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2.1 Radikalische Polymerisation

2.1.1 Kinetik der radikalischen Polymerisation

Die radikalische Polymerisation stellt eine typische Kettenwachstumsreaktion dar. Dabei wird eine Substanz, die über ein ungepaartes Elektron verfügt, die Radikalfunktion, an die Kohlenstoff-Kohlenstoff-Doppelbindung eines Monomers addiert. Dieses Monomer ist nun selber Träger der Radikalfunktion und in der Lage, immer weitere Monomere zu addieren. Der Verlauf der radikalischen Polymerisation wird in vier wesentliche Schritte unterteilt:[11]

(1) Initiierung und Kettenstart:

(2) Kettenwachstum:

(3) Kettenabbruch:

(4) Kettentransfer:

Schema 2–1 Darstellung des Reaktionsverlaufs einer radikalischen Polymerisation.

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Für eine nähere Diskussion der idealen radikalischen Polymerisationskinetik sollte von folgenden Annahmen ausgegangen werden:[21,22]

 Alle Polymerradikale besitzen die gleiche Reaktivität, unabhängig von ihrer Kettenlänge.

 Monomere werden nur durch Wachstumsschritte verbraucht.

 Nach dem Bodenstein’schen Stationaritätsprinzip ist die Radikalkonzentration während der Polymerisation konstant.

 Alle Reaktionen sind irreversibel.

 Der Kettenabbruch erfolgt ausschließlich durch Kombination oder Disproportionierung.

Der erste Schritt der radikalischen Polymerisation besteht in der Bildung von so genannten Primärradikalen aus einem Initiatormolekül. Dies kann z. B. durch eine homolytische Bindungsspaltung, sowohl thermisch, chemisch als auch photochemisch, vonstattengehen. Für den, in Schema 2–1 gezeigten Fall, dass der Initiator in zwei propagationsfähige Primärradikale zerfällt, gilt für die Reaktionsgeschwindigkeit : und als Geschwindigkoeffizient der Zerfallsreaktion. Da Radikale im Normalfall sehr reaktiv sind, kann es nach dem Zerfall des Initiators zu Nebenreaktionen kommen, sodass niemals alle gebildeten Primärradikale an ein Monomer addieren, um eine Polymerisation zu starten. Um dies zu berücksichtigen muss in Gleichung (1) ein weiterer Faktor eingeführt werden, die Initiatoreffizienz :

(2)

Die Initiierung verläuft deutlich langsamer als die eigentliche Kettenstartreaktion. Somit ist sie für den Beginn einer radikalischen Polymerisation geschwindigkeitsbestimmend, sodass die Anlagerung eines Primärradikals an ein Monomer für die Kinetik der Reaktion unbedeutend ist.[23]

Der nächste Schritt einer radikalischen Polymerisation ist das Kettenwachstum (s. Schema 2–1) oder auch Propagation. Das Makroradikal wächst durch Anlagerung von weiteren Monomeren

7 solange weiter bis es entweder terminiert oder die Radikalfunktion über eine Transferreaktion abgibt. Für die Reaktionsgeschwindigkeit der Propagation gilt:

(3)

Die Propagation eines Makroradikals hängt also sowohl von der Konzentration des Monomers als auch von der Konzentration der Radikalspezies ab. Die Geschwindigkeit der Propagation ist also jeweils 1. Ordnung in Bezug auf die jeweilige Spezies. Der Geschwindigkeitskoeffizient der Propagation ist dabei, wie oben erwähnt, idealerweise unabhängig von der Kettenlänge der Radikalspezies.

Für den Kettenabbruch oder die Terminierung existieren, wie in Schema 2–1 gezeigt, zwei Möglichkeiten: zum einen die Rekombination von zwei wachsenden Makroradikalen zu einem doppelt so langen Polymer und zum anderen die Disproportionierung. Bei letzterem wird ein Wasserstoffatom von einem Makroradikal an ein zweites übertragen, sodass sich zwei Polymere bilden. Eines dieser Polymere verfügt über eine polymerisierbare Doppelbindung und stellt somit ein Makromonomer dar. Das zweite Polymer ist genau wie das Rekombinationsprodukt ein so genanntes „totes“ Polymer. Es verfügt über keine weiteren Funktionalitäten, um an einem der Schritte einer radikalischen Polymerisation teilzunehmen. Für die Bestimmung der Reaktionsgeschwindigkeit der Abbruchreaktion werden beide Möglichkeiten im Geschwindigkeitskoeffizienten zusammengefasst.

(4)

Die Geschwindigkeit der Terminierung ist also 2. Ordnung in Bezug auf die Konzentration der Radikalspezies. Es müssen immer zwei Radikale zusammentreffen um zu terminieren. Damit ist die Terminierung stark von der Fähigkeit der Radikale abhängig z. B. durch Diffusion einander so nahe zu kommen, dass eine Reaktion möglich ist. Dies kann vor allem bei z. B.

netzwerkbildenden, radikalischen Polymerisationen oder auch bei sehr hohen Umsätzen dazu führen, dass es zu deutlichen Abweichungen von der idealen Kinetik kommt. Durch die steigende Viskosität der Reaktionsmischung ist es für die großen Makroradikalen zunehmend schwerer zueinander zu diffundieren. Sie können nicht mehr miteinander terminieren und die Radikalkonzentration im System steigt immer mehr an, da durch fortschreitende Initiierung weitere Radikale nachgeliefert werden. Es kommt zu einer so genannten Selbstbeschleunigung der Reaktion, bei der die Geschwindigkeit der Gesamtreaktion im Vergleich zur idealen Kinetik

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sehr stark ansteigt. Dieser Effekt wird Gel-Effekt oder auch Norrish-Trommsdorff-Effekt[24]

genannt.

Um die Geschwindigkeit der Gesamtreaktion der radikalischen Polymerisation zu beschreiben, muss ein quasi-stationärer Zustand angenommen werden. In diesem Fall ist die Zahl der Radikale, die neu gebildet werden gleich der Zahl der Terminierenden. Somit können auch die Geschwindigkeitsgesetze für beide Reaktionen gleichgesetzt werden:

(5)

Wird Gleichung (5) nach der Radikalkonzentration aufgelöst und in Gleichung (4) eingesetzt, ergibt sich für die Gesamtgeschwindigkeit der radikalischen Polymerisation :

( )

(6)

Mit dem Proportionalitätsfaktor :

( )

(7)

folgt für die Geschwindigkeit der Gesamtreaktion:

(8)

Nach Integration über die Reaktionszeit von 0 bis t ergibt sich:

( ) (9)

Für eine ideal verlaufende radikalische Polymerisation sollte die Auftragung des Logarithmus auf der linken Seite von Gleichung (9) gegen die Reaktionszeit t eine Gerade ergeben. Abweichungen nach oben würden für eine Selbstbeschleunigung der Reaktion, nach unten für eine mögliche Retardierung sprechen (s. Abbildung 2-1).

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Abbildung 2-1 Auftragung der integrierten Form des Geschwindigkeitsgesetzes gegen die Reaktionszeit einer idealen (-), dem Gel-Effekt unterliegenden (-) und einer retardierten radikalischen Polymerisation (-).

Eine weitere Reaktionsmöglichkeit der Makroradikale ist, neben Wachstum und Abbruch, der Transfer der Radikalfunktion auf ein anderes Molekül (s. Schema 2–1). Dabei kann es sich z. B.

um ein Monomer, ein Polymermolekül oder auch ein spezielles Kettentransferagens (engl.: Chain Transfer Agent, CTA) handeln. Für die Geschwindigkeit des Transfers lässt sich folgendes Geschwindigkeitsgesetz aufstellen:

(10)

mit als Geschwindigkeitskoeffizient der Transferreaktion und als Konzentration des Transferagens. Wenn es sich bei der Substanz um ein speziell zugesetztes CTA handelt, so kann die Effizienz dieser Substanz anhand der Transferkonstante beschrieben werden.

Hierbei handelt es sich um das Verhältnis des Geschwindigkeitskoeffizienten der Transferreaktion zu dem der Propagation:

(11)

Der Kettentransfer hat keinen Einfluss auf die Radikalkonzentration im betrachteten System. Das bedeutet, er sollte auch keinen Einfluss auf Polymerisationsgeschwindigkeit haben. Eine Auftragung entsprechend Abbildung 2-1 sollte also für eine radikalische Polymerisation mit

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Kettentransfer den gleichen Kurvenverlauf liefern wie eine radikalische Polymerisation ohne Kettentransfer. Dies ist allerdings nur der Fall, wenn die Reinitiierung einer Polymerkette, also die Addition des CTA an ein Monomer, schnell verläuft, sodass das Radikal der Polymerisationsreaktion direkt wieder zur Verfügung steht. Die Radikalkonzentration bleibt somit konstant. Ist dies nicht der Fall, kommt es zu einer Retardierung der Reaktion. Der Transfer der Radikalfunktion hat also im idealen Fall keinen Einfluss auf die Gesamtkinetik der radikalischen Polymerisation. Allerdings wird das Wachstum einer Kette beendet. Somit hat der Transfer der Radikalfunktion hauptsächlich einen Einfluss auf die molare Masse der aus der Polymerisation resultierenden Polymere.

Wie schon ganz zu Beginn in der Einleitung erwähnt, ist der große Nachteil der radikalischen Polymerisation, dass sie aufgrund ihrer radikalischen Natur kaum Möglichkeiten bietet, Einfluss auf die Struktur und Zusammensetzung der fertigen Produkte zu nehmen. So sind die molaren Massen der resultierenden Polymere häufig sehr breit verteilt (hohe Dispersität). Weiterhin ist es kaum bzw. gar nicht möglich Einfluss auf die Mikrostrukturen der Polymere zu nehmen und somit gezielt besondere Polymerarchitekturen wie z. B. Kamm- , Sternpolymere und Netzwerke mit homogenen bzw. definierten Mikrostrukturen oder bestimmte Polymerkompositionen wie z. B. Blockcopolymere mit genau definierten Blockgrößen zu synthetisieren.