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Kollektives Gedächtnis, kollektive Identität und Genozidforschung

Im Dokument Kollektive Traumata (Seite 69-73)

I. „Wie kann man sich ein „kollektives Trauma“ vorstellen?“ -

5 Kollektives Gedächtnis und kollektive Erinnerung

5.3 Kollektives Gedächtnis, kollektive Identität und Genozidforschung

Wie oben angekündigt, sollen die Auseinandersetzungen mit Kollektivem Gedächt-nis hier vor allem in Hinblick darauf diskutiert werden, was daraus für „kollektives Trauma“ zu lernen sein könnte. Dafür bietet es sich an zu untersuchen, wie die TheoretikerInnen des „kollektiven Gedächtnisses“ selbst diese Überlegungen auf Fälle beziehen, in denen das Gedächtnis Erinnerungen an “man made disasters“

speichert. Dies geschieht v.a. im Kontext der Genozidforschung. Als Beispiele seien hier einige Überlegungen von Kristin Platt, Lutz Niethammer und Jan Assmann skizziert, die diese zur Bedeutung von kulturellem und kollektivem Gedächtnis und zu kollektiver Identität bei Genozid (hier insbesondere bezogen auf dem Genozid an den Armeniern) vorgelegt haben.

Zerstörung des „Davor“

Für Kristin Platt ist das Besondere am Genozid, dass es keine Rückkehr in die Welt davor gibt:

„Dem betroffenen Opfer (des G enozids) ist eine Rückkehr in seine alten, wie auch immer beschädigten Lebenszusammenhänge unmöglich und damit auch der Wiedergewinn alter Orientierungsreste. Der betroffene Täter seinerseits ist davon befreit, in seinem alten Lebenszusammenhang die Konfrontation mit der Tat vollziehen zu müssen, und damit ist er vor allem von einem befreit: der Konfrontation mit dem noch nicht zum Opfer gewordenen Gegenüber.“ (Platt 1995, S. 340)

Der Genozid ist also für die Opfer eine Form des kollektiven Traumas, die in ihrer Bedeutung weit über andere kollektive Traumata hinausgeht. Paradoxerweise ist es für die Täter geradezu umgekehrt: Sie bleiben anders als in anderen „posttraumati-schen“ Gesellschaften davor verschont, sich mit den Überlebenden konfrontieren zu müssen.

Dies wurde im Zusammenhang mit dem Holocaust sehr deutlich: Für viele Überlebende entsprach die Zeit nach der Befreiung einer weiteren Traumatisierung.

Sie mussten feststellen, dass sie nicht nur ungezählte Angehörige verloren hatten, sondern sich darüber klar werden, dass jegliche Bezüge zum Leben davor für immer zerstört waren. Viele gingen in diesem Kontext Ehen mit Partnern ein, die aus dem-selben Erfahrungskontext z.B. aus demdem-selben Ort kamen und wenigstens noch einen winzigen Teil der Erinnerung teilten (Eitinger 1980).

Wer repräsentiert die Erinnerung?

Die dargestellten Konzeptionen von kollektivem Gedächtnis betonen den „Konstruk-tionscharakter“, d.h. sie verweisen darauf, dass es in einem „Prozess“ entsteht, in dem sich auf Grund verschiedener Faktoren eine Version der Geschichte durchsetzt.

Niethammer bemerkt hierzu, dass es vermutlich oft nicht die Stimme oder die Ver-sion der Opfer ist, die im kulturellen Gedächtnis als Erstes oder am stärksten reprä-sentiert ist:

„Waren die Erfahrungen der Opfer des Dritten Reichs wirklich von diesen selbst symbolisiert und für die Überlieferung kondensiert worden, oder waren

ihre Erlebnisse nicht vielmehr ein Material gewesen, das schon zu einer Zeit in herrschaftliche Diskurse montiert worden war, als den meisten der wenigen betroffenen Überlebenden ob der Ungeheuerlichkeit ihrer Erfahrung noch die Sprache stockte [...]?“ (Niethammer 1995, S. 28)

Dieser Hinweis scheint insbesondere deshalb von Bedeutung, weil eine naive Vor-stellung von kollektiv gespeicherter Erfahrung wahrscheinlich annehmen würde, dass gerade die Erfahrungen derjenigen darin am deutlichsten repräsentiert sein müssten, die das Geschehene am besten bezeugen können, weil sie es selbst erleb-ten. Niethammer verweist im selben Argument noch auf eine weitere wichtige Frage, die sich mit besonderer Schärfe für die Repräsentanz von Traumata im kollektiven Gedächtnis stellt: “Und inwiefern konnten die Überlebenden für die Toten sprechen, da sie doch durch die Differenz von Tod und Leben geschieden waren?" (ebd., S.28).

Er bezieht sich dabei auf Primo Levi, der in seinem Buch „Die Untergegangenen und die Geretteten“ nachdrücklich diesen Unterschied betont habe.

Während „Montage“ der konkreten Erfahrungen „in herrschaftliche Diskurse“

sich als Kritik an dieser Art der Gedächtnisbildung liest, überlegt Niethammer an anderer Stelle, ob nicht diese Phase in der Entwicklung des Kulturgedächtnisses eine Art Voraussetzung für die Artikulation der ganz konkreten eigenen grausamen Erfahrungen sein könnte:

„Erst nachdem das jeweilige Kulturgedächtnis über Massendokumentationen historische Forschung und Verbildlichung einer kollektiven Identität der Ver-folgungserfahrung vorgearbeitet hatte und sich wie ein schützender Kokon um den entblößten und verwundeten Einzelnen schloss, erweiterte sich die Mög-lichkeit, die konkrete Eigenerinnerung zur Sprache zu bringen, und zwar oft im Widerspruch gegen die nun schon etablierten kollektiven Sinngebungen.“

(Niethammer 1995, S. 38)

Das Kulturgedächtnis hat in dieser Darstellung von Niethammer also zwei unter-schiedliche Gesichter, die sich für ihn offenbar nicht ausschließen: Einerseits leistet es - trotz der oben skizzierten Einschränkung - Vorarbeit und bietet dem „Verwunde-ten“ (Traumatisierten) Schutz, andererseits fühlt sich der oder die Einzelne sehr oft zum Widerspruch gegen die dann dominante Beschreibung und Deutung aufgeru-fen, d.h. sie oder er findet sich im Kulturgedächtnis gerade nicht mit ihrer oder sei-ner Erinsei-nerung aufgehoben. Hier sei auf die bereits diskutierte Interaktion von Traumatisiertem und Gesellschaft verwiesen (vgl. S. 53).

Niethammer selbst kommt auf diese Doppelgesichtigkeit zurück, wenn er sich fragt, wie im derzeitigen Übergang (“floating gap“) von der „kommunikativen Erfah-rungsverarbeitung“ der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zur „kulturellen Symboli-sierung“ - mit Assmann also im Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Ge-dächtnis - jene Symbolisierungen aussehen könnten. Er weist dabei den Erinne-rungsberichten Überlebender eine wichtige Funktion zu. Diese enthalten für ihn je-weils einen Teil, der sich zur Symbolisierung und Traditionsbildung eignet, daneben jedoch ein „Element des Vorbewussten, des traditionskritischen Überrests“, das sich in der Gedächtnisbildung der Symbolisierung eines positiven Sinnes entziehe.

„Aber die Erinnerung der Vernichtung produziert - außer bei einem Teil der überlebenden Opfer - keinen Sinn, kräftigt keine kollektive Identität und erlöst keineswegs, sondern ihr unabweisbares kritisches Potential hält die Kultur offen. Dafür muss sie präsent und eher dokumentiert als monumentalisiert werden.“ (Niethammer 1995, S. 49-50)

Erinnern, um dazuzugehören

Jan Assmann verweist auf die enge Verbindung zwischen Erinnerung und Zugehö-rigkeit, d.h. zwischen kollektiver Erinnerung und kollektiver Identität. Man erinnere sich, um dazugehören zu können; umgekehrt markiere die Erinnerung für die ande-ren, dass man dazugehört. Er formuliert zudem einen engen Zusammenhang zwi-schen der Erinnerung an die Vergangenheit einer Gruppe und den Phänomenen

„Dankbarkeit, Vergeltung, Verantwortung, Solidarität, Gemeinsinn, Recht und Ge-rechtigkeit“ (1995, S. 53). Die Gruppe vergewissere sich in der Rekonstruktion einer gemeinsamen Vergangenheit also auch ihrer Zusammengehörigkeit. Luckmann spricht ganz ähnlich über den verpflichtenden Charakter, den das verbindende Wis-sen - also auch die gemeinschaftsvermittelnde Erinnerung hat, und nennt dies schließlich sogar eine „unsichtbare Religion“ (zit. nach Assmann, 1995, S. 60).

6 Kollektives Trauma: Konzeptionalisierungsversuche

Die bis jetzt dargestellten „Annäherungen“ können als Zugänge zu kollektivem Trauma bezeichnet werden, für die jedoch jeweils ein Transfer zu leisten war: Vom individuellen Trauma ausgehend ließ sich fragen, wie sich einzelne Phänomene aufs Kollektive übertragen lassen. Vom kollektiven Gedächtnis aus lässt sich ein Transfer zu kollektivem Trauma herstellen.

Nun gibt es zwar keine elaborierte Theorie des kollektiven Traumas, aber es gibt einige Autoren, die sich direkt dem von ihnen wahrgenommenen Phänomen zu-wenden, das hier als „kollektives Trauma“ bezeichnet wird. Sie haben unterschiedli-che Konzeptionalisierungen dafür erarbeitet. Zwei dieser Konzepte sollen im Folgen-den vorgestellt werFolgen-den: Vamik Volkan hat ein auf der Psychoanalyse aufbauendes Konzept des “gewählten Traumas” entwickelt, Dan Diner hat mit seiner Vorstellung einer „negativen Symbiose“ zwischen nichtjüdischen Deutschen und Juden nach dem Holocaust ebenfalls ein Konzept entwickelt, das spezifische kollektive Phäno-mene beschreibt, die er als kollektive Langzeitfolgen des Holocaust interpretiert. In diesem Kontext stellt Diner Überlegungen an, die zum Teil auch für Langzeitfolgen anderer “man made disasters” relevant sein könnten.

Im Dokument Kollektive Traumata (Seite 69-73)