• Keine Ergebnisse gefunden

Jahrhundert

Im Dokument Wachsen – wie geht das? (Seite 27-0)

Teil 2 GESELLSCHAFT UND „BEHINDERUNG“

18. Jahrhundert

wirtschaftlich-gesellschaftlichen Verteilungsmodus mit sich, der sich gleichzeitig auf die Gestaltung der sozialen Beziehungen innerhalb des neu entstandenen politischen Systems auswirkte. Ursache waren die unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungen von Bevölkerungszunahme, staatlicher Zentralisation und merkantilistischer Wirtschaftsreform. Die raumzeitliche Einheit von produzierender (das Bearbeiten von Sachen zum Nutzen der Hausgesellschaft) und sozialer Tätigkeit (Fürsorge und Kontrolle der Schwächeren) wurde aufgebrochen (vgl. Van der Locht 1997, S.41; Dörner 1996).11 Bis zur Entstehung der bürgerlichen Nationalstaaten vor allem in Westeuropa im 18. und 19. Jahrhundert waren in einer häuslichen Subsistenzwirtschaft alle Gemeinschaftsmitglieder an der Produktion der für sie wichtigen Produkte direkt beteiligt, produktives und soziales Tun waren noch nicht gespalten. Die sozio-ökonomische Einheit des Haushalts war bis ins 19. Jahrhundert hinein Lebens-, Wohn-, Leidens-, Fürsorge-, Selbstjustiz-, und Kooperationsgemeinschaft in einem. Es wurden die Güter, die man gemeinsam verbrauchte, auch gemeinsam produziert, und man fühlte sich auch gegenseitig verantwortlich. Das heißt, auch die Schwächeren, bspw. ein behindertes Kind, ein dementer Großvater oder eine wahnhafte Tante, gehörten dazu und hatten eine ihnen gemäße Tätigkeit.12 Mit der in mehrerer Hinsicht gewaltsamen Veränderung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse werden die Menschen einmal von den Bedingungen zur Herstellung ihrer Mittel getrennt und zum Zweiten untereinander, da die

10 Die Behinderten stehen ohne Zeichen, weil ich damit kennzeichnen will, dass es sich tatsächlich um Behinderte im Sinne einer Vorenthaltung von gesellschaftlichen Errungenschaften handelt. Ich halte diese Bezeichnung für geeigneter als bspw. Menschen mit Behinderung, weil bei letzterer die Betonung darauf liegt, dass der Mensch eine Behinderung hat (Rödler 2003).

11 Nicht zu vergessen ist jedoch die monarchistische Herrschaft der Adligen mit dem König als zentraler Machtinstanz. Damit will ich lediglich festhalten, dass die Gemeinschaften nicht ausschließlich für sich selbst sorgten, sondern zunächst für das Wohl der adligen Schichten zu sorgen hatten. Das ändert jedoch nichts an der gemeinschaftlichen Ausrichtung der Produktion, an der alle beteiligt waren, sich beteiligen mussten.

12 Dass dies nicht immer sehr human gewesen ist, soll hier nicht verschwiegen werden.

soziale Tätigkeit nun an andere delegiert wird (vgl. Gorz 1994, Dörner 1996, Van der Locht 1997).

Gesellschaftliche Arbeitsteilung

Die zunehmende Verlagerung und Konzentration der Arbeit in Fabriken ermöglichte zusammen mit dem Einsatz neuer Technik eine Produktivitätssteigerung und eine Ausdehnung der Bedürfnisbefriedigung, die damit gleichzeitig die räumlichen und ideellen Fesseln der ständischen Hauswirtschaft löste und Kleinbauerntum, Handwerk und Kleingewerbe in sich aufsog. Die entstehende und zunehmende Institutionalisierung der Gesellschaft und die Anforderungen des sie tragenden Wirtschaftssystems (Stadtentwicklung, Fabrikbauten und deren Finanzierung, politische Befreiung der Bürger von ständischen Abhängigkeitsverhältnissen, technische Erfindungen, Verfügbarkeit einer wachsenden Zahl geeigneter Arbeitskräfte) führte zur Veränderung der Arbeits- und der Lebenswelten für Alle.

Gorz hat zu Recht darauf verwiesen, dass dieser Prozess der Anpassung der Menschen an diese Verhältnisse lange währte und sich nur mit Gewalt durchsetzen konnte, sodass Dörner vom „größten verhaltensmodifikatorischen Experiment aller Zeiten“ spricht.13

Diese Prozesse werden von der Kritischen Theorie unter den Begriff der gesellschaftlichen Arbeitsteilung gefasst, insbesondere der zunehmenden Trennung von Hand- und Kopfarbeit.

Es wird damit ein „Produktionsverhältnis“ beschreibbar, was nicht nur die konkreten Arbeitsprozesse zum Gegenstand hat, sondern sich auf die gesamte Gesellschaft ausdehnt. Für die kapitalistische Gesellschaft sind demnach arbeitsteilige und maschinelle Produktion durch Lohnarbeitsverhältnisse, Privatbesitz an den Produktionsmitteln, (Waren-)Tausch und Profiterwirtschaftung ebenso strukturierende „soziale Formen“ (Hirsch) wie die einzelnen Institutionen und Organisationen, die dadurch hervorgebracht werden und diesen Prozess tragen. Diese Produktionsweisen sind das Resultat der Verfolgung spezifischer Interessen handelnder Akteure. „Auf die Ebene des gesellschaftlichen Handelns bezogen, bilden die sozialen Formen so etwas wie allgemeine, strukturelle, aus den grundlegenden

13 12-, 14- oder 16-stündige Arbeitstage unter Bedingungen, die an die mittelalterlichen Arbeitshäuser erinnern waren ebenso vorherrschend wie die Arbeit von Kindern. Der Grund war nach Gorz, dass die Stundenlöhne so niedrig angesetzt und die Arbeiter gezwungen waren, entsprechend viele Stunden für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Denn die Zahlung höherer Löhne hatte dazu geführt, dass die Arbeiter zu Hause blieben, statt diszipliniert in die Fabrik zu gehen. Erst die Kämpfe der Arbeitenden führten danach zu humaneren Bedingungen und der Möglichkeit des Schulbesuchs für die Kinder und Jugendlichen. Gorz hat zudem beschrieben, dass positiver „Druck“ die Bauern, die ihren geregelten Arbeitsalltag hatten, keineswegs dazu animierte, eine Arbeit in der Fabrik anzunehmen, da sie damit ihre wenn auch geringen Freiheiten verloren.

Gleiches gilt für die Tendenz, fünf Tage die Woche zu arbeiten, wenn drei Tage ausreichen. Erst der Zwang, diese Arbeit anzunehmen, um damit das Leben zu bestreiten, führt zur Lohnarbeit (Gorz 1994). Dies zeigt sehr deutlich, dass Zweck-Mittel-Relationen nichts Natürliches sind, sondern von außen gesetzte Prämissen industriell-kapitalistischer Produktion von Profit.

Vergesellschaftungsprinzipien resultierende Wahrnehmungs- und Verhaltensorientierungen, denen die Individuen generell ohne ihr eigenes Zutun unterworfen sind, also z.B. den Zwang zum Verkauf von Waren oder Arbeitskraft gegen Geld als Bedingung ihrer materiellen Reproduktion, der Appell an den Staat als Träger des Gewaltmonopols und historisch-spezifischer Ausdruck des Gemeinwesens usw.“ (Hirsch 1992, S.212/213). Dies bedingt vor allem auch eine Spaltung der Produktionsweise von den Produktionsverhältnissen und der politischen Repräsentation innerhalb der Gesellschaft. Dieser Prozess der funktionalen Differenzierung unterscheidet die industriell-bürgerliche Gesellschaft von der agrarisch-ständischen. Bereiche wie Ökonomie, Warenwirtschaft, Staat, Recht, Politik, Bildung, Freizeit, Kleinfamilie u.a. sind damit bereits das Resultat sozialer Kämpfe (Aufklärung, bürgerliche Revolution). Ich werde darauf zurückkommen, weil sich hier diese Funktionalisierung, wie angedeutet, auch auf das einzelne Individuum auswirkt. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich die Werthaltungen der Gesellschaft gegenüber den Alten, den Behinderten, aber auch so etwas wie Kindheit, Jugend, Berufskarriere, Krankheit und Leistung verstehen.

Tausch

Gesellschaft hatte ich beschrieben als einen funktionalen Zusammenhang, der sich in den gesellschaftlichen Infrastrukturen (sozialen Formen) des materiellen, des ideellen, des sozialen und des sprachlichen Verkehrs niederschlägt. Diesen Zusammenhang verstehe ich als gesellschaftliches Rationalitätsmodell, der in der Kritischen Theorie aufbauend auf der Kritik der politischen Ökonomie von Marx als Tauschverhältnis, als „gesamtgesellschaftliche Instanz“ (Türcke/Bolte), gefasst wird. Nicht nur Güter werden dabei marktförmig getauscht, sondern auch Arbeitskraft, Zeit, Ressourcen sind Ware unter der Prämisse der Erzielung von Profit. Dieses Verhältnis wird von außen gesetzt14 und bestimmt15 die gesellschaftliche Entwicklung. Die auf einem scheinbar freien Vertragsverhältnis beruhende Beziehung garantiert fortan das Privateigentum, die Zirkulation der Güter und Reichtümer und bildet das Fundament einer sich ausweitenden Handelsökonomie. Gleichzeitig ist die „freie“ Zirkulation der Menschen ein wichtiger Bestandteil dieser gesellschaftlichen Veränderung (vgl. Brückner 1984, Dörner 1988, Gorz 1994).

Die Einheit der (Tausch-)Wirtschaft und des gesamten gesellschaftlichen Prozesses müssen deshalb betrachtet werden, da gerade der Tausch die Produktionsverhältnisse bestimmt. Die Produktion um des Profits willen, der die Bedürfnisse der Menschen teilweise oder gar

14 Das heißt, es ist kein dem Prozess innewohnendes „natürliches“ Merkmal, sondern von Menschen gesetzt.

15 Bestimmen war wie bereits dargestellt ein Prozess mit verschiedenen Annahmen (s.o.).

vollständig formiert, führt ebenso dazu, dass die Gebrauchswertseite der Waren ihre naturwüchsige Selbstverständlichkeit einbüßt und sie zunehmend nur noch als reine Tauschobjekte wahrgenommen werden.

Im gesellschaftlichen Tauschprozess erscheint der Charakter der menschlichen Arbeitsprodukte als deren Natureigenschaft. Durch den allgemeinen Tauschwert wird jedes Ding als Ware zu einem anderen Ding in ein spezifisches Verhältnis gesetzt. Doch hat es den Anschein, als entsprächen die Kriterien des Tausches den Dingen selbst, was sich auch auf die Menschen und ihre Tätigkeiten bzw. ihr Verhältnis untereinander auswirkt. Nach Demirovic (2005) ist dieser Äquivalententausch, der sich demnach ökonomisch und politisch fassen lässt, als Identitätsprinzip der Zwang der momentanen Gesellschaftsordnung, egal wie sie sich selbst auch nennen mag. Dieser Zwang bringt die Menschen dazu sich unter diesem übergeordneten Maß ins Verhältnis zu setzen, welches Individualität unter diesen marktförmigen Kriterien kennt, und die Selbsterhaltung Aller organisiert. Diese Selbsterhaltung dient aber dazu, wenige zu privilegieren und herrschen zu lassen.

Festzuhalten ist mit Demirovic, warum nach vierhundert Jahren Aufklärung und zweihundert Jahren Menschenrechten die Ausgrenzung auf der Grundlage Geschlecht oder Rasse oder Armut und Arbeit oder „Behinderung“ und „Ver-rücktheit“ bzw. „Wahnsinn“ sich ständig erneuert. Erklärungsbedürftig ist jedoch nicht nur die Bedingung der Möglichkeit des ständigen Rückfalls, sondern mehr noch der zähen Wiederholungen, mit der Frauen stets wieder benachteiligt, Individuen stets wieder rassistisch diskriminiert werden, sich die Muster schlechter Arbeit, geringer Einkommen, mangelhafter Ernährung und geringer Bildung immer wieder reproduzieren (Demirovic 2005, S.5).

Ungleich ist der Tausch, da dieser einen Zwang darstellt, unter dem sich überhaupt Gesellschaft realisiert und sich die Menschen zu Subjekten entwickeln. Zu beachten ist nach Adorno: „Die Abstraktheit des Tauschwertes geht vor aller besonderen sozialen Schichtung mit der Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere, der Gesellschaft über ihre Zwangsmitglieder zusammen. (...) In der Reduktion der Menschen auf Agenten und Träger des Warentausches versteckt sich die Herrschaft von Menschen über Menschen. Das bleibt wahr trotz all der Schwierigkeiten, denen mittlerweile manche Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie konfrontiert sind. Der totale Zusammenhang hat die Gestalt, dass alle dem Tauschgesetz sich unterwerfen müssen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen, gleichgültig, ob sie objektiv von einem ‚Profitmotiv’ geleitet werden oder nicht“ (Adorno 2003, S.13).

Die Totalität der Vermittlungsprozesse, des Tauschprinzips, produziert eine zweite trügerische Unmittelbarkeit. „Sie erlaubt es, womöglich das Trennende und Antagonistische wider den eigenen Anschein zu vergessen oder aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Schein aber ist dies Bewusstsein von der Gesellschaft, weil es zwar der technologischen und organisatorischen Vereinheitlichung Rechnung trägt, davon jedoch absieht, dass die Vereinheitlichung nicht wahrhaft rational ist, sondern blinder, irrationaler Gesetzmäßigkeit untergeordnet bleibt. Kein gesellschaftliches Gesamtsubjekt existiert“ (Adorno 2003, S.369).

Es geht mir deshalb nicht um ein allgemeingültiges Erklärungsprinzip, sondern um spezifische gesellschaftliche Mechanismen, die Entwicklung des gesellschaftlichen Ganzen betreffend. Der Tausch ist das Prinzip der Einebnung der Subjekte zu Struktur-Funktionären, und gerade „Behinderung“ als soziale Kategorie macht dies sehr deutlich, werden die Personen als nicht tauschfähig angesehen. Die vermeintliche Gleichstellung der Rechtssubjekte wird durch die Unterwerfung unter den Produktionsprozess negiert, da Lohnarbeit, also die Arbeitenden selbst auch nur Ware sind. Diese Unterwerfung kann nur gebrochen werden durch einen anderen Funktionszusammenhang für den Produktionsprozess und die Teilhabe an der Gesellschaft, dem gesellschaftlichen Reichtum. Der Beitrag der Kritischen Theorie läuft meines Erachtens auf die Position hinaus, dass die Ökonomie zu allen Zeiten den Vorrang über die Gesellschaft hatte. „Allerdings darf er nicht verdinglicht, sondern muss in seiner historisch spezifischen Gestalt begriffen werden“ (Demirovic 1999, S.469).

Die Gestalt, also die sozialen Formen der Gesellschaft sind auf das Profitmotiv und damit verbunden auf den Tausch hin ausgerichtet und bewirken verschiedene Mechanismen der Unterwerfung bzw. Herrschaft.16 Dies hat ebenso Auswirkungen auf die Frage der Entwicklung jedes einzelnen Individuums zum Subjekt. Die Übermacht der Verhältnisse und Institutionen über die Menschen, die doch ihre Urheber sind, ist nach Ritsert für Soziologen wie Weber ebenso wie für Adorno real, Ausdruck einer tatsächlichen Verdinglichung17, welcher die gesellschaftliche Objektivität als Prozess der Reproduktion von System und Subjekt gewissermaßen nachgeordnet bleibt. Ritsert verknüpft damit wesentliche Einsichten der Kritischen Theorie. „Die Berufung auf Sachforderungen des Systems bleibt so lange massive Ideologie, gesellschaftlicher Schein, wie sich hinter ihr das handfeste Interesse von Gruppierungen oder jene Tendenzen verbergen, welche die Subjekte automatisch, manchmal

16 Was dies bedeutet, soll noch geklärt werden.

17 Kurz gesagt heißt das, Menschen und Dinge werden gleich, mindestens in der Zurichtung auf einen Markt, Wochenmarkt und Arbeitsmarkt funktionieren nach dem gleich Prinzip, Gemüse wird ebenso getauscht wie Menschen als Tätige.

(wie in der Kulturindustrie) auch planvoll daran hindern, ‚sich als Subjekte zu wissen’, ihre produktive Subjektivität auszubilden“ (Ritsert 1988, S.226). Zu beachten ist also, dass Gesellschaft ein von Menschen gemachter Prozess ist, der verschiedenste Interessen zu berücksichtigen hat, aber in seiner Gestalt diesen Interessen auch immer wieder entgegensteht.

Inmitten einer Tausch-Gesellschaft sind die vorkapitalistischen Rudimente und Enklaven jedoch keineswegs etwas Fremdes oder Relikte der Vergangenheit, so Adorno (2003). Damit sind Widersprüche und Widerstandspotentiale verbunden, die genutzt werden können, gesellschaftliche Prozesse zu beeinflussen, da entweder die Durchdringung der Gesellschaft mit spezifischen Funktionalismen noch nicht gelungen ist oder sie durch andere Prinzipien bereits abgelöst wurde. Der kapitalistische Zwang zur Kommodifizierung und damit verbunden der „Kontraktisierung“ aller Lebensbereiche, seine Durchsetzung mit staatlich-herrschaftlichen Mitteln und die Grenzen, an die er stößt, sind dabei noch lange nicht hinreichend aufgeklärt. Nicht nur die Unausweichlichkeit von Herrschaft, von Machtprozessen, sondern die Widersprüche oder auch blinden Flecken sind interessant (vgl.

Steinert 2007).

Ein solcher blinder Fleck scheint mir z.B. die Problemlage der „Behinderung“ zu sein. Die Gesellschaft hat bislang keinen Weg gefunden, „Behinderung“ als „normale Erscheinung“ in ihren Entwicklungsprozess zu integrieren. Dass davon so wenig bekannt ist, liegt an Prozessen der Exklusion, die Behinderte ganz massiv treffen und aus spezifischen Gründen undurchsichtig bleiben. Sie sollen im Fortgang der Arbeit immer mehr offensichtlich werden.

Denn Grundlage humaner Gestaltung von Gesellschaft ist, dass sich die Menschen von der Vormacht der Ökonomie, ihrer Unterwerfung unter spezifische Produktionsverhältnisse befreien können. Ein Bestandteil sind die Tätigkeitsverhältnisse, denen die einzelnen Individuen unterworfen sind.

Erwerbsarbeit

Die Sicherung der Existenz, die Selbsterhaltung der einzelnen Individuen geschieht hauptsächlich über die Möglichkeit der Erwerbsarbeit innerhalb einer Wirtschaftsordnung, die der humanen Vergesellschaftung oftmals entgegensteht. Die Mitglieder der Gesellschaft gehen wechselseitige Tausch-Verhältnisse ein, die sie jedoch nicht frei wählen und die sie wegen der Spaltung der Gesellschaft nur unzureichend verändern können. Die Tätigkeiten der Menschen werden als (Lohn-)Arbeit zu einem abstrakten Mechanismus (einer Ware), wandeln sich zu einem konkreten Allgemeinen. „Konkret allgemein ist Arbeit, weil sie auf

dem Arbeitsmarkt als eine konkrete Ware auftritt, die zur allgemeinen Ware geworden ist: das ist die ‚Ware Arbeitskraft’. Diese ist aber zugleich, vom ‚Verwertungsprozess’ her gesehen, so abstrakt geworden, dass sie ohne Einschränkung, sowohl sachlich als auch personell, jederzeit ersetzt werden kann“ (Heinrich 2001, S.108). Arbeit selbst ist ein Verhältnisbegriff, einmal gegenüber der äußeren zu bearbeitenden Natur und zum anderen gegenüber der inneren Natur der Individuen in der Gestaltung des Arbeitsprozesses. In der bürgerlich-industriellen kapitalistischen Marktwirtschaft lässt sie sich in die kleinsten Bestandteile zerlegen. Zu beachten ist dabei auch der Umschlag vom Begriff der Tätigkeit18 hin zu Arbeit, der das Verhältnis in diesem Prozess deutlich werden lässt. Nach Heinrich bedeutet dies für die Arbeit, dass sich die Beherrschung der Arbeitsprozesse und mit ihr der Natur zur Unterwerfung unter den Produktionsprozess des Kapitals (Erwirtschaftung des Profits) wandelt und nicht (mehr?) den Bedürfnissen der Produzierenden folgt. Denn mit der Arbeit als Konkretem Allgemeinen - die Ware Arbeitskraft, die sich unter den Arbeitsprozess subsumieren lässt - ist der scheinbare freie Austausch tatsächlich an den Arbeitsprozess, an das Eigentum der Produktionsmittel und an die Produktionsbedingungen gebunden ( vgl.Heinrich 2001; Agnoli 1995). Arbeit, so verstanden als entfremdete19 Lohnarbeit - es wird nicht mehr für die eigene subsistente Gemeinschaft produziert, sondern für einen Markt - wandelt sich zur sozialen Herrschaft. Gorz schreibt dazu, dass produktive Tätigkeiten von ihrem Sinn, ihren Motivationen und dem Gegenstand abgeschnitten werden, um zum Mittel des Lebensunterhalts zu werden. Arbeitszeit und Lebenszeit werden voneinander getrennt, wie auch die Produkte, die Werkzeuge, die Arbeit selbst. Die Produzenten werden zu Konsumenten, konsumieren jedoch einmal mehr die Produkte, die sie hergestellt haben.

Arbeit wird somit nicht mehr als Element der sozialen Zugehörigkeit begriffen, sondern als Integration in ein funktionales System (Gorz 1994). Allgemein gesellschaftlich ist die Abstraktion von Menschen zur Arbeitskraft gleichfalls als ein solcher herrschaftlicher Mechanismus zu begreifen, denn sie werden von den Mitteln der Bedürfnisbefriedigung

18 Tätigkeit ist die Wechselbeziehung zwischen Organismus und Umwelt. „Tätigkeit ist dabei keine Eigenschaft oder Merkmal des Subjekts, sondern die Existenzweise eines Organismus als Subjekt seiner Lebensprozesse; als Subjekt ist es vermitteltes Resultat eben dieser Tätigkeit. (...) Weil die Tätigkeit von grundlegend sozialer Natur ist, kann das Bewusstsein als Produkt der Gesellschaft verstanden werden ohne milieutheoretisch auf sie reduziert zu werden“ (Fichtner 2000, S.3). Sie hat zugleich eine unverwechselbare individuelle Qualität.

19 Der Begriff der Entfremdung ist nicht ganz unproblematisch, weil er eine Nähe zu einer „ursprünglichen“ Art der Tätigkeit aufweist. Gleichzeitig ist er aber auch ein wesentlicher Inhalt der Kritik an den Produktions-bedingungen, die keinen Erkenntniswert mehr besitzen und als abstrakter Mechanismus erfahren werden. Die Produktion als Naturaneignung, die sie noch immer ist, verschwindet hinter der Zerlegung der Arbeitsschritte.

Sie wird zur Arbeitsteilung. Dies führt nach G. Anders zu einer Antiquiertheit des Menschen, die den Verblendungszusammenhang der gesellschaftlichen Einrichtung verbirgt, zur „Verrichtung von Arbeit“ wird.

„Auf die Spitze“ getrieben z.B. im Herumsitzen und Beobachten von Maschinen.

getrennt und von den Besitzern der Produktionsmittel abhängig. Letztlich sogar von den produzierten Dingen, über die sie nicht verfügen können.

Die Arbeitenden erfahren in dieser Hinsicht eine Zurichtung über diese sozialen Verhältnisse, die sich als Herrschaftsverhältnisse darstellen20, vor allem durch den Besitz von Produktionsmitteln und der zur Ware gewordenen Arbeitskraft als Zwangsverhältnis mit der sich die Arbeiter ihre Existenz sichern können. Arbeit enthält auf Grund der Arbeitsteilung keine Bildungs- und Emanzipationsmöglichkeiten mehr (Heinrich 2001, S.110). Dies betrifft auch so etwas wie Bildung, die damit ebenfalls in eine spezifische Institution verschoben wird und dort wiederum spezifischen Funktionalismen unterliegt. „Der technische Arbeitsprozess hat sich von dem entscheidenden Sektor, dem industriellen, in einer Weise, deren Vermittlungsglieder längst noch nicht von der Forschung aufgedeckt sind, über das gesamte Leben ausgedehnt. Er formt die Subjekte, die ihm dienen, und zuweilen ist man versucht zu sagen, er bringe sie geradezu hervor“ (Adorno 2003, S.450).

Die Bedingungen des Zwangs selbst, der Produktion (Produktionsverhältnisse) wie die zur Lebenserhaltung, denen sich alle unterwerfen (Arbeit als das Allgemeine) müssen, werden dabei tendenziell zum Verschwinden gebracht (Heinrich 2001, S.205) bzw. erscheinen selbst als natürlich. Der Zwang als soziale Herrschaft bringt gleichfalls eine Distanz zur Natur hervor, die in Ideologie der Beherrschbarkeit aller Natur umschlägt (vgl. auch Görg 2003, S.47; Bruch 2003, S.178). Die Beherrschung der Natur und der Warentausch als gesellschaftliches Prinzip schlagen sich zugleich bis in die intimsten Beziehungen der Menschen untereinander nieder. Niemand kann ihm entkommen, er ist etwas Allgemeines und drängt auf statische Festlegung. Jede Person muss sich „in der Eigenschaft als“ Arbeitskraft verkaufen und auf diversen Märkten und in diversen Konkurrenzen durchsetzen, muss danach das Leben, Schule als ebenfalls gesellschaftlich Allgemeines, und den Tagesablauf (private Freizeit bzw. Arbeitszeit) organisieren, beginnt schließlich selbst so über sich zu denken und überträgt diese Abstraktion der Nützlich- und Brauchbarkeit auch auf andere Bereiche (z.B.

den Freundschafts- und Heirats-„Markt“ bis in kleinste private Details). Es können die Widersprüche und Dynamiken nicht mehr erkannt werden. Dies wird durch die Kritische Theorie als eine Totalität begriffen, die den Prozess der Vergesellschaftung tendenziell bedroht. Analyse und Reflexion sind die Hilfsmittel, mit denen diese Totalität aufgebrochen

20 Dies hat mehrere Dimensionen, da es mit der Entlohnung allein nicht getan ist. Die physischen und

psychischen Belastungen spiegeln sich darin ja nicht wider, können die Existenz selbst aber in Frage stellen. Das ist mit dem Blick auf „Behinderung“ leicht erkennbar. Behinderte werden von der Sicherung des

Lebensunterhalts durch Erwerbsarbeit weitestgehend abgeschnitten. Das wäre nicht das schlimmste, wenn es

Lebensunterhalts durch Erwerbsarbeit weitestgehend abgeschnitten. Das wäre nicht das schlimmste, wenn es

Im Dokument Wachsen – wie geht das? (Seite 27-0)