächtnis- und Erinnerungskunst arbeitet mit imaginären Räumen und mit Zeichensetzungen im natürlichen Raum. Ganze Landschaften können als Medium des kulturellen Gedächtnisses dienen. Sie werden dann weniger durch Zeichen und Symboliken bzw. Denkmäler betont, sondern als Ganzes auf die Stufe eines Zei-chens bzw. Symbols gehoben. Als Beispiel wären die totemic landscapes der austra-lischen Aborigines zu nennen. Indem die einzelnen Gruppen der Aborigines an be-sonderen Festen zu bestimmten Plätzen pilgern, an denen die Erinnerung an die Ahnengeister haftet, von denen sie abstammen, vergewissert sie sich ihrer Gruppen-identität (Assmann 1997:60; vgl. Strehlow 1970).

Sowohl für den Ansatz Kirshenblatt-Gimblett, wie für den Ansatz Assmanns lässt sich, wie ich meine, mit den Worten Schneiders feststellen, „dass das kulturelle Erbe

53 Dadurch, dass die UNESCO den Holocaust und die Atombombe auf Hiroshima als Weltkulturerbe ernannte, wurden sie auf die Ebene der kollektiven Erinnerung in Form von Monumenten transformiert.

eine kulturelle Konstruktion ist, die eine Tendenz zur Virtualisierung aufweist“

(2005:43) oder wie Kirshenblatt-Gimblett betont: „A key to heritage production is their virtuality [...]“ (1995:375).

Abschließend stelle ich Schnittmengen zwischen den Erbformen Erbe und kulturelles Erbe auf Grundlage der vorangegangenen Erörterungen dar. Die Kategorien Erbe und kulturelles Erbe bezeichnen Werte, die für die Existenzsicherung und Identitäts-bildung für wichtig befunden werden. Diese wiederum können sich entweder ökono-misch, ethisch und/oder lebensweltlich ausformulieren. Kulturelle Muster und norma-tive Orientierungen sind von existentieller Bedeutung (vgl. Langbein 2002:240; vgl.

Assmann 1997).

Aufgrund des Übergabeprozesses, der im Falle der Übertragung von ökonomischen Ressourcen eindeutig ist, wird das Erbe in der Literatur auch mit dem Mechanismus der Gabe in Verbindung gebracht. Als inhaltlicher Kern der Dinge erweisen sich die normativen Orientierungen, die im Sozialisationsprozess durch Identifikationsfiguren vermittelt und fest in der Identität der Menschen verankert sind. Um ein Erbe als Gabe zu verstehen, ist die Bewusstwerdung eines geistigen Interaktionsprozesses zwischen den Lebenden (die Erben) und den Toten Voraussetzung (Langbein 2002:240). Dies kann im Falle eines kulturellen Erbes durch institutionalisierte Mne-motechniken geschehen; z.B. Hiroshima, der Ort des Ersteinsatzes US-amerikanischer Atombomben (06.08.1945 und Nagasaki 09.08.1945), symbolisiert den Schrecken einer möglichen Vernichtung der globalen Umwelt und Menschheit.

Ein Ort moderner „Barbarei“ der durch seine Erhebung zum Weltkulturerbe als Ge-dächtnisraum global normative Orientierung vermittelt (Prigge 2002:55).

Neben den normativen Orientierungen selbst wird der Mechanismus von Wertever-mittlung und –befolgung, im Sinne von Gabe und Gegengabe in die Dinge eingela-gert. Der Unterschied zum direkt übereigneten Erbe ist, dass sich der Tausch bei den Dingen im Reich des Imaginären abspielt. Die geerbten Dinge, ob im Kleinen wie im Großen, können als Gabe, als „eine Gabe im Kopf“ verstanden werden (Langbein 2002:241).

Ein weiterer Schnittpunkt betrifft den Vorgang des „Erbens“, in dem all jene Prozesse erfasst werden, die auf Bewahrung zielen und im Dienste der gesellschaftlichen Reproduktion stehen. Es werden kulturelle Präferenzsysteme tradiert, soziale Bezie-hungen und Familienräume kontinuiert, normative Orientierungen reproduziert. Es handelt sich somit um die Produktion des Dauerhaften (Langbein 2002:241), oder

wie Kirshenblatt-Gimblett sich im Falle eines kulturellen Erbes äußert, um „something new“ (2004:1).