Die Beiträge dieses Bandes fassen ‚Institutionen‘ als soziale Arrangements auf, die nicht auf juristische Fundierung oder sanktionierte Etablierung angewiesen sind. Eine Besorgnis in der Auseinandersetzung mit Institutionen scheint in weiten Teilen der Forschung die Frage der Ontologie zu sein, d.h. die Frage danach, ob etwas eine Institution ist oder nicht. Diese Frage, die für manche der in diesem Band behandelten Phänomene durchaus kontrovers diskutiert wurde – wie z.B. für den Fall der islamischen Rechtsschulen (Beitrag Jokisch) – oder aber kaum je in Anschlag gebracht wurde – wie bei den Künstlerwerkstätten der italienischen Renaissance (Beitrag Reufer) – ist hier nachrangig gegenüber einem Kriterienkatalog, der uns hinreichend erscheint, um Phänomene unter dem Schlagwort des Institutionellen vergleichend zu diskutieren. Die große histori-‐‑
sche Spannweite der im SFB 980 wie in diesem Band behandelten Gegenstände macht es notwendig, den Begriff der Institution auf ein Set von Parametern zu gründen, mit denen die Minimaldefinition von Berger und Luckmann zugleich aufgegriffen und erweitert wird.3 Die folgenden Parameter wurden auf der Grundlage der im SFB 980 untersuchten Gegenstände herausgearbeitet:
Institutionen sind soziale Konfigurationen, die aus menschlicher Interaktion hervorgehen und programmatisch auf Dauer gestellt sind. Um diese Permanenz zu etablieren, gründen sie sich auf habitualisierte und repetitive Praktiken, die, so formulieren es Berger und Luckmann, sicherstellen sollen, „that the action in question may be performed again in the future in the same manner and with the same economical effort“.4 Prozesse der Habitualisierung stehen oft am Beginn der Herausbildung einer Institution, doch ist deren Aufrechterhaltung mit Kosten und der Zuweisung nicht unbeträchtlicher Ressourcen verbunden.
Zugleich schaffen Institutionen durch Prozesse der Inklusion und der Exklusion ein Gefälle zwischen Innen und Außen, das der Distinktion der Institution und ihrer Mitglieder dient. Institutionelle Arrangements sind für gewöhnlich auf den Nutzen bestimmter Gruppen perspektiviert, und zugleich bilden diese typi-‐‑
scherweise eine Ideologie wie auch eine Rhetorik des Gemeinnutzes aus, die
3 „Institutionalization occurs whenever there is a reciprocal typification of habitualized
actions by types of actors. Put differently, any such typification is an institution.“ Peter L.
Berger/Thomas Luckmann, The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge, New York 1966, S. 72.
4 Berger/Luckmann, The Social Construction of Reality, S. 71.
gerade gesellschaftliche Relevanz und Unabdingbarkeit herausstreichen. Institu-‐‑
tionen sind ihren Mitgliedern nur scheinbar äußerlich, sie emergieren vielmehr aus deren Praktiken, die wiederum selbst durch die Regularien der Institution geprägt sind. Institutionen sind in diesem Sinne durch Akteure konstituiert und laufend rekonstituiert, und zugleich verkörpern Akteure die Institution.
Anthony Giddens hat diese simultane Konstitution von Akteuren und Struk-‐‑
turen als ‚structuration‘ bezeichnet.5 Dass Institutionen dadurch erfolgreich sind, dass sie ihre Macht verschleiern und dass sie symbolische Praktiken entwickeln, die ihre zugrundeliegende Ideologie ausdrücken und bestärken, sind wiederum Aspekte, die Karl-‐‑Siegbert Rehberg und die Mitglieder des SFB 537 heraus-‐‑
gearbeitet haben.6
Institutionen distribuieren soziale Positionen und verankern hierarchische Beziehungen, die bestimmte Erwartungen, Regeln, Normen und Verfahrens-‐‑
weisen implizieren. Die Asymmetrie von in Institutionen verankerten sozialen Beziehungen ist ein Aspekt, der uns besonders wichtig ist: Es gibt keinen Priester ohne einen Gläubigen, keinen Arzt ohne einen Patienten.7 Das Konzept der Institution kann somit nicht verhandelt werden, ohne nach Rollenstrukturen in der Begründung und Autorisierung von epistemischen Beständen zu fragen:
Es sei auf Lehrer-‐‑Schüler-‐‑Verhältnisse ebenso verwiesen wie auf Geschlechter-‐‑
und Generationensituierungen.
Dass Institutionen wandlungsresistent bis hin zur Verknöcherung seien, ist der unausgesprochene Konsens vieler theoretischer Ansätze, auch und gerade dann, wenn sie Institutionen nur am Rand behandeln. Claude Lévi-‐‑Strauss stellte beispielsweise in Das wilde Denken ‚heiße‘ und ‚kalte‘ Gesellschaften gegenüber, wobei letztere ‚Stabilität durch Institutionen‘ herzustellen versuch-‐‑
ten.8 In The Practice of Everyday Life hat Michel de Certeau die vielzitierte Unter-‐‑
scheidung von Strategie und Taktik vorgeschlagen: ‚Strategien‘ werden von Institutionen verfolgt, die er ‚Produzenten‘ nennt; Individuen seien dagegen
‚Konsumenten‘, ihnen bleibe als Verfahren nur die ‚Taktik‘.9 Das heißt, dass Individuen die strukturelle Macht nicht zugänglich ist, dass sie keinen Zugriff auf institutionelle Strategien haben, sondern sich vielmehr auf das taktische
5 Anthony Giddens, The Constitution of Society. Outline oft the Theory of Structuration, Cam-‐‑
bridge 1986, S. 25f.
6 Zu den ideologischen Grundlagen im Sinne einer Verarbeitung von fundamentalen Ordnungskategorien s. Mary Douglas, How Institutions Think, Syracuse, NY 1986, bes. S. 45–
53.
7 Dieser Aspekt verdankt wesentliche Anregungen dem Kriterienkatalog von Martin, die auf dieser Grundlage Gender als Institution zu verankern versucht. Vgl. Patricia Yancey Martin,
„Gender as Social Institution“, in: Social Forces 82/4 (2004), S. 1249–1273.
8 Claude Lévi-‐‑Strauss, Das wilde Denken, übers. von Hans Naumann, Frankfurt a.M. 1973, S. 270.
9 Michel de Certeau, The Practice of Everyday Life, übers. von Steven Rendall, Berkeley/Los Angeles/London 1984, bes. Kap. 3.
Unterminieren der institutionellen Ansprüche auf Standardisierung und Stabili-‐‑
sierung beschränken müssen.
Institutionen sind in der Tat geprägt von Stabilisierungsambitionen, die auf langfristige Transmissionsprozesse abzielen. Genau diese sind aber, so unsere These, zugleich Generatoren von Wandel. Präzise durch das Moment der Weitergabe wird Wandel provoziert: Alle Versuche der Tradierung, Fixierung oder Kodifizierung bringen Wissen in neue Form, provozieren einen Transfer im Sinn einer transformierenden Anverwandlung des Bestehenden, aber auch in der stillschweigenden Integration von Neuem – sei es aus anderen räumlichen oder zeitlichen Kontexten übernommen, sei es aus eigenen Traditionen fort-‐‑
geschrieben.
5. Iteration
Dieses Wechselspiel von Perseveranz und Veränderung manifestiert sich in einem Muster, das mit dem Begriff Iteration gefasst werden kann. Wenn wir von Iteration sprechen, steht nicht unbedingt der enge mathematische Sinn der Anwendung einer Operation auf die Resultate eben dieser Operation im Vorder-‐‑
grund (Dhruv Raina nimmt in seinem Beitrag darauf kurz Bezug). Tatsächlich scheint Iteration in dem engen Sinn von ‚Wiederholung‘ oft ähnlich negativ konnotiert wie ‚Institution‘, als zwanghaftes, nachgerade stupides Kopieren.10 In jüngeren Ansätzen ist dies fundamental in Frage gestellt worden. Gilles Deleuzes Positivierung der Differenz in der vermeintlichen Wiederholung, ver-‐‑
bunden mit einer Kritik an deren traditioneller, platonisch fundierter Abwer-‐‑
tung als fehlerhafte Abweichung, zielt darauf ab zu behaupten, dass das Neue nur durch Wiederholung hervorgebracht werde.11 Judith Butler identifiziert die regulierende und stabilisierende Kraft der ritualisierten Wiederholung von Nor-‐‑
men für die Herstellung von Gender.12 Auch in ihrem Ansatz ist es die Wieder-‐‑
holung selbst, die Veränderung hervorbringt.13 Butler führt den Begriff der Iteration mit der Herstellung von Wirklichkeit durch symbolische Praktiken und damit dem Performativitätsbegriff eng.14 Diese und vergleichbare kulturhistori-‐‑
sche Ansätze zum Iterationsbegriff unterstreichen das produktive Potential des Begriffes und gestehen den damit verbundenen Praktiken neben der Bestätigung des Gegebenen auch die Kreativität des Entstehenden zu.
10 Zum Verhältnis von Iteration und Replikation/Repetition s. Uwe Wirth, „Original und
Kopie im Spannungsfeld von Iteration und Aufpfropfung“, in: Originalkopie. Praktiken des Sekundären, hg. von Gisela Fehrmann u.a., Köln 2004, S. 18–33.
11 Vgl. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, übers. von Joseph Vogl, München 1992.
12 Judith Butler, Bodies that Matter. On the Discursive Limits of „Sex“, New York/London 1993, S. x, S. 2.
13 Ebd., S. 10.
14 Siehe dazu Uwe Wirth, „Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität“, in: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft, hg. von Uwe Wirth, Frankfurt a. M. 2002, S. 9–60.
Dass strenge Wiederholung im Sozialen ohnehin unmöglich sei, hat auch Rudolf Stichweh in seinem Vortrag im Rahmen der Jahrestagung des SFB 980 im Jahr 2014 herausgestrichen: „Man hat immer mit ganz kleinen Differenzen zu tun, die jeden Sinnakt von dem trennen, dessen Wiederholung er zu sein ver-‐‑
sucht.“ Und weiter: „Variation verdankt sich immer dem Versuch, korrekt zu wiederholen – und misslingt typischerweise.“15 Allerdings ist das Faktum, dass die Institutionensoziologie gleichsam selbstverständlich davon ausgeht, dass identische Wiederholung unmöglich ist, für die historische Forschung durchaus problematisch: Wie die Beiträge dieses Bandes zeigen, sind historische institu-‐‑
tionelle Formationen, von den sassanidischen Rechtsschulen über griechisch-‐‑
römische reading communities bis zu frühneuzeitlichen Universitäten einig in der Notwendigkeit, durch Wiederholung Kontinuität zu schaffen: Der Akzent liegt dabei gerade nicht auf dem kreativen Moment, sondern auf Gewissheit durch Reproduktion.
Dieser Befund stellt eine Herausforderung dar: Die historische Selbst-‐‑
beschreibung, die implizit oder explizit die Identität des Wiederholten und damit die Stabilität der Episteme behauptet, wird durch die Forschung mit Aspekten von Wandel konfrontiert, die vielfach auf der Ebene der Selbstbe-‐‑
schreibung negiert wurden. Denkt man in Kategorien von Struktur und Prozess, dann besetzt die Institution die Strukturseite, die Iteration die Prozessseite.16 These dieses Bandes ist es dagegen, dass präzise durch die strukturbildenden und damit stabilisierenden Praktiken Wandel generiert wird. Die Struktur ermöglicht damit prinzipiell eine varianzfähige Prozessualität. Der historische Befund impliziert, dass auf Stabilisierung bedachte Organisationen oder Institutionen offenbar eine Abweichungstoleranz an den Tag legen. Und nicht nur das: Auch Devianz im Sinne von nicht gewünschten Abweichungen ist möglich und dynamisiert Formen des Wandels, die unter Umständen nicht im Eigeninteresse der strukturbildenden Instanz liegen.
6. Die Beiträge dieses Bandes – tour d’horizon