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2 Molekularsiebe

2.4 Kristallographie

2.4.2 Keimbildung und Kristallwachstum

Ein besseres Verständnis der Morphologie der Kristalle ist durch die Betrachtung der Entstehung und des Wachstums der Kristalle möglich. Dem klassischen Modell zufolge verläuft die Kristallisation in zwei Phasen: (i) Keimbildung und (ii) Kristallwachstum. Die Beschreibung des Kristallisationsprozesses, der in einer übersättigten Lösung beginnt und in einem im Gleichgewicht stehenden System aus Feststoff und Lösung endet, stellt eine komplexe Aufgabe dar.

In dem ersten Schritt erfolgt die Keimbildung, bei welcher sich wenige Kristallbausteine zu einer dreidimensional periodischen Anordnung, dem so genannten Keim zusammen lagern, der ebene Begrenzungsflächen besitzt. Die theoretische Betrachtung der Keimbildung ist abhängig von dem Mechanismus, welcher für die Bildung der Keime verantwortlich ist. Die Nukleation kann nach einem primären Mechanismus, bei dem noch zwischen der homogenen und der heterogenen Keimbildung unterschieden wird, oder einem sekundären Mechanismus verlaufen.81 Als primäre Nukleation wird die Entstehung einer kristallinen Phase aus einer ursprünglichen Phase bezeichnet. Die Keimbildung auf einer Oberfläche einer bestehenden Wachstumsfläche, die zu einem weiteren Anstieg der Kristallinität führt, entspricht einem sekundären Nukleationsmechanismus. Wenn die primäre Keimbildung in der Anwesenheit einer zweiten Phase an der Phasengrenze zwischen dieser zweiten Phase und der

81 O. Söhnel, J. Garside, Precepitation, Butterworth-Heinemann, Oxford, 1992, S. 41-66.

x z

y

x z x y

z y

Molekularsiebe 34 ursprünglichen Phase auftritt liegt eine heterogene Nukleation vor, während in der Abwesenheit einer zweiten Phase von einem homogenen Mechanismus gesprochen wird. In den meisten Systemen wird die Kristallisation durch heterogene Keimbildung initiiert.82 Prinzipiell kann ein Keim dann weiter wachsen, wenn er unter Aufwendung der Keimbildungsarbeit die kritische so genannte Größe erreicht hat, bei der ein Maximum der freien Energie erreicht ist, und sein weiteres Wachstum die freie Energie wieder verringert.83 Der zweite Schritt ist durch das Weiterwachsen des Keims zum Makrokristall bestimmt. Es werden dabei weitere Bausteine von dem Keim angezogen und entsprechend der dreidimensionalen Periodizität auf den Flächen angelagert. Eine Parallelverschiebung dieser Flächen des Keims bzw. des Kristalls ist für das Weiterwachsen charakteristisch. Das Kristallwachstum kann also im Wesentlichen als ein Vervielfachungsprozess, bei dem stabile Kristallkeime einfach durch Reproduktion der Einheitszelle vergrößert werden, ohne dass strukturelle Änderungen im Kristallinnern oder an der Oberfläche auftreten, angesehen werden. Die thermodynamische Triebkraft der Kristallisation ∆µ ergibt sich aus der Differenz der chemischen Potentiale der kristallisierenden Komponenten in der übersättigten Lösung (µ1) und in dem Kristall (µ2), d. h. ∆µ = µ2 - µ1.84 Die Wachstumsgeschwindigkeit, welche eine typisch anisotrope Kristalleigenschaft ist, wird durch die Parallelverschiebung der Flächen pro Zeiteinheit beschrieben und ist von der Temperatur, dem Druck und der Übersättigung abhängig. Das Verhältnis der Wachstumsgeschwindigkeiten der einzelnen Flächen ist für die Ausbildung der entsprechenden Kristallflächen an einem Kristall verantwortlich, so dass aus den gleichen Keimen Kristalle verschiedener Gestalt resultieren können (Abb. 2.4.2-1).85

82 F. L. Binsbergen, in Progress Solid State Chemistry, eds. J. O. McCaldin, G. Somorjai, Vol. 8, 1973, S. 189.

83 W. Kleber, H.-J. Bautsch, J. Bohm, Einführng in die Kristallographie, Verlag Technik, Berlin, 1998, S. 202.

84 O. Söhnel, J. Garside, Precepitation, Butterworth-Heinemann, Oxford, 1992, S. 29.

85 W. Borchardt-Ott, Kristallographie: Eine Einführung für Naturwissenschaftler, Springer, Berlin, 1997, S. 33-36.

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Abb. 2.4.2-1: Kristallwachstum bei (a) nur geringem und (b) großem Unterschied der Wachstumsgeschwindigkeiten.

Die Flächen mit der geringsten Wachstumsgeschwindigkeit dehnen sich im Laufe des Wachstums relativ aus, während die Flächen mit größeren Wachstumsgeschwindigkeiten kleiner werden und schließlich sogar verschwinden. Die endgültige Wachstumsform des Kristalls wird somit von den Flächen mit den geringsten Wachstumsgeschwindigkeiten begrenzt sein. Allerdings weisen die Wachstumsgeschwindigkeiten eine sehr empfindliche Abhängigkeit von den Kristallisationsparametern auf. Mit zunehmender Überschreitung der Übersättigung steigt auch die Wachstumsgeschwindigkeit an. Zusätzlich können sich das Verhältnis der Wachstumsgeschwindigkeit der verschiedenen Flächen und damit deren Bedeutung bezüglich des Wachstums verändern. Eine Veränderung der absoluten Werte und/oder der Reihenfolge der Wachstumsgeschwindigkeiten kann auch durch geeignete Fremdstoffzusätze, die an den Kristallflächen adsorbieren, erzielt werden.86

Nach S. Mann et al. besitzt die Kristallisation eine sehr hohe Triebkraft und kann nur unter kinetischer Kontrolle relativ einfach in den Keimbildungs- und Wachstumsprozess eingebettet werden.87 Das Reaktionsprofil wird von thermodynamischen zu kinetischen Triebkräften verschoben, welche im Allgemeinen auf der Modifizierung der Aktivierungsenergiebarrieren von Keimbildung (∆Gn), Wachstum (∆Gg) und Phasenumwandlung (∆Gt) basieren (Abb.

2.4.2-2). Die Kristallisation verläuft in solchen Fällen oft über einen sequentiellen Prozess, welcher die Modifikation der Struktur und der Zusammensetzung von amorphen Vorstufen und kristallinen Zwischenprodukten einschließt, und nicht über einen einstufigen Reaktionsweg.88/89

86 W. Kleber, H.-J. Bautsch, J. Bohm, Einführng in die Kristallographie, Verlag Technik, Berlin, 1998, S. 205.

87 H. Cölfen, S. Mann, Angewandte Chemie 2003, 115, 2452.

88 J. Rieger, E. Hädicke, I. U. Rau, D. Boeckh, Tenside Surfactants Deterg. 1997, 34, 430.

89 O. Söhnel, J. W. Mullin, J. Cryst. Growth 1982, 60, 239.

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Abb. 2.4.2-2: Kristallisationspfade unter thermodynamischer und kinetischer Kontrolle.

Die Änderungen der Zusammensetzung und der Struktur erfolgen gewöhnlich durch wiederholte Auflösungs-/Keimbildungsprozesse, die in Zusammenhang mit der Oberfläche und/oder dem Innern von vorgeformten Partikeln stehen. Folglich ist die Keimbildung einer bestimmten kristallinen Phase in höchstem Maße heterogen und abhängig von Grenzflächen und hydrodynamischen Eigenschaften und von der Reaktionskinetik. Dies ist nicht mit der klassischen Keimbildungstheorie kompatibel, welche wie oben bereits beschrieben von der spontanen Bildung von sphärischen molekularen Clustern mit größenabhängigen Freien Energien, die ihr Wachstum nur fortsetzen, ausgeht.

Bei der kinetisch kontrollierten Kristallisation entsteht oft zu Beginn eine amorphe Phase, die nichtstöchiometrisch, hydratisiert und anfällig gegen schnelle Phasenumwandlung sein kann.

Die kinetische Kontrolle der Kristallisation kann durch Modifizierung der Wechselwirkung von Keimen und wachsenden Kristallen mit festen Oberflächen und löslichen Molekülen erreicht werden.90 Durch solche Prozesse werden die Struktur und Zusammensetzung der Kristallkeime sowie die Partikelgröße, Struktur, Gestalt, Aggregation und Stabilität von intermediären Phasen beeinflusst. Ein ausgeprägter kinetischer Effekt auf die Kristallisation kann ebenfalls von löslichen Makromolekülen und organischen Anionen sowie anorganischen Ionen wie Mg2+ und PO43- ausgeübt werden, insbesondere bezüglich der Polymorphenselektivität und Modifikationen des Kristallhabitus. Es erfolgt eine Bindung an Wachstumsstellen auf gut definierten Kristalloberflächen, die in Übereinstimmung mit dem klassischen Modell der Sekundärkeimbildung die Kinetik des Kristallwachstums aus der

90 A. Tsortos, S. Ohki, A. Zieba, R. E. Baier, G. H. Nancollas, J. Colloid Interface Sci. 1996, 177, 257.

Molekularsiebe 37 Lösung beeinflusst.91 Das Kristallwachstum durch Aggregation vorgeformter kristalliner Bausteine ist im Gegensatz zum klassischen Kristallisationsmodell ein Organisationsprozess auf der Mesoskala, der im Sinne einer Koaleszenz von primären Nanopartikeln zu kolloidalen Aggregaten mit oft einheitlicher Größe und deren nachfolgender interner Umwandlung zu einem kristallographisch kontinuierlichen Partikel betrachtet werden kann.92 Alternativ ist auch die stufenweise Anlagerung von Nanopartikeln an ein wachsendes Aggregat von gleichförmig ausgerichteten Bausteinen möglich, wobei beispielsweise Ketten von orientierten Nanokristallen entstehen.93

Die kinetischen Kristallisationsrouten sind vielstufig und können z. B. durch Makromoleküle reguliert werden, so dass der Anwendungsbereich der gesteuerten Materialsynthese dabei signifikant erweitert werden kann.