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Kapital- und Betriebsseite in der sozialistischen Budgetverwaltungswirtschaft, dargestellt am

kapitalistisches Unternehmen steckte in den Betrieben des real existierenden Sozialismus?

5 Kapital- und Betriebsseite in der sozialistischen Budgetverwaltungswirtschaft, dargestellt am

Fallbeispiel des VEB Simson

Die Abbildung 3 zeigt die Zuordnung der Akteure mit ihren Handlungsoptionen für einen Stamm- und Leitbetrieb in den 1950er und 1960er Jahren. Als Beispiel fungiert wiederum der VEB Simson, der insofern als exemplarisch gelten kann,

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schen und amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie von den 1860er bis zu den 1930er Jahren, Bonn 1994, S. 113-141.

als er einer jener Betriebe mit „Kooperations- und Koordinierungsverantwor-tung“ war, die andere eigenständige VEB-Betriebe und nichtselbständige Be-triebsteile steuerten. Das Modell in Abbildung 3 zeigt außerdem den zeitlichen Wandel, denn die hier dargestellte Akteurskonstellation differenzierte sich nach der Kombinatsreform ab den frühen 1970er Jahren noch einmal deutlich aus und muss entsprechend ergänzt werden.47

Abb. 3: Kapital- und Betriebsseite eines Volkseigenen Betriebes in der Funktion eines Stamm-betriebs, 1950er bis 1970er Jahre.

In der Abbildung sieht man sehr deutlich, wie viele Kompetenzen im Laufe der Jahre von der Kapital- und Betriebsseite abgezogen und auf ganz unterschiedli-che Akteure verteilt wurden, um sie zentral zu regulieren und zu verwalten.

Diese Dynamik erschien der SPK als die einzig praktikable Lösung, um der Komplexität wirtschaftlicher Transaktionen zu begegnen. Insgesamt aber wur-den die Handlungs- und Gestaltungsspielräume der ostdeutschen Betriebe im-mer weiter eingeschränkt. Das beeinträchtigte zunehmend die

Leistungsfähig-||

47 Das Modell kann diesen zeitlichen Wandel abbilden. Ausführlich zur Zuordnung nach der Kombinatsreform, vgl. Schulz, Simson, S. 344-385.

keit der gesamten Volkswirtschaft, bis vor allem in den 1980er Jahren die be-kannten Blockaden kaum noch zu beherrschen waren, wenn etwa große Ener-gieversorgungsbetriebe zusätzlich noch Konsumgüter herstellen sollten, um Versorgungslöcher zu stopfen. Insofern veranschaulicht die hier vorgestellte Konzeption zweifellos die Strukturfehler der sozialistischen Wirtschaftsverwal-tung. Sie wirft zugleich neue Fragen nach der konkreten Praxis des Wirtschaf-tens in der sozialistischen Budgetwirtschaft auf. Wie funktionierte die Abstim-mung zwischen zentraler Einkaufs- und Absatzorganisation und den jeweiligen betrieblichen Abteilungen? Wie plante die SPK die „Erzeugnisgruppen“, und auf welcher konkreten Grundlage steuerte dann ein Stammbetrieb seine Zulieferer?

Grundlegende empirische Forschung zur Beantwortung dieser und verwandter Fragen steht noch aus. Einige Aspekte sollen hier dennoch angerissen werden.

Wie bereits im allgemeinen Teil dargestellt, übernahmen staatliche Organe wie das Finanzministerium und Banken die Budgetierung der DDR-Betriebe nach festgelegtem Plansoll. Andere Organe wie das Vertragsgericht als Sanktions-instanz traten nur bei Bedarf hinzu. Die erwähnten Querschnittsministerien hat-ten teils überaus spezifische Anteile. Das funktionale Äquivalent der Unterneh-merfunktion (in Abbildung 3 grau eingerahmt) auf der Kapitalseite ersetzten die zuständigen Entscheidungsträger der SPK in Abstimmung und Aushandlung mit dem jeweils zuständigen Industrieministerium der Branche sowie dem Di-rektorium des Leitbetriebes/VVB. Die Direktoren der Stammbetriebe zusammen mit den Leitungen der Zulieferbetriebe, sofern sie als VEB eigenständig waren und bilanzierten, bildeten das Äquivalent auf der Betriebsseite. Wiederum konnten hier Akteure aus Querschnittsbereichen hinzutreten. Der Abstim-mungsbedarf zwischen all diesen Akteuren war enorm hoch, der Informations-austausch konnte aber eigentlich nur zwischen den jeweils nächstgelegenen Einheiten, also etwa zwischen SPK und Ministerium oder zwischen Ministerium und Stammbetrieb, in der nötigen Konsistenz und Präzision erfolgen. Entspre-chend wichtig waren die Allianzen zwischen Akteuren dieser Einheiten, um überhaupt Entscheidungen fällen zu können.

Die Leitung des Stammbetriebs sowie die Fachdirektoren der Abteilungen übernahmen in den DDR-Betrieben persönliche Verantwortung. Sie besetzten die Unternehmerfunktion im Sinne des operativen Geschäfts, konnten aber keine in die Zukunft geplanten Entscheidungen ohne das Ministerium und die SPK treffen. Sie waren jedoch durchaus an der Formulierung der grundsätzlichen Linien beteiligt, denn ihre Machtposition, Handlungsspielräume und Wert-schätzung waren eng an die ökonomische Leistungsfähigkeit des Betriebes ge-bunden. Waren sie in dieser Hinsicht erfolgreich, konnten sie erheblichen Ein-fluss auf die Plangestaltung nehmen. Hinzu kam, dass sie erste

Ansprech-partner für beinahe alle zentralen, regionalen und lokalen Behörden innerhalb der Wirtschaftsverwaltung waren. Sie verhandelten nach unten wie nach oben mit ihrem jeweils eigenen Direktorenstab, mit Betriebsleitern und Meistern so-wie mit den Leitungen anderer Betriebe. Sie standen schließlich in regelmäßi-gem Kontakt zur Parteiorganisation und es war ihre spezifische Aufgabe, die politische Linie der Staatspartei wiederum persönlich vor der Belegschaft zu verteidigen. Diese zentrale Position hatte nicht nur zur Folge, dass die Betriebs-direktoren beziehungsweise einzelne FachBetriebs-direktoren über eine Informations-hoheit verfügten. Wenn sie unter den institutionellen Bedingungen der Plan-wirtschaft erfolgreich agieren wollten, mussten sie ein ausgedehntes Netzwerk pflegen, das es ihnen ermöglichte, formell wie informell zu verhandeln.48

Besonders interessant ist es, sich die Alterskohorten und die jeweiligen Ge-nerationenwechsel in den Traditionsbetrieben unter diesem Aspekt genauer anzuschauen. Im Fall des VEB Simson führte bis Anfang der 1970er Jahre hinein die alte Führungsmannschaft aus der Weimarer Republik den Betrieb. Ihr Füh-rungsstil kam aus einer anderen Zeit, passte sich jedoch erstaunlich schnell an die neuen Anforderungen nach 1945 an. Die nachkommenden Kader, die sozia-listische Betriebs- und Volkswirtschaft gelernt hatten, mussten sich lange Zeit gedulden. Das bedeutete in der Praxis, dass beim VEB Simson viele Jahre die Dinge ihren gewohnten Gang gingen, ohne besonders „sozialistisch“ zu wer-den. Die Leitung stellte sich zwar flexibel auf die Anforderungen und den neuen Jargon ein, behielt aber einen erstaunlichen Eigensinn. Man sparte nicht mit Kritik und zeigte wenig Respekt gegenüber den Parteigenossen, sofern sie kein Know-how für betriebliche Fragen mitbrachten. Das änderte sich erst mit der Übernahme der „sozialistischen Manager“ ab Mitte der 1970er Jahre. Der VEB Simson mag in dieser spezifischen Konstellation ein Einzelfall sein, aber die Tendenz lässt sich auch für andere Betriebe zeigen, in denen das vormalige Direktorium aus den alten Traditionsunternehmen zum sozialistischen Lei-tungskollektiv wurde, weil das Fachwissen und die Erfahrung nicht zu ersetzen waren oder es keinen Konflikt über ihr Verbleiben gab.49

Dazu kamen Führungskräfte aus strategischen Fachbereichen in den DDR-Betrieben, die je nach Branche und Betrieb variierten. Es wäre lohnend, die

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48 H. Best, Unternehmer und Manager im Sozialismus, Köln 2005; H. Förster, Entwicklung von Handlungsstrategien bei Führungskräften in der DDR Wirtschaft. Eine empirische Untersu-chung von Lebens- und Karriereläufen ehemaliger Betriebs- und Kombinatsdirektoren, Frank-furt a.M. u.a. 1994.

49 Siehe den Beitrag von Swen Steinberg in diesem Themenheft sowie allgemein T. Kössler/H.

Stadtland (Hg.), Vom Funktionieren der Funktionäre. Politische Interessenvertretung und gesellschaftliche Integration in Deutschland nach 1933, Essen 2004.

Forschung zu Führungskräften auf diese Gruppe auszudehnen. Generell kann man die Direktorenbereiche „Arbeit“ für die Bereitstellung der Arbeitskräfte,

„Materialwirtschaft“ für die Bereitstellung des Materials sowie „Produktion“ für die Bereitstellung aller Produktionsfaktoren als besonders wichtig für die inter-ne Organisation identifizieren. Diese Abteilungen hatten anspruchsvolle und zeitweise politisch heikle Auseinandersetzungen mit den Parteifunktionären der SED zu bewältigen. Insbesondere die Fertigkeiten und Phantasie des Direk-tors für Materialwirtschaft, die ausreichende Versorgung mit Material und Roh-stoffen sicherzustellen, war von existentieller Bedeutung für den Betrieb. Und keinesfalls gelang es immer, diese „Leitungskader“ mit linientreuen Parteige-nossen zu besetzen. Generell hat die Forschung vor allem für die Zeit der ersten 20 Jahre DDR den Trend herausgearbeitet, dass Expertise und individuelle Fähigkeiten ein fehlendes Parteibuch ersetzten.50 Das gilt eingeschränkt auch noch für die 1970er und 1980er Jahre. Allerdings gab es ab dieser Zeit bereits mehr Menschen, die vollständig in der DDR sozialisiert worden und entspre-chend mit dem Kader- und Fördersystem der SED aufgewachsen waren. Inso-fern gab es unter ihnen insgesamt weniger Personen, die eine Karriere anstreb-ten und kein Parteibuch hatanstreb-ten.

Für die Organisation der Planwirtschaft von erheblicher Bedeutung waren die festgelegten Zulieferketten, die jene Betriebe zusammenfassten, die an der Fertigung eines oder mehrerer Produkte beteiligt waren. Diese Zulieferer wur-den wiederum zentral zugewiesen, je nach Bedarf und Kapazitäten der betref-fenden Betriebe. Das führte über die Jahre zu einem weit größeren Strukturprob-lem für die zentrale Planung und Lenkung als etwa die sogenannten „weichen“

Pläne, die allen bekannt waren und vor allem für die Betriebsdirektoren Teil des Alltags wurden, auf den man sich einstellte: „[…] und alle, die einen Bedarf hatten, haben ein Vielfaches angemeldet, weil sie natürlich wussten, dass sie nur einen Bruchteil im Endergebnis dessen, was sie beantragen, auch erhalten.

Es ist eine Scheinwelt entstanden, man hat vielleicht zwei benötigt, hat fünf angemeldet und hat dann vielleicht eins bekommen. [...] und die Kunst eines Wirtschaftskapitäns unterschiedlicher Ebenen bestand auch darin, das ge-schickt zu machen, dass er durch alle Verteidigungsrunden hindurch kam, um dann einen Bruchteil von dem, was er eigentlich brauchte, zu erhalten.“51

Die aufgezwungenen Verflechtungsbeziehungen in sogenannten „Erzeug-nisgruppen“ bargen dagegen Probleme ganz anderer Art, wie im Fall der Ab-satzkrise beim VEB Simson gezeigt. Und dennoch darf man sich auch diese

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50 Boldorf, Governance; Müller, Brüche.

51 Zit. Förster, Führungskräfte, S. 205.

Kooperationsbeziehungen nicht zu schematisch vorstellen. Oftmals war mit diesem Austausch ein gemeinsamer Entwicklungsauftrag verbunden. Vor allem auf dieser Ebene unterstützten sich die Betriebe gegenseitig und lösten so man-ches Problem, das in der zentralen Planung und Lenkung nicht zu steuern war.

Hier hatten die Betriebe unmittelbare Handlungskompetenz. Die vielfachen Tauschbeziehungen sorgten für erhebliche Stabilität im Gesamtsystem. Zu-gleich aber steckte der einzelne Betrieb in seinem Netz unfreiwilliger Kooperati-ons- und Verflechtungsbeziehungen förmlich fest und verantwortete im Zweifel die wirtschaftliche Minderleistung anderer Betriebseinheiten. Das erzwang immer wieder Umstrukturierungen, absorbierte Produktionskapazitäten und ließ den Kommunikationsaufwand erheblich anwachsen. Der VEB Simson steht hier als Beispiel stellvertretend für nur einen Betrieb aus dem Fahrzeugbau. Der Fahr-zeugbau machte selbst nur einen Bereich der metallverarbeitenden Branche aus. Und so setzt sich diese Kette von Aktion und Reaktion von Betrieb zu Be-trieb fort. Was sich bei Simson auf BeBe-triebsebene bereits problematisch aus-wirkte, vervielfachte sich über jede nächsthöhere Organisationsebene. Die da-mit verbundene Tendenz, die Produktions- und die Zulieferstrukturen von oben immer weiter zu vereinfachen, um sie für die zentrale Planung handhabbarer zu machen, führte zu der Ein-Produkt-Politik, die für Betriebe mit einer komplexen Fertigungsstruktur und die Finalprodukte äußerst problematisch war.

Schließlich beeinflussten die bereits erwähnten zentral angelegten Quer-schnittsbereiche von außen die interne Organisation der Betriebe nachhaltig.

Sie zogen immer mehr angestammte Kompetenzen aus der Unternehmerfunktion ab. Auch hierbei handelt es sich um eine charakteristische Dynamik, die Pla-nung von komplexen Produktketten zu vereinfachen und zu versuchen, das Geschehen auf der Betriebsebene beherrschbar zu halten. Dazu gehörten je nach Branche und hergestelltem Produkt die Bereiche Absatz, Marketing, Quali-tätsmanagement, Design und Formgestaltung. Diese Kompetenzverschiebun-gen zu untersuchen wäre lohnend, weil sich so feststellen ließe, wo und an welchen Stellen in der Wirtschaftsverwaltung sich die abgezogenen Kompeten-zen wiederfanden und ob sie in dem jeweiligen funktionalen Äquivalent funkti-onierten. Es ist jedenfalls nicht immer ganz eindeutig, dass diese Kompetenz-einbußen immer unwirtschaftliche oder ineffiziente Ergebnisse zeitigten. Die durchaus beachtliche Entwicklung des ostdeutschen Industriedesigns wäre hierfür ein prägnantes Beispiel, die auch für den VEB Simson große Bedeutung erlangte. Die externalisierte Formgestaltung und Produktentwicklung, die in enger Abstimmung mit den zuständigen Betriebsabteilungen unternommen wur-de, gereichte den Betrieben nicht zwingend zum Nachteil. So gab es in Suhl bei der Konstruktion der sogenannten Vogelreihe – einer Modellreihe von Mopeds

nach dem Baukastenprinzip – eine überaus produktive Zusammenarbeit zwi-schen den Ingenieuren und den beiden in der DDR weithin bekannten Form-designern, Karl Clauss Dietel und Lutz Rudolph. Teilweise konnten unterschied-liche Modelltypen von Mopeds aus 90 Prozent der Bauteile eines anderen Modells gefertigt werden, womit es gelang, neue und unterschiedliche Ziel-gruppen anzusprechen.52 Auch in diesem Bereich hat vielversprechende neue Forschung begonnen.53

6 Schlussbemerkung

Für die DDR-Wirtschaft waren Traditionsbetriebe wie Zeiss in Jena, Leuna in Bitterfeld, BMW in Eisenach wie auch Simson in Suhl überlebenswichtig. Die Leistungsfähigkeit dieser Betriebe stabilisierte die ostdeutsche Wirtschaft jahr-zehntelang. In ihnen bündelte sich die Produktionserfahrung von Unternehmen, die in historisch gewachsenen Branchenstrukturen aus dem kapitalistischen Wirtschaftssystem vor dem Zweiten Weltkrieg gebildet worden war. Ihre Stamm-belegschaften waren in jener Zeit ausgebildet worden und im Nationalsozialis-mus hatten diese Unternehmen einen erheblichen technologischen Modernisie-rungsschub mitgemacht. Trotz der Verluste an Fachkräften, der demontierten Maschinenparks und eingeschränkten Marktchancen zwischen Kriegsende 1945 und Mauerbau 1961 profitierte davon auch noch die sozialistische Planwirt-schaft der DDR. Die Unternehmen hatten – und behielten – teilweise stabile Geschäftskontakte sowohl auf dem Binnenmarkt der DDR als auch auf den eu-ropäischen und zunehmend global ausgerichteten Märkten. Schließlich ließ sich am Zustand gerade dieser großen Betriebskonglomerate am deutlichsten ablesen, in welchem Zustand sich das wirtschaftliche System insgesamt befand.

Während die oberste Partei- und Verwaltungsspitze sich in den 1980er Jahren in Durchhalteparolen erging und davon bis zum Schluss die halbe Welt überzeu-gen konnte, hatten die Verantwortlichen unten in den Betrieben wenig Zweifel an der Realitätsferne der politischen Führung.

Eine konzeptionelle Neuausrichtung der Wirtschaftsgeschichte sozialistischer Budgetwirtschaften, wie sie hier vorgeschlagen wird, muss sich natürlich der Frage nach der Aussagekraft einer Analyse von Fallbeispielen stellen. Lassen

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52 Schulz, „Schwalbe“, S. 61-64.

53 C. Wölfel/S. Wölfel/J. Krzywinski (Hg.), Gutes Design. Martin Kelm und die Designförderung in der DDR, Dresden 2014.

sich über sie methodisch-theoretische Neuüberlegungen dieser Reichweite be-gründen? Darauf gibt es gleich mehrere Antworten: Erstens ist Repräsentativität eine statistische, nicht aber eine historische Kategorie. In der Geschichte kann es immer nur um den Nachweis bzw. die Plausibilisierung gehen, dass ein be-trachteter Fall für ein Phänomen oder einen Zusammenhang exemplarisch ist.

Zweitens bedingt die Verlagerung der Beobachtungsperspektive auf die Ebene der Betriebe und ihrer Steuerungskontexte notwendig eine Orientierung auf den Einzelfall, zumal gerade so verwucherte Konglomerate von Produktionsbetrie-ben, Zulieferern und Steuerungs- und Planungsorganen wie in der DDR-Wirt-schaft keine klare, homogene volkswirtDDR-Wirt-schaftliche Struktur erkennen lassen, sondern ausgesprochen idiosynkratische Charakteristika annahmen. Drittens ver-langt gerade der Vergleich kapitalistischer Praxisformen in Unternehmen mit ihren funktionalen Äquivalenten in der sozialistischen Budgetwirtschaft nach einer Vergleichbarkeit der Analyseeinheiten, die auf die Marktindividualität des Unternehmens zugeschnitten ist. Schließlich legt eine durchgehend akteurs-orientierte Perspektive die Suche nach exemplarischen Akteurspositionen und ihren Verantwortlichkeiten nahe.

Und hier beginnt die nächste Geschichte, diejenige nach 1989: die Geschichte der neuerlichen Transformation der ostdeutschen Wirtschaft und ihrer Unter-nehmen in die Soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland. Man könnte hier auch den Blick auf die westdeutschen Unternehmen nach der Mauer-öffnung untersuchen, die sich in der DDR und Osteuropa engagierten und hier ihre Chance auf die Erschließung neuer Märkte verwirklichten. Dass auf be-stimmten Märkten westdeutsche Interessen eine erhebliche Rolle für die Trans-formation der ostdeutschen Wirtschaft gespielt haben, dass es langjährige Ver-flechtungsbeziehungen mit westdeutschen und westeuropäischen Unternehmen gab, ist bekannt, bleibt aber dennoch ein wenig erforschter Aspekt der deutsch-deutschen Wiedervereinigung. Es ist zu vermuten, dass diesen Geschichten größere Aufmerksamkeit zuteilwerden wird, wenn die Rolle der Treuhandan-stalt einmal mit vollständig freigegebenen Quellen untersucht werden kann.

Dringend muss aber schon jetzt über die thematische und konzeptionelle Ausrichtung der DDR-Wirtschaftsgeschichte nachgedacht werden. Dazu ist es erforderlich, die teleologische Engführung der wirtschaftshistorischen For-schung auf das Scheitern der DDR und der ostdeutschen Wirtschaft abzulegen;

eine Geschichte, deren bekannter Ausgang nur bewiesen werden soll, hält wenig Raum für unerwartete Erkenntnisse und methodische Neuerungen bereit. Viel-versprechender ist es demgegenüber, mit Ranke anzuerkennen, dass jedes his-torische Ereignis seine eigene Relevanz hat und damit auch eine unvoreinge-nommene Forschung beanspruchen darf. Das Ende des Kalten Krieges hat zwar

nicht notwendig das Ende der Ideologien mit sich gebracht, wie es in den 1990er Jahren erwartet wurde, doch wir sind heute in der glücklichen Lage, die Grabenkämpfe hinter uns lassen zu können, die so lange die Forschung geprägt haben. Die Wiederentdeckung und Neubearbeitung von Themen wie ökonomi-scher Ungleichheit, die jüngsten Krisen des globalen Finanzkapitalismus, aber auch die Rückkehr protektionistischer Wirtschaftspolitiken zeigen die Relevanz, die kritische Analysen sowohl kapitalistischer als auch nicht-kapitalistischer Wirtschaftsformen haben. Diese Chance sollte die Wirtschaftsgeschichte nicht ungenutzt lassen.

Bionotes

Ulrike Schulz

Dr. phil. Ulrike Schulz is the project coordinator of and a researcher in the Independent Com-mission of Historians Investigating the Reich Ministry of Labor. Her research focuses on the social and economic history of Germany and Europe in the nineteenth and twentieth centuries.

She received her PhD from the University of Bielefeld in 2011 (Simson: Das unwahrscheinliche Überleben eines Unternehmens, 1856-1993 (Göttingen: Wallstein, 2013)). Before joining the research project on the Ministry of Labor, she was a Visiting Researcher at Yale University and taught at the University of Bielefeld.

Thomas Welskopp

is professor for the history of modern societies at Bielefeld University. 2008/2009 he was fellow at the Historisches Kolleg in Munich. 2003/2004 fellow at the Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences, Stanford, CA. He is the author of: Das Banner der Brüderlich-keit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz (J.H.W. Dietz 2000) and Amerikas große Ernüchterung. Eine Kulturgeschichte der Prohibition (Schöningh 2010). Most recent book publication: Unternehmen Praxisgeschichte. Historische Perspektiven auf Kapitalismus, Arbeit und Klassengesellschaft (Mohr Siebeck 2014).