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Kritik der Reform

Im Dokument zung Entwicklung (Seite 115-153)

Die Umwälzung der Agrarverhältnisse in der Republik Lettland

4. Kritik der Reform

a ) D i e B e g r ü n d u n g d e r R e f o r m d u r c h d i e L e t t e n . Die lettische Agrarreform stellt ein Ergebnis zweier Ideen­

richtungen dar: der russischen agrarsozialistischen Theorie, deren Wirksamkeit sich auf den gesamten europäischen Osten erstreckt, und des Nationalismus in der spezifischen Fassung, wie er sich bei denjenigen osteuropäischen Völkern entwickelt hat, die durch lange Zeiten fremdvölkischer Herrschaft unterworfen waren.

Hierin zeigen Estland, Lettland, Polen und Tschechien nahe ver­

wandte Züge. Der aggressive Nationalismus hat hier die Grenzen des Kulturkampfes weit überschritten und richtet sich gegen Eigentum und Existenz der ehemals herrschenden andersrassigen Schichten. Die schärfsten Formen hat dieser Vernichtungskampf in Lettland und Estland angenommen. Der russische Agrar-Sozialismus diente hier als theoretische Begründung einer natio­

nalistischen Agrarpolitik.

Der in seiner Einfachheit bestechende Satz: „Der Boden — dem Bearbeiter!" hatte auf die Psyche des lettischen Volkes eine nach­

haltige Wirkung ausgeübt. Das Beispiel des Nachbarstaates Ruß­

122) Bestimmungen über die Überlassung usw., а. а. O., Art. 6.

123) Bestimmungen über die Überlassung usw., а. a. 0., Art. 6, Anm. 2.

124) Bestimmungen über die Überlassung usw., а. a. 0., Art. 6, Anm. 2.

125) Z. E. V. Nr. 7 v. 1. IV. 1921. Protokoll der Sitzung des Zentral­

komitees v. 17. III. 1921, pg. 10.

126) Z. E. V. Nr. 2 vom Dezember 1920. Verordnung des Landwirt­

schaftsministers vom 23. XII. 1920, Art. 10, Anm.

127) Balt. Bl. Nr. 48 v. 1. XII. 1921, pg. 369.

land, das seinen inneren Aufbau nach kommunistischen Grund­

sätzen radikal umgestaltete, ohne die Notwendigkeit historischer Kontinuität anzuerkennen, erleichterte den Randstaaten die Be­

schreitung eines ähnlichen Weges. Daß die Forderung der Über­

gabe des gesamten Bodens ausschließlich an die Bearbeiter nicht bis in seine letzten Konsequenzen zur Durchführung gelangte, ist einerseits auf den Einfluß der bürgerlichen Parteien zurückzu­

führen, andererseits aber auf das Bestreben, alles Gutsland restlos zur Aufteilung gelangen zu lassen, um durch Schaffung einer voll­

endeten Tatsache Ansprüche der ehemaligen Gutseigentümer auf unverteiltes Land auszuschließen. Bei einer Verteilung nur an die eigentlichen Bearbeiter hätte nämlich ein Teil des Landes frei bleiben müssen.

Die Herbeiführung einer „allgemeinen Gerechtigkeit" durch Nivellierung der sozialen Unterschiede schwebte den sozialistischen Parteien als Ziel vor, wie die häufig drastischen Reden ihrer Führer im Parlament zeigen. Die Einebnung der sozialen Abstufungen, die die Landaufteilung herbeiführen mußte, diente den sozialisti­

schen Parteien als ständig betontes Argument zugunsten der Re­

form. Es seien hier zwei Beispiele angeführt.

Der Führer der Sozialdemokraten, Buschewiz, verlangte in einer Parlamentsrede, der Adel müsse zuerst erniedrigt werden und der letzten Schicht, den Landlosen, gleichgestellt werden, dann erst dürfe er auf Grund der allgemeinen Gerechtigkeit ev. Land er­

halten x).

Der Vertreter der Partei der Landlosen, Wellner, führte zur Frage der Entschädigungszahlung an die Gutseigentümer aus: „Ge­

rade vom Standpunkt der Gerechtigkeit kann keine Rede sein von einer Verpflichtung zur Entschädigung. Der Adel hat herrlich ge­

lebt und lebt auch heute noch besser, als die neuangesiedelten Landleute. Welche Logik ist es, diejenigen, gegen die gekämpft worden ist, besser zu stellen als die, die sie besiegt haben 2).

In weit höherem Maße jedoch, als agrarsozialistische Ideen, haben nationalpolitische Gesichtspunkte auf die Neugestaltung der Agrarverhältnisse eingewirkt. Der nationale Gegensatz zwischen Deutschen und Letten hatte durch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte, insbesondere die lettische Revolution von 1905 und ihre Niederwerfimg, durch die Haßpropaganda der russischen Re­

gierung während des Weltkrieges gegen das Deutschtum im Lande und durch die bolschewistische Revolution seinen Höhepunkt er­

reicht. In diesem Moment nun gab die Gründung des lettischen

1) Balt. Bl. Nr. 60/61 v. 16. IX. 1920, pg. 202.

2) Rig. R. Nr. 116 v. 26. V. 1922, pg. 5.

Staats das Schicksal der deutschen Minorität in die Hand der Letten. Es war natürlich, daß der Angriff in erster Linie gegen die Stelle gerichtet wurde, die den stärksten Halt des Deutschtums bedeutete. Das Großgrundeigentum wurde als Raub am Besitze des Volkes hingestellt; der Orden habe in früheren Jahrhunderten die Letten entrechtet und auf dem geraubten Lande seine Güter begründet; die Enteignung derselben durch das lettische Volk sei daher nur eine „Wiedergutmachung" früheren Unrechts. Diese Anschauung der Letten und Esten hat der estnische Politiker und Publizist Luiga ausdrucksvoll wiedergegeben. Er sagt, das Volk frage sich: „Müssen die Belgier den Deutschen etwa eine Ent­

schädigung zahlen, weil die Deutschen Belgien wieder räumen mußten? Solange die Ritterschaften die Macht hatten, haben sie mit dem Lande geschaltet und gewaltet, wie es ihnen gut dünkte, ohne jemals zu fragen, was wir wünschen; warum dürfen wir es nicht ebenso tun?" 3) Ohne selbst diese Auffassung des Volkes ganz zu teilen, erhebt Luiga andere Angriffe gegen das Verhalten der Ritterschaften in der Vergangenheit, welches seiner Meinung nach nur Haß erzeugt habe. Solch ein Verschulden liege in der Befreiung der Bauern ohne gleichzeitige Landzuteilung, in der Schaffung des einziehbaren Quotenlandes bei der Reform von 1849 in Livland, und in der Ansetzung deutscher Kolonisten durch die Gutsbesitzer. Diese Vorwürfe wiederholen sich in der lettischen Publizistik häufig. Es ist zuzugeben, daß die Reformen von 1817 und 1819 in Livland und Kurland an dem Fehler krankten, den Luiga anführt; dem damaligen Zeitemnfmden schien jedoch das Eigentum des Gutsherrn am gesamten Bauerlande selbstverständ­

lich, und auch die Volksfreunde der damaligen Zeit sahen hierin keinen Fehler 4). Als sich herausstellte, daß zu einer gedeihlichen Entwicklung der Agrarverhältnisse die Schaffung eines Standes bäuerlicher Eigentümer notwendig sei, geschah dieses in Livland durch die Reform von 1849, welche die wirtschaftliche Emanzi­

pation des Bauern zwölf Jahre früher vollzog, als das übrige Ruß­

land überhaupt an die persönliche Befreiung des Bauern schritt.

Im Jahre 1863 folgte Kurland.

Das durch die Reform von 1849 den Gutsherren zur Ein­

ziehung freigegebene Quotenland umfaßte nur den fünften Teil des gesamten Bauernlandes und die tatsächliche Einziehung traf nur einen geringen Bruchteil desselben. Die weitaus größere Zahl der einziehbaren Höfe blieb in weiterer Pachtnutzung der Bauern oder wurde an diese verkauft. Im Jahre 1911 waren nicht an Bauern verkauft 331 587 Lofstellen Quotenland5), von diesen

3) Rig. R. Nr. 73 V. 4. IV. 1921, pg. 5.

4) Garlieb Merkel, Die freien Letten und Ehsten, Leipzig 1820.

5) Skujeneeks, Latwija, pg. 245.

waren zu den Gutswirtschaften eingezogen 23 %, während 77 % sich in bäuerlicher Nutzung befanden. Im Jahre 1917/18 waren vom Gesamtareal der Quote 31,5 % verkauft®). Der Verkauf des Quotenlandes war durch ein von der russischen Regierung im Jahre 1893 erlassenes Gesetz behindert. Ferner darf nicht ver­

gessen werden, daß die Agrarreformen des 19. Jahrhunderts ganz allgemein Teile des Bauernlandes zum Einziehen frei gaben; es sei hier nur an die preußische Bauernbefreiung und an die russische vom Jahre 1861 erinnert7). Die unhistorische Denkweise Luigas, Erscheinungen der Geschichte gelöst von ihrem historischen Hin­

tergrunde mit den Anschauungen der Gegenwart zu messen, bildet eine wesentliche Schwäche der meisten Urteile der Letten und Esten über baltische agrargeschichtliche Fragen.

Die Ansetzung deutscher Kolonisten durch baltische Guts­

besitzer, die Luiga als Verfehlung gegen das lettische und est­

nische Volk bezeichnet, fand auf Gutsland statt, griff daher nicht in Rechte oder Interessen der lettischen Bauernschaft ein. Eine Bedrohung ihres Volkstums durften sie darin nicht sehen, denn dazu fand die Kolonisation in viel zu geringem Maßstabe statt.

Die Stellung des Volks zur Agrarfrage, wie sie Luiga dar­

stellt, beruht auf der Hypothese, das Rittergut sei zur Ordenszeit auf Äckern entstanden, die die Ritter dem Bauern gewaltsam ent­

rissen hätten. Die Unhaltbarkeit dieser Annahme ist schon in den Ausführungen über baltische Agrargeschichte dargetan worden 8).

Trotzdem hat dieser Gedanke in der Begründung der Reform durch die Letten eine hervorragende Bedeutung. Daß dieses Argument überhaupt als Motivierung praktischer Maßnahmen herangezogen werden konnte, beweist einen Mangel an historischem Sinn. Vor­

ausgesetzt sogar, daß die Behauptung zutreffend sei, würde sie doch nicht die Sühnung von Unrecht, das im 13. und 14. Jahr­

hundert durch Orden und Vasallen geschehen ist, an Gutsbesitzern des 20. Jahrhunderts rechtfertigen können.

Die Entstehung des großen Grundbesitzes in Deutschland und im übrigen Westeuropa beruht auf demselben historischen Prozeß, den auch das Baltikum durchlaufen hat, es ist aber bisher eine Agrarreform hier nicht in der angeführten Weise motiviert worden.

Selbst die radikalsten Parteien Deutschlands gehen in ihrem Agrarprogramm nur von der gegenwärtigen Lage aus, um die Zu­

stände den sozialen und wirtschaftlichen Forderungen der Jetztzeit anzupassen, wollen aber nicht das Rad der Weltgeschichte um Jahrhunderte zurückdrehen, und eine Restitution der damaligen Grundbesitzverteilung herbeizuführen.

6) Skujeneeks, Latwija, pg. 248.

7) W. D. Preyer, Die russische Agrarreform, Jena 1914, pg. 4 ff.

8) Vgl. oben pg. 13 ff.

Nichtsdestoweniger wandte dieses Argument ein sozialdemo­

kratischer Führer, Zeelens, an, als er in einer Konstituantenrede erklärte: „Wer das römische Recht kennt, weiß, daß die Grund­

lage des Eigentums der iustus titulus ist. Der Adel aber hat alles mit Gewalt genommen. Zur Zeit der Güterreduktion konnten fünf Sechstel des Adels ihr Besitzrecht nicht nachweisen. Es handelt sich bei uns um das Feudalsystem, für das im demokra­

tischen Lettland kein Platz ist" °).

Auch im amtlichen Organ des Finanzministeriums, dem

„Ekonomists", wird dieselbe Anschauung vertreten. Es heißt dort aus Anlaß des ersten Jahrestages des Agrargesetezes: der lettische Bauer habe sich nach 700 Jahren das Recht verschafft, auf seine seit alters her bearbeitete Scholle zurückzugelangen, welche der deutsche Orden mit Gewalt und List enteignet habe 10).

Aus diesem Gedanken der „Wiedergutmachung" geschehenen Unrechts heraus haben lettische Politiker von der Tribüne der Konstituante herab Äußerungen getan, die an die Schaffung eines Faustrechts erinnern.

Bauer, ein Vertreter der Neuwirte und Landlosen, beantragte allen denjenigen Besitzern enteigneter Ländereien, die den ört­

lichen Adelsmatrikeln angehörige Edelleute seien, keine Ent­

schädigung für die Güter zu zahlen. Alle übrigen Besitzer, be­

sonders diejenigen lettischer Nationalität, die durch eigenen Schweiß Gutsbesitzer geworden seien und deren Zahl gar nicht so gering sei, wie auch die Kirche müßten entschädigt werden. Dem Adel seien die WTaffen schon entwunden worden, und zwar am 22. Juni auf dem Schlachtfelde bei Wenden. Es liege gar kein Grund vor, mit seidenen Handschuhen an das Gesetz heran­

zugehen

Auf demselben Gedanken beruht die Begründung, die der Referent der Agrarkommission bei Verhandlung des Agrargesetzes für die Ablehnung der Zuweisung von Restgütern vorbrachte:

„Keine der Parteien", sagte er, „ist in den Kampf gezogen mit dem Versprechen, dem Adel Land zu geben, wohl aber denen, die für das Land gekämpft haben. Diese stehen vor der Tür zum Lande. Sie sollen sie ihnen auf tun. Sie aber geben zuerst denen, gegen die das Volk gekämpft hat und denen es das Land genommen hat. Sie stoßen das Volk zurück und verhelfen wieder dem schwarzen Ritter zur Macht]").

In auffallendem Kontrast hierzu steht die Behandlung der

9) Rio-, R. Nr. 116 v. 26. V. 1922, pg. 5, Parlamentsverhandlungen.

10) Ekonomists Nr. 18 v. 15. IX. 1921, pg. 665.

11) Lib. Z. Nr. 142 v. 1. VI. 1922, pg. 1, Parlamentsverhandlungen.

12) Rig. R. Nr. 104 v. 8. IX. 1920, pg. 5, Parlamentsverhandlungen.

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Agrarfrage durch die deutschen Mehrheitssozialdemokraten. Hat doch das deutsche Reichssiedlungsgesetz, das eine Reform im

wahren Sinne des Wortes herbeiführt, indem es auf dem historisch Gewordenen weiterbaut und schonungsvoll gegen Eigentumsrechte vorgeht, die Zustimmung der Mehrheitssozialisten erfahren x").

Die noch nicht endgültig formulierten Forderungen des Par­

teitages des Jahres 1921 in Görlitz, betreffend Agrarfragen, zeigen eine von der lettischen grundsätzlich verschiedene Auffassung.

Dort wird kein radikaler Umsturz verlangt, sondern Förderung der Siedlung, „allmähliche Überführung" der Großbetriebe in genossenschaftliche Betriebsformen und Enteignung unwirtschaft­

lich bewirtschafteter Landgüter14). Die deutsche Mehrheits­

sozialdemokratie geht mit Vorsicht an die komplizierte Agrar­

frage heran und verlangt eine wirkliche Reform, d. h. eine all-mählige Überleitung in neue Formen ohne Bruch mit den historisch gegebenen Tatsachen.

Bei den lettischen bürgerlichen Parteien waren Gründe der Nationalpolitik ausschlaggebend. Die Belassung eines Restgutes, für die die große Bauernpartei, der Bauernbund, eintrat, wurde damit motiviert, daß eine restlose Enteignung den Gutsbesitzern ein Agitationsmittel gegen die Reform in die Hand geben würde 15).

Die Regierungsstellen unterstützten den Standpunkt natio­

naler Machtpolitik. Das amtliche Verordnungsblatt des Zentral-landeinrichtungskomitees, der „Landeinrichtungsbote", brachte zum ersten Jahrestag des Agrargesetzes einen Artikel, in dem es heißt: „Die Politik des Landes hat es dringend erfordert, daß die ökonomische und politische Macht derjenigen Klasse gebrochen würde, die immer das Volk ausgesogen hat und die die Demokratie nur hassen kann. Der Adel hat mit großen Mitteln Truppen orga­

nisiert. Sie sind aber von der lettischen Heldenschar zermalmt worden. Lettland kann sich nicht sicher fühlen, solange seine Feinde Geldmittel haben, um neue Kräfte zu organisieren. Die Sicherheit des Staates erfordert, damit diese feindliche Macht ent­

waffnet werde, die Fortnahme ihrer Kraftquelle, des großen Grund­

besitzes" 16). Erst an zweiter Stelle wird das sozial- und bevölke­

rungspolitische Argument für die Reform angeführt. Diese Aus­

führungen charakterisieren die Anschauungen der höchsten Be­

hörde, die das Agrargesetz in die Wirklichkeit umzusetzen hat.

13) Dr. F. Darmstädter-Heiversen, Neue Tendenzen im deutschen Sozialismus in seiner Stellung zur Siedlungsfrage. Arch. f. inn. Kolonisa­

tion, Bd. 12, Berlin 1920, pg. 54.

14) Eduard Bernstein, Das Görlitzer Programm der Sozialdem. Partei Deutschlands, Berlin 1922, pg. 56 und 57.

15) Rig. R. Nr. 204 v. 8. IX. 1920, pg. 5, Parlamentsverhandlungen.

16) Z. E.V. Nr. 19 v. 16. IX. 1921, pg. 8.

Die Behauptung, der Adel habe die Truppen Bermondts organi­

siert, ist unwahr wie der Ausgang der zahlreichen Hochverrats­

prozesse beweist, nur in einigen wenigen Fällen erwiesen sich die Anklagen als begründet. Daß aber die deutsch-baltischen Truppen, unter ihnen der größte Teil der waffenfähigen männ­

lichen Glieder des Adels, zur Zeit des Bermondt-Abenteuers auf lettischer Seite an der Befreiung des Landes von den Bolschewisten teilnahmen, wird vergessen, ebenso, daß Lettland seine Existenz denselben Truppen verdankt. Die Wiedereroberung Kurlands und Rigas, durch die erst die territoriale Grundlage für den Staat geschaffen wurde, war hauptsächlich das Werk der aus deutschen Landeskindern bestehenden Baltischen Landeswehr.

Die Agrarreform ist, wie es auch aus den Äußerungen letti­

scher Politiker und Publizisten hervorgeht, in erster Linie nationalpolitisches Kampfmittel. Wäre das Ziel allein ein sozial-und bevölkerungspolitisches gewesen, hätten aus Zweckmäßig­

keitsgründen ganz andere Prinzipien gewählt werden müssen, als es geschah; es hätten dann die Agrarreformprojekte der Ritter­

schaften zur Annahme gelangen müssen. Eine gemäßigte Reform hätte den Siedlungszwecken viel besser genügt, als die radikale Umwälzung, die das Agrargesetz herbeiführte.

Diese Erkenntnis ist auch in lettischen Kreisen nicht fremd.

In der Zeit seiner Amtstätigkeit als Landwirtschaftsminister er­

klärte Samuel in der Konstituante, daß die Agrarreform, obgleich sie wirtschaftlich schädlich sei, doch zu Ende geführt werden müsse, weil durch sie der fremdstämmige Gutsbesitzerstand des Landes den Todesstoß erhielte 17).

Die lettische Agrarreform steht ganz im Zeichen eines ego­

istischen Nationalismus, der bei der Erreichung seiner Ziele keine Schranken kennt. Die angeführten Äußerungen, aus denen die Anschauung spricht, das lettische Volk habe das Land erobert,-und könne als Sieger mit ihm verfahren, wie es wolle, kenn­

zeichnen die ganz allgemeine Auffassung der Agrarfrage. Die Reform ist ein Diktat des Siegers an den Geschlagenen. Daß bei dieser Einstellung auch die Ausführung des Agrargesetzes jede Loyalität vermissen läßt, kann nicht Wunder nehmen. Die Re­

formbehörden fühlen sich als Anwälte des lettischen Volks gegen­

über dem deutschen Großgrundbesitzer, dem Usurpator, gegen den jedes Kampfmittel erlaubt ist.

Es liegen auch schon scharfe Urteile aus lettischer Feder vor.

Ein Kritiker der Reform schrieb: „Sie (die Agrarreform) ist darum mißlungen, weil sie überhaupt keine Agrarreform, sondern eine

17) Rig. R. Nr. 85 v. 23. IV. 1923, pg. 2, Artikel von W. Baron Fircks.

politische Phantasie war." Auf die Frage, wras das Ziel der Re­

form gewesen sei, antwortet er: „Die Agrarreform sollte die wirt­

schaftliche Macht der Deutschen in Lettland zerstören und andererseits sollte sie so ausfallen, daß die Stimmen der Landlosen diejenigen Parteien erwarben, welche diese Reform ausgearbeitet und beschützt, haben" 18).

Wenn auch zum Verständnis der Reform angeführt werden muß, daß das lettische Volk sein staatliches Leben gerade in dem Moment begann, wo infolge des Weltkrieges Nationalismus und Rassenhaß in großen Teilen auch des sonstigen Europa ihren Höhepunkt erreicht hatten, so kann der Reform und ihrer Durch­

führung der Vorwurf tiefgehendei1 Mängel doch nicht erspart werden.

b ) R e c h t l i c h e F r a g e n .

Die radikale Agrarreform in Lettland findet weder in der wirtschaftlichen Verfassung des Landes, noch in der Grundbesitz­

verteilung einen zureichenden Grund. In der Form, wie sie be­

schlossen wurde und durchgeführt wird, stellt sie eine Entrechtung einer Minderheit durch eine Mehrheit dar. Wenn auch der Staat grundsätzlich in der Vernichtung und Schaffung von Rechten keine Schranken, außer denjenigen, die er sich selbst setzt, kennt, so wird ein Kulturstaat, der auf dem Boden des Privateigentums steht, das Postulat anderkennen müssen, daß wohlerworbene Rechte nur insoweit abgelöst oder aufgehoben werden dürfen, als das Gemeinwohl es gebieterisch verlangt. Jeder Schritt darüber hinaus führt zu einer Erschütterung der Grundlagen des Staates selbst.

Lettland ist mit seinem Agrargesetz weit über dasjenige Maß hinausgegangen, welches zu einer gesunden Sozialpolitik erforder­

lich war. Dieses Ziel hätte mit Mitteln erreicht werden können, die ein rücksichtsloses Hinwegschreiten über Eigentumsrechte nicht bedeutet hätten.

Die deutsche Reichssiedlungsverordnung vom 29. 1. 1919, die zu einer Zeit zur Herausgabe gelangte, wo Deutschland sich noch im Zustande der Revolution befand, und daß ihr wesentlich gleiche Reichssiedlungsgesetz vom 11. 8. 1919 sehen in der Zwangsent­

eignung das letzte Auskunftsmittel, wenn durch freihändigen An­

kauf und durch Ausnutzung des Vorkaufsrechts durch Siedlungs­

unternehmungen und Landlieferungsverbände nicht die erforder­

lichen Flächen beschafft werden können 19). Die zur Vornahme der

18) Ap mtihsu agraro reformu. No kahda praktiska latweeschu sem-kopja (Vorwort von A. Kauls), Riga 1922, pg. 4 und 5.

19) Reichssiedlungsgesetz v. 11. VIII. 1919, § 15. Gutte'ntagsche Sammlung Deutscher Reichsgesetze Nr. 140. Berlin und Leipzig 1920.

Zwangsenteignung befugten Siedlungsunternehmen und Land­

lieferungsverbände sind hierbei jedoch gehalten, in erster Linie Güter, die von Nichtlandwirten während des Krieges erworben worden sind, Güter, die Spekulationsobjekte geworden sind, schlecht bewirtschaftete Güter und solche, auf denen die Besitzer sich nicht dauernd aufzuhalten pflegen, und Bestandteile von Latifundien, zu enteignen20). Um überflüssigen Eingriffen vorzubeugen, wird dem Gutsbesitzer, dessen Gut der Zwangs­

enteignung verfiel, ein Rückkaufsrecht eingeräumt, falls das Gut binnen 10 Jahren nicht zu Siedlungszwecken verwandt worden ist21). Der Landlieferungsverband kann zur Lieferung eines Drittels der landwirtschaftlichen Nutzfläche der Güter über 100 ha angehalten werden22). Das Reichssiedlungsgesetz geht bei dem Eingriff in bestehende Rechte so schonend vor, als es irgendwie mit dem Zweck des Gesetzes vereinbar ist. Nur wenn alle anderen Mittel versagen, tritt die Zwangsenteignung ein, aber auch dann nur gegen eine angemessene Entschädigung23).

Anders das lettische Gesetz. Dieses enteignet ipso iure die gesamten Güter, einschließlich des Waldes, der für Siedlungs­

zwecke nicht in Betracht kommt, ohne irgendwelche Rücksichten auf die bestehenden Rechte zu nehmen. Diese werden annulliert.

Es scheint, als ob diese Enteignung einer Konfiskation gleich­

kommen wird, da die Entschädigungszahlung wohl weit unter einem Jahresertrag der Güter liegen wird. Diese Erschütterung des Bodeneigentums in einem Agrarstaat ist ein agrarpolitischer Fehler, denn der Siedler, der auf diesem Wege das Land erhalten hat, wird sich nie völlig sicher im Besitze desselben fühlen können.

Es handelte sich für die Lettländische Konstituante bei Edierung des Agrargesetzes um eine völlige Entwurzelung der deutschen Großgrundbesitzer. Dieses Bestreben hat dem Gesetze seinen Charakter gegeben, der in einer weitgehenden Benachteili­

gung der Gutseigentümer zum Ausdruck kommt, auch wo die Reform es ihrem Wesen nach nicht erfordert. Der Gutsbesitzer

gung der Gutseigentümer zum Ausdruck kommt, auch wo die Reform es ihrem Wesen nach nicht erfordert. Der Gutsbesitzer

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