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Wie ich den Kommunismus verlor

Anmerkungen zu Christoph Spehr

Natürlich wollte ich mich an dem Preisausschreibung der Rosa-Luxemburg-Stiftung beteiligen. Für einen freien Autor, der seine linke Herkunft nicht vergessen kann, war es doppelt verlockend, das Thema ebenso sehr wie der Preis, der mehr als ein Drittel meiner jährlichen Einkünfte ausgemacht hätte.

Aber dann sah ich mir die Frage genauer an: »Unter welchen Bedingungen sind soziale Gleichheit und politische Freiheit vereinbar?« Mein Gott, dachte ich, wer hat sich das denn ausgedacht. Darauf konnte man doch nur mit einem einzigen Satz antworten: Unter den Bedingungen eines wirklichen Sozialis-mus oder KommunisSozialis-mus, wie Charly Marx ihn im dritten Band des »Kapi-tals« auf die Formel von den »assoziierten Produzenten« gebracht hat, die ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, um jenseits dieses Reichs der Notwendigkeit dem Selbstzweck der menschlichen Kraftentwicklung zu leben. Oder, wie er es mit Engels in ihrer Jugendsünde, dem »Manifest«

formuliert hatte, in einer Gesellschaft, in der die freie Entwicklung eines jeden die Voraussetzung für die freie Entwicklung aller sei. Und nicht umgekehrt, wie ganze Generationen von Marxisten im real existierenden Sozialismus der DDR es buchstabiert hatten. Als Stephan Hermlin im »Abendlicht« 1979 sein Entsetzen über die falsche, aber folgerichtige, Lesart eingestand, da hatte er, ohne es zu wollen, auch schon den Abgesang auf eine alt gewordene Bewegung verfasst, die in den Ruinen ihres einstigen Ruhmes zu erstarren begann.

Eine Erstarrung überkommener Formen einer allmächtig erscheinenden Politbürokratie, über die ihre heutigen Kritiker allerdings allzu schnell ver-gessen, dass sie zugleich eben jene Dynamik an Bedürfnissen, Wünschen und Energien, eben jene Produktivkräfte geweckt und durchaus zu fördern ver-sucht hat, deren Eigenentwicklung sie immer ohnmächtiger gegenüberstand.

Und so wurde Marx durch den Untergang des zum Staat geronnenen Marxis-mus glänzend, wenn auch auf tragische und manchmal tragikomische Weise bestätigt. Statt zu jammern oder sich permanent zu entschuldigen, hätten gute Marxschüler und -schülerinnen eher Grund in homerisches Gelächter auszu-brechen und sich wieder an die (Denk-) Arbeit zu machen.

Fragt sich nur, ob das wunderbare Wort von den frei vereinten Produzen-ten, das einen jeden Humanisten zu begeistern vermag, dabei noch weiter hilft? Auch Marx hat es nicht wieder aufgegriffen, hat es nirgends mit Realien untersetzt. Es war eine Zauberformel, die den Sprung der Geknechteten in die Freiheit zum Bild verdichtet, als könnte sie das Erhoffte, das Erträumte, das bitter Notwendige durch magische Beschwörung verwirklichen. Heraus kam

ein Salto mortale, der im Zeichen der Zukunft die Befreier unterm Zwang un-beherrschter Verhältnisse in barbarische Praktiken zurückwarf.

Christoph Spehr hat nun den Versuch unternommen, die Zauberformel von allem Blendwerk zu lösen und als Aufgabe der Gegenwart zu durchdenken.

Dafür ist ihm zu danken. Er übersetzt sie mit dem Begriff der »freien Koope-ration« und entwickelt daraus Grundrisse einer ihr entsprechenden Politik.

Dass er nicht von einer Utopie oder einem Ideal ausgeht, nach dem die Wirk-lichkeit sich zu richten hat, sondern vielmehr in den vielfältigen Formen lin-ker, emanzipatorischer Ansätze weltweit nach Keimen einer übergreifenden, oder besser: vernetzenden, Theorie sucht, weist ihn als legitimen Erben der Marx‘schen Methode aus, wie sie Peter Weiss in der einst gefeierten und heu-te fast vergessenen »Ästhetik des Widerstands« beschrieben hat: Nichts als ge-geben hinzunehmen, alles in Frage zu stellen und mit dem Blick auf die all-täglichen Niederungen des Daseins an der Veränderung des Bestehenden zu arbeiten.

Spehr holt keinen fertigen Gesellschaftsentwurf aus der Schublade, sondern stellt eine konzeptionelle Richtlinie, eine Art Ethik zur Diskussion, die als Kompass dienen könnte, um selbst tätig zu werden und die gewonnenen Erfahrungen in eine gemeinsame Suche nach Alternativen einzubringen. Ein solches Denken ist schon frei – frei von systemischen Voraussetzungen – und kooperativ, auf den Dialog, auf die Mitarbeit des anderen bezogen. Sein Kern ist die Forderung, Macht in Frage zu stellen, selbstverständlich gewordene Herrschaftsinstrumente kenntlich zu machen und »abzuwickeln«. Einer rei-chen Welt, die permanent Armut produziert, den Beziehungsreichtum eines anders möglichen Miteinanders entgegenzustellen oder ihr abzugewinnen.

Soziale Fähigkeiten zu entfalten, statt sich für den Arbeitsmarkt »fit« zu machen, Demokratie als Achtung vor und Bedürfnis nach der Wahrheit des anderen zu praktizieren, statt sich formal demokratischen Mehrheitsentschei-dungen zu unterwerfen.

Das Problem bleibt allerdings, wo und wie sich solche Keimzellen freier Ko-operation bilden sollen oder können. Alle Beispiele, die Spehr heranzieht, sind Randgruppen entnommen – Zapatistinnen, überhaupt vor allem der Frauen-, Lesben- und Schwulenbewegung. Nun zeigen alle geschichtlichen Erfahrun-gen, dass Bewegungen immer an den Rändern einsetzen, aber auch, dass sie scheitern, wenn sie nicht mit Veränderungen im Zentrum korrespondieren.

Doch aus den Zentren der heutigen Welt, von ihren Industrie-, Finanz- und Wissenschaftsbetrieben hören wir bei Spehr nichts von freier Kooperation.

Ich sage das nicht als Vorwurf, nicht mit triumphierendem Besserwissen, sondern eher mit Trauer, die das Lachen über den freiheitlich-demokratischen Wahnsinn ersticken macht, über eine Zivilisation, die im Kampf gegen den Terrorismus ihren alltäglichen Terror verdrängt: ihre Gewalt in Familien, in der Schule, auf der Straße, gespiegelt und lustvoll gesteigert in sämtlichen

Medien als Teil einer monströsen, metastasenhaft wuchernden Zwangskoope-ration, die ihren Lohnsklaven das Paradies auf Erden verheißt.

Genügt angesichts einer solchen Wirklichkeit das Kriterium, das Spehr nicht müde wird zu wiederholen: seine Zauberformel, dass jeder und jede Ein-zelne frei sein muss, die Kooperation zu einem gleichen und vertretbaren Preis aufzukündigen, zum nächsten »Baum« zu ziehen? Ist das nicht längst gängi-ge Praxis? Wer gängi-gehen will, kann gängi-gehen. Und der Preis ist für fast alle gleich:

Jobsuche mit mehr oder minder geringer Hilfe durch das Arbeitsamt. Wäre in einer Welt, die nicht nur Michel Houellebecq sich mit der Emanzipation, mit der Freisetzung des vereinzelten Einzelnen in »Elementarteilchen« auflösen sieht, wäre in einer solchen Wirklichkeit nicht nach positiven Kriterien und Kräften zu fahnden, die Bindung – ohne – Zwang (wieder) ermöglichen? Oder ist der Mensch nur ein flüchtiges, in sich haltloses Wesen?

Spehr operiert mit Geschichten. Und dies zurecht, denn Geschichten trans-portieren oft mehr Realität als die besten Theorien. Ich will ihm und allen Gleichgesinnten daher meine Fragen nach dem wo und wie der freien Koope-ration in Form einer Geschichte nahe legen. Sie mag manches satirisch über-höhen, aber nichts ist erfunden.

Wie ich den Kommunismus verlor

Ich bin im Kommunismus aufgewachsen. Nicht nur in einem Staat, den seine Gegner als eine Diktatur machtgeiler Kommunisten verdammt haben und der sich selbst als Wegbereiter in eine kommunistische Gesellschaft missverstand.

Nein, mein Lebensweg hat im Kommunismus begonnen.

Zu den frühesten Bildern, die auf dem Grund meiner Erinnerungen ver-borgen liegen, gehört dieses: ein endlos langer Tisch, auf dem ein jeder aus-breitet, was er besitzt, und wovon alle nehmen, wonach es sie verlangt. Es war das Paradies und meine Eltern hatten es entdeckt. Anfang der sechziger Jahre, sie hatten beide seit geraumer Zeit die Dreißig überschritten, hörten sie von ei-nem stillgelegten Freibad an der Saale. Für die Revolution ein paar Jahre spä-ter waren sie zu alt, aber statt ihre Midlifekrise zu pflegen, gründeten sie mit ein paar Freunden den Motorsportclub Weißenfels im Allgemeinen Deutschen Motorsportverband, kurz ADMV genannt.

Dabei war ihr einziges Gefährt mein Kinderwagen und der brauchte keinen Motor. Doch hatten sie Wünsche, Ideen und Energie. Mein Vater, ein gelernter Tischler, der an der Kunsthochschule Giebichenstein nicht studieren durfte, weil er, wie es hieß, zu alt, oder vielmehr seine Schwester in den anderen Teil Deutschlands gegangen war, und deshalb Werklehrer wurde, so dass er mich schon früh als Kind der Intelligenz vor einer Karriere im Arbeiter- und Bau-ernstaat bewahrte, mein Vater interessierte sich für Motorboote und begann sie auf dem Gelände des einstigen Freibades nun selbst zu bauen. Zunächst aus Holz, später mit Glasseide und Polyester, als ihm und den seinen durch

mannigfache Beziehungen auch diese edlen, wenngleich höchst gesundheits-schädigenden Stoffe zugänglich wurden.

So wuchs bald ein kleine, aber stolze Armada wendiger Boote auf der Saa-le heran, die von Weißenfels aus die Welt des Wasserskis zu erobern begann.

Zumindest soweit sie für Normalsterbliche erreichbar war, also in den frisch geschlossenen Grenzen der DDR, die damals ihre Besten noch Deutsche Mei-ster nannte.

Doch das eigentliche Leben spielte sich auch hier nicht auf Skiern ab, son-dern an dem langen Tisch meiner frühesten Erinnerungen. Er stand vor der hinteren von zwei Reihen einstiger Umkleidekabinen, die in den zwanziger Jahren zum Schutz vor Hochwasser auf steinernen Sockeln errichtet worden waren. Jede dieser Kabinen maß einen guten Meter im Quadrat und war durch einen überdachten Gang davor mit den anderen verbunden. Meine El-tern und deren Freunde teilten die Kabinen untereinander auf, so dass für je-den Beteiligten, sei er allein, zu zweit oder zu dritt, zwei bis vier Kabinen zur Verfügung standen. Zuerst waren es noch Buchten, in denen man sich umzog oder Werkzeug abstellte zur Bearbeitung der Gartenflächen auf der einstigen Liegewiese. Da nicht alle die gleiche Lust auf das mühsame Bestellen der Bee-te im Frühjahr hatBee-ten, wohl aber jeder gern sich die Freiheit genommen hätBee-te, im Herbst zu ernten, was die Natur reifen ließ, wurden die Gärten schon bald zu einem ersten Zankapfel, der den Mitstreitern Zornesröte auf die Wangen trieb. Zwei verheerende Hochwasser halfen das Problem zu lösen, indem man beschloss, es künftig wieder beim Rasen zu belassen. Die Natur in ihrer hero-ischen Gleichgültigkeit, der es egal war, was auf ihren Böden wuchs, hatte ei-nen Sieg errungen. Es sollte ihr letzter sein.

Die Kabinen mauserten sich unterdessen zu kleinen, wohnlichen Gehäu-sen. Indem jede Partei die Trennwände in ihrem Bereich entfernt und dafür die Wand zum Nachbarn bis über den Flur verlängert hatte, entstanden Sepa-rees mit eigenen Zugängen, die in die Außenwand des Korridors gesägt wur-den. Wir waren die ersten, die in diesem neuen Quartier den Sommer hin-durch schliefen. Noch stand der Tisch als das vereinende Element vor diesem hölzernen Zug, der schon in Abteile gegliedert war, noch aber hatte die Fahrt in den Abgrund nicht begonnen, noch teilte man Freud und Leid, zumal die Bretter dünn und die Glieder jung waren. Das Wasser zum Kochen hol-ten wir Kinder vom Pförtnerhaus einer nahe gelegenen Fabrik, und später, als der Direktor es verboten hatte, vom Zeltplatz, der einen knappen Kilome-ter entfernt war. Ein- oder zweimal am Tag fuhren wir mit Wagen und Kani-stern den Feldrain entlang, nicht ohne zuvor alle Erwachsenen nach ihrem Bedarf gefragt zu haben. Unterwegs spielten wir Indianer oder Gendarm, schnitzten Pfeile aus Schilfrohr, erzählten uns Schauermärchen und entdeck-ten einander abends, beim Flug der Glühwürmchen, die Wunder unserer Phy-siognomie.