• Keine Ergebnisse gefunden

1 Das Phänomen „Selbstverletzendes Verhalten“ in der klinischen Diagnostik

3.5 Kritische Würdigung und Ausblick

Psychisch am stärksten beeinträchtigt, im Sinne stärkerer depressiver Symptomatik, Suizidgedanken, Aggression sowie Wut und einer geringeren Anzahl an Gründen zum Leben, zeigten sich überwiegend Personen, die beide Selbstschädigungstypen aufwiesen (Tab. 4). Es ist zu vermuten, dass diese Gruppe beide Formen benötigt, um mit ihren Belastungen fertig zu werden. Es kann festgehalten werden, dass Probanden, die beide Formen aufweisen am stärksten belastet sind; abgestuft folgen Personen, die ausschließlich Suizidversuche gegangen haben. Weniger deutlich sind die Unterschiede im klinischen Falle zwischen Patienten mit selbstverletzendem Verhalten und denjenigen, die keine Selbstschädigungen aufweisen.

Die Beeinträchtigung, die als gegenwärtige Belastung interpretiert werden kann, steigt also über die Gruppen an. Der Grad an Belastung scheint daher entscheidend mitzubedingen, ob selbstverletzendes Verhalten oder ein Suizid(versuch) zur Bewältigung herangezogen wird. Allerdings ist eine solche Interpretation vor dem Hintergrund eines Vulnerabilitäts-Stress-Modells nur gültig, wenn von einer ähnlichen Verwundbarkeit für beide Selbst-schädigungstypen ausgegangen wird. Wie bereits erwähnt, dürfte dies primär für die Gruppe gelten, die schon selbstverletzendes Verhalten als auch Suizidversuche durchgeführt hat.

Den Resultaten von Jacobson et al. (2008) ist zu entnehmen, dass die Häufigkeit der Anwendung von Selbstschädigungen punktuell über die Gruppen bei klinischen Personen ansteigt und dass Personen mit selbstverletzendem Verhalten und Suizidversuchen, sich am meisten selbst schädigen. Dies stützt die Annahme, dass das Belastungsniveau zudem mit der Anzahl der Selbstschädigungsepisoden korrespondiert (Walsh, 2007).

Die Implikationen für die Verhaltensdiagnostik bestehen darin, das Vorliegen von Suizidversuchen in der Vergangenheit zu überprüfen, was auch die verhaltensdiagnostische Checkliste von Nitkowski und Petermann (2009a, Anhang B) nahelegt. Ferner sollte dringend das Belastungsniveau durch das Abprüfen bestehender psychischer Störungen und psycho(-sozialer) Schwierigkeiten abgeschätzt werden, da dieses im Zusammenhang mit dem zukünftigen Suizidversuchen in Verbindung stehen könnte und daher von diagnostisch-therapeutischer Bedeutung ist.

Kritische Würdigung und Ausblick 47 und in Relation mit auslösenden, inneren und äußeren Bedingungen gesetzt. In Mittelpunkt der Erfassung stehen die Motive und Funktionen. In der funktionalen Diagnostik kann selbst-verletzendes Verhalten als dysfunktionale Strategie verstanden werden, mit der erwünschte Bedingungen oder innere Zustände erzeugt beziehungsweise assoziierte Belastungen reduziert werden sollen. Unter entwicklungspsychopathologischer Perspektive kann in dem Verhalten eine Fehlanpassung gesehen werden (Petermann & Resch, 2008).

Die Forschung hat sich den Funktionen von selbstverletzendem Verhalten intensiv gewidmet und die Bedeutsamkeit für das Auftreten deutlich herausgestellt (zusammenfassend: Klonsky, 2007). Dies stützt das Verständnis von selbstverletzendem Verhalten als dysfunktionale Bewältigungsstrategie. Entsprechend kann die Erstellung von Funktions- oder. Verhaltensanalysen bei selbstverletzendem Verhalten empfohlen werden.

Durch Analyse der der auslösenden Bedingungen und der Auswirkungen des Verhaltens auf die Umwelt und die Person selbst, kann das selbstverletzende Verhalten umfassend erklärt werden und die Determinanten erschlossen werden. Diese Informationen stellen die Weichen für die Auswahl der Behandlungsmethoden (Walsh, 2007).

Für eine kognitive Verhaltenstherapie scheint dieser diagnostische Zugang zwingend, können doch direkt „Angriffspunkte“ für Interventionen ausgemacht werden. Zudem gestattet das zugrundeliegende Verständnis von selbstverletzendem Verhalten als maladaptive Bewältigungsstrategie dem Therapeuten schneller eine Vertrauensbasis und Arbeits-atmosphäre aufzubauen, da die Selbstschädigungen in ihrem Sinn nachvollzogen und so akzeptiert werden können. Negativen Schutzreaktionen des Therapeuten, wie Abwertungen oder Ironie (Walsh, 2006), wird so entgegengewirkt.

Kliniker, die nicht mit kognitiv-lernpsychologischen Konzepten vertraut sind, können eine vereinfachte Verhaltensanalyse auf der Ebene „Verhalten-in-Situationen“ (Kanfer Reinecker & Schmelzer, 2000) anhand des verhaltensdiagnostischen Modells und der beige-fügten Checkliste von Nitkowski und Petermann (2009a, Anhang B) erstellen. Das verhaltensdiagnostische Bedingungsmodell stellt eine Erweiterung des „Experiential Avoidance Model“ (Chapman et al., 2006) dar, weil in ihm gegenüber dem ursprünglichen Modell der Multifunktionalität selbstverletzenden Verhaltens und der Erscheinung als psychische Störung Rechung getragen wird.

Günstig an Modell und Checkliste ist die Berücksichtigung weiterer Erscheinungs-merkmale des Verhaltens, die genuin nicht für die Verhaltenserklärung, aber für die Beschreibung relevant sind, und die Abbildung von potenziellen Vulnerabilitätsfaktoren, die im Interviewleitfaden von Walsh (2006, 2007) nicht aufgenommen wurden. Ein wichtiger

Schritt für Diagnostik und Behandlung wird in dem Modell dadurch getan, dass das selbstverletzende Verhalten in Relation zur Symptomatik psychischer Störungen gesehen und in zwei Schwereformen unterschieden wird. So kann selbstverletzendes Verhalten als ungünstige Bewältigungsreaktion oder pathologische Bewältigungsform aufgefasst werden.

Schwächen dieses Modell sind in der Konzeption bezüglich der durch das selbstverletzende Verhalten ausgelösten Belastung zu sehen. Nichtsdestoweniger stellt das Modell auch einen wichtigen Beitrag zur Forschung dar, weil es ein umfassendes Bild von selbstverletzendem Verhalten zeichnet, das in dieser Form noch nicht vorliegt.

Auch unter der funktionalistischen Perspektive sieht man sich mit der Frage konfrontiert, wie der Widerspruch zwischen impulsiver und absichtlicher Ausführung (bei der Anwendung als Bewältigungsstrategie) aufzulösen ist (Kap. 2.3.1). Die kognitiv-lerntheoretische Fundierung der Verhaltensdiagnostik bietet jedoch mehr Möglichkeiten, beide Facetten zu vereinen. So könnte davon ausgegangen werden, dass eine zunehmende Verfestigung des selbstverletzenden Verhaltens als Strategie mit einer Automatisierung einhergeht. Diese könnte dazu führen, dass das Verhalten unbewusst und zügig, also impulsiv, abgerufen wird.

Da sich auch Suizidversuche als Bewältigungsstrategien verstehen lassen, kann das verhaltensdiagnostische Modell auch für diesen Typus angewendet werden (Nitkowski &

Petermann, 2009a, Anhang B). Da sich in der Erfassung nur an konkreten Verhaltensweisen orientiert wird, kann diskutiert werden, ob eine Einordnung als Suizidversuch oder als selbst-verletzendes Verhalten, wie bisher vorgenommen, nötig erscheint. Dennoch sollte eine Abgrenzung in der Praxis ermöglicht werden, da diese für weitere therapeutische Schritte entscheidend ist (Nitkowski & Petermann, angenommen, Anhang D). Entsprechend muss auch das Merkmal „Suizidabsicht“ miterfasst werden (Petermann, Winkel & Nitkowski, 2009). Im verhaltensdiagnostischen Modell wäre diese kognitive Komponente nach den auto-matischen Gedanken einzuordnen.

Als Nachteil des funktionalistischen Ansatzes anhand des verhaltensdiagnostischen Modells ist die unpräzise Erfassung der Belastung (über die Anzahl an Problemen oder vorliegenden Störungen) und der Effektivität des Verhaltens in der Umsetzung der Motive zu nennen. Eine genaue Bestimmung kann sehr hilfreich sein, um schlussfolgern zu können, wie deutlich das Verhalten durch vorausgehende Bedingungen ausgelöst und durch Verstärkung aufrechterhalten wird.

Dimensionaler Ansatz 49

4 Dimensionaler Ansatz

Der dimensionalen Diagnostik liegt die Annahme zugrunde, dass sich psychische Störungen anhand von kontinuierlich verteilten Merkmalen beschreiben lassen (Döpfner, 2008).

Psychische Phänomene werden in ihrer Erscheinungsweise hinsichtlich Häufigkeit und Intensität beurteilt (Bastine, 1998). Dieser Vorgabe folgend, wird selbstverletzendes Verhalten über die Ausprägung in kennzeichnenden Merkmalen abgebildet. Dimensionale Einschätzungen werden recht häufig in Praxis und Forschung vorgenommen, so dass bereits entsprechende psychometrische Diagnoseinstrumenten zur Erfassung von selbstverletzendem Verhalten entwickelt wurden (Nitkowski & Petermann, 2009b, Anhang C).

Im Gegensatz zur Ansicht in der kategorialen Diagnostik, es bestünde ein qualitativer Unterschied zwischen normalen und pathologischen Verhalten, wird im dimensionalen Ansatz ein fließender Übergang angenommen. Dies impliziert, dass sozial akzeptierte, in ihrer Intensität abgemilderte Erscheinungsformen von selbstverletzendem Verhalten vorliegen. Im dimensionalen Ansatz werden zur Grenzziehung empirisch-statistische Wert („Grenzwerte“) ermittelt, so dass eine Einteilung in auffälliges und unauffälliges Verhalten möglich wird - ein Vorgehen, das genuin ein Element kategorialer Diagnostik darstellt, aber letztlich den Einsatz der dimensionalen Diagnostik in der klinischen Praxis rechtfertigt. Der statistischen Norm kommt bei der Definition dessen, was psychisch gestört ist, die entscheidende Bedeutung zu (Bastine, 1998; Döpfner, 2008).

Neben der Beziehung zu sozial akzeptierten Formen, ist im dimensionalen Ansatz die Relation zu weiteren Selbstschädigungstypen zu thematisieren. Entsprechend dem Ansatz müssten sich beispielsweise Suizidversuche mit selbstverletzendem Verhalten auf einem Kontinuum angeordnet werden lassen. Hierfür müssten sich beide Selbstschädigungstypen auf den gleichen Dimensionen hinreichend beschreiben lassen. Dies setzt eine hohe Ähnlichkeit der Phänomene voraus.

In Folge soll geklärt werden, ob und wie die Gemeinsamkeiten selbstverletzenden Verhaltens und Suizidversuchen diagnostisch ausgenutzt werden können. Eine Möglichkeit bietet der multidimensionale Selbstschädigungsraum. Bevor dieser vorgestellt wird, sollen empirische Befunde referiert werden, die aufzeigen, dass selbstverletzendes Verhalten und Suizidversuche ineinander übergehen, wie es im dimensionalen Zugang vermutet wird.

4.1 Differenzialdiagnostik von selbstverletzendem Verhalten