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2.2 Intelligenz, Künstliche Intelligenz (Gegenstandsbereich)

2.2.2 Künstliche Intelligenz

Das Attribut „künstlich“ im Begriff „Künstliche Intelligenz“ verdeutlicht, dass hier

„Intelligenz“ im Zusammenhang mit künstlich entwickelten Maschinen betrachtet wird.

Viel zitiert ist die erste Verwendung des Begriffs von Intelligenz zusammen mit Fähigkeiten eines Computers in einem Essay des Mathematikers Turing von 195060. Allerdings kommt hier der Begriff Intelligenz in Verbindung mit einem Computer im Wesentlichen nur im Titel seines Essays vor. Im Text stellt er nicht die Frage, ob

55 Salovey, P. & Mayer, J. D. (1990). Emotional intelligence. Imagination, Cognition and Personality, 9, 185–211.

56 Sternberg, R. J. & Wagner, R. K. (Eds.). (1986). Practical intelligence: Nature and origins of competence in the everyday

world. Cambridge, GB: Cambridge University Press.

57 Rost, D. H. (2009). Mehr multiple Perspektiven–mehr multiple Irritationen? Replik auf die Kritik von Kim & Hoppe-Graff. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 23(1), 75-83.)

58 Süß, H.-M. (2006). Eine Intelligenz – viele Intelligenzen. Neue Intelligenztheorien im Widerstreit. In H.

Wagner & Thomas-Morus-Akademie Bensheim (Hrsg.), Intellektuelle Hochbegabung. Aspekte der Diagnostik und Beratung. Tagungsbericht (S. 7–39). Bad Honnef, DE: Bock.

59 Zitiert nach Rost (2013)

60 A. M. Turing (1950) Computing Machinery and Intelligence. Mind 49: 433-460.

Maschinen intelligent sein können, sondern ob Maschinen denken können, wobei dabei natürlich menschliches Denken gemeint ist. Auch seine Zeitgenossen, die seinen Aufsatz referierten, bezogen sich auf die von ihm gestellte Frage, ob Maschinen denken können61. Ziel Turings war also der Entwurf „Künstlichen Denkens“. Eine detaillierte Beschreibung der Einzelheiten des sog. Turing-Tests wäre an dieser Stelle nicht zielführend; angemerkt werden soll lediglich, dass es sich dabei um ein Frage-Antwort-Spiel mit nichtphysischer Sprachinteraktion handelt, das menschliche Bewerter als Evaluatoren der „Menschähnlichkeit“ einer Maschine bezüglich bestimmter, durch Fragen erfassbare psychische Fähigkeiten nutzt. Obwohl dies in der KI-Literatur häufig behauptet62 wird, ist der Test von Turing kein Intelligenztest im obigen psychologischen Sinne: es wird nicht getestet, wie intelligent die Maschine ist, sondern ob sie intelligent ist, wobei hier unter intelligent „denkt wie ein Mensch“

verstanden wird – unabhängig davon, welches Intelligenzniveau diesem

„Vergleichsmensch“ zugesprochen wird63. Die Gleichsetzung von „intelligent“ mit

„ähnlich zu menschlichem Denken und menschlicher Informationsverarbeitung“ zieht sich durch einen Großteil der KI-Literatur.

Der Begriff „Künstliche Intelligenz“ entstand im Zuge der Beantragung von Fördermitteln für ein zweimonatiges Sommerprojekt in Dartmouth College in Hanover, New Hampshire64. Die Beantragenden diskutierten, wie das Ziel erreicht werden könnte, spezielle, bis dato nur vom Menschen leistbare Fähigkeiten durch Maschinen zu simulieren und diese schließlich sogar besser werden zu lassen als der Mensch.

Als Beispiele für Ziele, die erreicht werden sollten, wurden u.a. „Beweisen von Theoremen“, „Komponieren“ oder „Schach spielen“ genannt. Es ging darum

„intelligentes“ Verhalten nachzubilden, wobei der Begriff „Intelligenz“ analog zu Turing offensichtlich wiederum als Synonym menschlicher kognitiver Leistungen gebraucht wurde.

Die Begriffsbildung „Künstliche Intelligenz“ war ein Stück weit auch zufälliger Natur.

McCarthy, einer der Initiatoren des Projektes, wählte den Begriff Künstliche Intelligenz als Alternative zu „Automatentheorie“, weil er zur selben Zeit mit Shannon einen Sammelband mit diesem Namen herausgab65. Einige Teilnehmer der Konferenz waren mit dem Begriff nicht einverstanden und benutzen ihn wie Simon und Newell zunächst nicht. Stattdessen wählten sie lieber den für die Arbeiten der ersten Jahre passenderen Begriff „complex information processing“. Bei der Konferenz war auch der Begriff „berechenbare Rationalität“ im Gespräch, setze sich aber auch nicht

61 Shannon, C., and McCarthy, J., eds. 1956. Automata Studies. Annals of Mathematical Studies, 34.

Vorwort, Princeton, N.J.: Princeton University Press.

62 Der Ansatz von Turing wird noch heute als „ausreichend Operationalisierung von Intelligenz bei der Adaption auf Maschinen angesehen. Norwig, P., & Russel, S. (2010). Artificial Intelligence. A modern approach. Willliams.

63 In dem Turing-Test muss die Maschine im Spiel durchaus enorme Fähigkeiten haben, die auch für einen Menschen herausfordernd sind. Als Intelligenztest taugt der Test wegen der fehlenden Quantifizierbarkeit dennoch nicht.

64 McCarthy, J., Minsky, M. L., Rochester, N., & Shannon, C. E. (2006). A proposal for the dartmouth summer research project on artificial intelligence, august 31, 1955. AI magazine, 27(4), 12-12.

65 Aus: McCorduck, P. 2004. Machines Who Think: A Personal Inquiry into the History and Prospects of Artificial Intelligence. Natick, MA: A. K. Peters, Ltd., 2nd edition.

durch66. Einmal in die Welt gesetzt, blieb die Begrifflichkeit „Künstliche Intelligenz“ an dem Wissenschaftsgebiet haften.

Die Verbindung zum Intelligenzbegriff in der Psychologie ist folglich als lose zu bezeichnen. Der Intelligenzbegriff in der KI unterscheidet sich fundmental von dem psychologischen. Marvin Minsky formuliert im Jahr 1966:

„Artificial Intelligence is the science of making machines do things that would require intelligence if done by men.67“ wobei er als Intelligenz “the ability to solve hard problems”68 annahm.

Ähnlich ist die Definition McCarthys und Hayes (1969)69, die dabei auch beschreiben, was „intelligent“ im Zusammenhang mit Maschinen bedeutet.

„a machine is intelligent if it solves certain classes of problems requiring intelligence in humans, or survives in an intellectually demanding environment“.

Wichtig ist der zweite Teil der Definition, der sehr Vielem – auch Maschine oder Tier – das Potenzial zum Attribut „intelligent“ zusprechen. Dieser Bezug zum Agieren in der Umwelt ist auch wesentlicher Teil der Definition von Nilsson 200970:

For me artificial intelligence is that activity devoted to making machines intelligent, and intelligence is that quality that enables an entity to function appropriately and with foresight in its environment“.

Der Bezug der Maschinenintelligenz auf das Für-den-Menschen-Schwierige geht ins Leere, wie das Beispiel des wissenschaftlichen Taschenrechners zeigt, der sicherlich nicht als intelligent bezeichnet wird, aber Aufgaben lösen kann, für die es bei menschlichen Akteuren zumindest gehobener Intelligenz bedarf. Das zeigt sich auch beim Schachcomputer, der heute nicht mehr als intelligent bezeichnet wird.71 Diese Ernüchterung gegenüber KI-Technologien bezüglich der Zuschreibung von Intelligenz nachdem sie sich etabliert haben, wird als KI-Effekt bezeichnet: „KI ist das, was noch nicht gemacht wurde“ 72.

Problematisch an der Zuschreibung einer Intelligenz an dem Zurechtkommen in der Umwelt ist, dass – auch bei Berücksichtigung, dass dies Voraussicht enthält – damit praktisch alle Tiere als intelligent bezeichnet werden müssen.

In 80er Jahren wird der Begriff „intelligent“ zunehmend in Zusammenhang mit dem Begriff „Agent“ verwendet73. In dem Lehrbuch „Artificial Intelligence. A modern

66 Aus Norwig, P., & Russel, S. (2010). Artificial Intelligence. A modern approach. Willliams

67 M Minsky (ed) (1968) Semantic Information Processing, The MIT Press, Cambridge, Mass.

68 Minsky, M. 1985. The Society of Mind. New York: Simon and Schuster.

69 McCarthy, J.; Hayes, P.J. (1969). Some Philosophical Problems from the Standpoint of Artificial Intelligence. In B. Meltzer und D. Michie, Hrsg., Machine Intelligence 4, Seiten 463–502. Edinburgh University Press, 1969.

70 Nilsson, N. J. (2009). The quest for artificial intelligence. Cambridge University Press.

71 Wie erwähnt wird auch menschliches Schachspielen nicht als Ausdruck menschlicher Intelligenz angesehen.

72 Schank, R. C. 1991. Where is the AI? AI Magazine 12(4):38–49..

73 Der Begriff intelligenter Agent wurde schon viel früher verwendet, zunächst als „General Intelligent Agent“ im „general problem solver“ GPS. Newell, A. & Simon, H.A. (1972). Human Problem Solving und später für spezialisierte Expertensysteme zur Unterstützung von Wissenschaftlern oder Ärzten, z. B. DENDRAL Expertensystem für Massenspektrometer. Feigenbaum, E.A. "Artificial Intelligence Research: What is it? What has it achieved? Where is it going? " invited paper, Symposium on Artificial Intelligence, Canberra, Australia. 1974.

approach“ von Norwig und Russel (2010) werden intelligente Agenten ganz allgemein als etwas eingeführt, das über Sensoren Daten aus einer Umwelt empfangen und auf dieser Basis mit Hilfe von Aktuatoren in dieser Welt handeln kann. Auf oberster von vier Intelligenzstufe stehen Agenten, die Ziele verfolgen, auf Basis von Modellen und Gütefunktionalen (Nützlichkeit) operieren und lernen. Allerdings werden auch einfache reflexartig Strukturen als „intelligente Agenten“ bezeichnet. Daraus folgert dann, dass auch Temperaturregler oder Geißeltierchen als „intelligent“ – wenn auch auf der untersten Stufe stehend – bezeichnet werden müssen.

2.2.3 „Intelligent“ als Attribut von Software und Maschinen

Das vorherige Kapitel hat gezeigt, dass in der Fachrichtung „Künstliche Intelligenz“

eine Vorstellung von Intelligenz entstanden ist, die sich fundamental von der der Psychologie unterscheidet. Beschreibt der psychologische Intelligenzbegriff Unterschiede zwischen Menschen bezüglich eines (mehr oder minder gut) messbaren Merkmals, ist es in der KI einerseits der Vergleich von Maschinen mit dem Menschen und andererseits die Annahme bestimmter Informationsverarbeitungsprozesse, die die Vergabe des weitgehend „binären“74 Labels „intelligent“ rechtfertigt. Menschliches Handeln und Denken ist in der KI per se intelligent und eine Maschine, die intelligent genannt werden will, muss psychische Fähigkeiten oder Fertigkeiten haben, die der Mensch hat, wobei die Fähigkeiten nicht eingegrenzt sind. In letzter Konsequenz ist es die Fähigkeit des Menschen, in einer Umwelt handeln zu können. Dieses „in einer Umwelt auf Basis von Sensordaten adäquat handeln“ ist das Wesen von den oben beschriebenen „intelligenten Agenten“, was aber in letzter Konsequenz dazu führt, dass auch Temperaturreglern, Lichtschranken oder Fröschen das Attribut „intelligent“

verliehen werden muss. Da jedes Softwareprogramm ein Ergebnis produziert und jede Maschine irgendetwas macht, ist es – neben der Menschähnlichkeit – in letzter Konsequenz die Tatsache eines Inputs über Sensoren, die Intelligenz festlegt. Der Input kann sogar reiner Datennatur sein, wie etwa bei intelligenten Softwareagenten75. Der Begriff „intelligent“ ist in der KI-Literatur allgegenwärtig und wird nicht sichtbar in Frage gestellt. Zunehmend problematisch ist die Frage, was nicht intelligent ist. Wird das Verhalten eines Temperaturreglers als intelligent akzeptiert, müssten eigentlich alle Systeme der Automatisierungstechnik als „intelligent“ bezeichnet werden.

Weiterhin ist es problematisch, unterschiedliche intelligente Systeme bezüglich ihrer (synthetischen) Intelligenz zu vergleichen. Was ist intelligenter, ein Schachcomputer oder ein autonom fahrender Roboter, und wie verhält es sich bei beiden im Vergleich etwa zu einem intelligenten Softwareagenten? Oder sind die Fragen falsch? Bedeutet vielleicht in der KI das Label „intelligent“ nichts anderes als „enthält KI-Algorithmen“?

74 Eben den eben beschriebenen Stufen von Intelligenz, die sich an dem Ausmaß von Planungsoperationen verankert, wird teilweise die Stufigkeit von „Intelligenz“ auch an Fortschritten in der technischen Entwicklung festmacht. Je moderner die Entwicklung, desto intelligenter ist das System (siehe z.B. Wahlster, W., Winterhalter, Ch. (eds.) (2020): Deutsche Normungsroadmap Künstliche Intelligenz. S.12)

75 Buettner, R. (2011). Automatisiertes Headhunting im Web 2.0: Zum Einsatz intelligenter Softwareagenten als Headhunting-Robots. INFORMATIK 2011 - Informatik schafft Communities, 41.

Jahrestagung der Gesellschaft für Informatik, 4.-7.10.2011, Berlin.

Problematisch an der divergierenden Auffassung von Intelligenz bei Menschen und bei Maschinen ist auch die Wertung bei gleichen Aufgaben. Ein selbstfahrender Mähroboter mit KI-Algorithmen hat eindeutig die Merkmale eines intelligenten Agenten, u. U. sogar höherer Stufe, und wird auch als „intelligent“ vermarktet. Ein Tier (z.B. ein Schaf), das dieselbe Tätigkeit leistet, wird aber in der Regel ob dieser Leistung keineswegs als intelligent bezeichnet. Und auch bezogen auf Menschen ist das Mähen kein Indikator von Intelligenz, bzw. nicht einmal in das Maßkonstrukt einzuordnen.

Dieser neue (synthetische) Intelligenzbegriff und die Diskussion in der Öffentlichkeit haben dazu geführt, dass „intelligent“ zunehmend auch als Marketingbegriff benutzt wird. Veröffentlich sind:

76 intelligente Stromnetzkonzepte (Smart Grid),

intelligentes Energiemanagement,

intelligente Verpackungen,

intelligente Arbeitsplätze,

• intelligentes Verkehrsmanagement,

intelligente Sensorik oder

intelligentes, multinutzerfähiges Zuhause.

Man findet

intelligente Fabriken77,

intelligente Produkte78 die über das Wissen ihres Herstellungsprozesses und künftigen Einsatzes verfügen,

intelligente Lieferketten79,

intelligente Lichtschranken80,

intelligente Haushaltsgeräte81,

intelligente Bohrmaschinen82 oder

intelligente Rasenmäher83.

In vielen Beispielen ist es allein die Tatsache, dass die Systeme oder Produkte Komponenten mit KI-Algorithmen enthalten, die das Attribut „intelligent“ rechtfertigen.

76 Alle folgenden Beispiele aus: Fachforum Autonome Systeme, acatech (Hrsg) (2016) Das Fachforum Autonome Systeme im Hightech-Forum der Bundesregierung–Chancen und Risiken für Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Abschlussbericht. München

77 Kagermann, H., Wahlster, W., & Helbig, J. (2013). Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0. Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie, 4(5), 1-9.

78 Kasper, B. Materialsammlung zu den Arbeitspaketen 1 und 2 im BAuA-Projekt F 2474

„Sicherheitstechnische Methoden Industrie 4.0 (SMI4. 0)“

79 Bitkom, D. (2017). Entscheidungsunterstützung mit Künstlicher Intelligenz: Wirtschaftliche Bedeutung, gesellschaftliche Herausforderungen, menschliche Verantwortung. [online]

80 „Intelligente Lichtschranken“ werden durchaus schon beworben. https://www.md- automation.de/themen/automation/mit-intelligenten-lichtschranken-sicher-detektieren-und-effizient-automatis

81 https://www.lupus-electronics.de/de/blog/smartes-leben-intelligente-haushaltsgeraete/

82 https://www.ke-next.de/news/intelligente-bohrmaschine-mit-igus-gleitlagern-richtet-knochen-122.html

83 Multiple Referenzen

Zunehmend wird „intelligent“ aber nur als Synonym für „hochmodern“ oder

„fortschrittlich“ mit entsprechender Marketingwirkung verwendet. Dies wird besonders deutlich in Beispielen wie:

intelligente Kieze84,

intelligente Brücken85 oder

intelligente Steine86.

Besonders bei den intelligenten Steinen, die nicht einmal elektronische Komponenten oder Software enthalten, wird die Verselbstständigung des Begriffes intelligent außerhalb des Kontextes Mensch deutlich. Intelligent wird zunehmend zu einem Synonym für „fortschrittlich, an vorderster Front technologischer Entwicklung stehend“

– auch dann, wenn kein KI-Algorithmus darin enthalten ist.