• Keine Ergebnisse gefunden

ISLAMISCHEN D ISKURS

Im Dokument Kultur und soziale Praxis (Seite 50-58)

in Europa nach 1989

ISLAMISCHEN D ISKURS

Terkessidis kritisiert, dass Rassismus durch den öffentlichen Fokus auf Rechts-extremismus auf seine extreme Variante reduziert und lediglich als Handlungs-weise Einzelner konzipiert werde; die Gesellschaft als Ganze könne so »vom

Generalverdacht entlastet werden«. (Terkessidis 2004: 67 f.) Selbst wenn der Gewalttäter als gesellschaftliches Symptom betrachtet wird, werde er nicht mit einem als sozialem Phänomen verstandenen Rassismus in Verbindung gebracht, sondern, so Terkessidis, »mit falschen Erziehungsstilen […], fehlgeleiteter Männlichkeit, dem neuen Antlitz des Kapitalismus, der Verleugnung des Natio-nalen in Deutschland, der Überflutung mit Gewaltdarstellungen in den Medien oder mit sozialen Integrations-Desintegrationsdynamiken‹«. (Ebd.) Sieht man von dezidiert islamkritischen Diskursen ab, werden in Erklärungsversuchen zu diskriminierenden Praktiken in muslimischen Milieus häufig religiöse Normen und Diskurse ausgeklammert – womöglich unter den populären Prämissen, dass Religion als innerliches Phänomen kein sozialer Faktor, jedenfalls aber im Kern gut sei. Allenfalls wird zugestanden, dass derartige Praktiken über Um-wege mit Islam zu tun haben könnten, etwa als Reaktion auf ein schlechtes Image des Islams oder auf Vorbehalte in der Mehrheitsgesellschaft; also in einer

6 Auf die besondere Problematik der Fremdbezeichnung wird an späterer Stelle noch eingegangen.

ähnlichen Argumentation, in der deutscher Mehrheitsrassismus von einigen Stimmen in einem Opferdiskurs gerade mit einer »Verleugnung des Nationalen« in Deutschland in Verbindung gebracht wird, wie Terkessidis kritisiert (s. o.).

Religion geht jedoch im öffentlichen wie privaten Raum mit konkreten Macht-ansprüchen einher. Wenn Achim Bühl kritischen Stimmen vorwirft, dem Islam

»alles in die Schuhe zu schieben«, statt»soziologisch zu prüfen, inwiefern und inwieweit es sich jeweils um nationale, regionale, sozialstrukturelle, politische, bildungsspezifische, kulturelle oder religiöse Phänomene handelt« (Bühl 2010:

185), so konstruiert er Islam als etwas, das außerhalb der aufgezählten Sphären sozialer Realität existiert: Religion wird dem gesellschaftlichen Zugriff entzogen und gleichsam sakralisiert. Im Folgenden soll hingegen danach gefragt werden, inwieweit sunnitisch-islamische Diskurse dazu beitragen, rassistische Strukturen zu erzeugen und zu reproduzieren. Hierzu werden vor allem Quellen türkischer und arabischstämmiger sunnitischer Autoren herangezogen, die Verbreitung im Umfeld deutscher Moscheegemeinden finden. Sie repräsentieren somit entspre-chend den obigen Ausführungen nicht die Muslime, aber bestimmte, institutio-nalisierte religiös-islamische Diskursfelder.

In Muhammad Rassouls Abhandlung Die Brüderlichkeit im Islam (Rassoul 1979) wird ein zentrales Narrativ für das Selbstverständnis der religiösen Ge-meinschaft angeführt.7 Der zum Islam bekehrte schwarze Sklave Bilal b. Rabah wird gefoltert, damit er Allah verleugnet, bleibt aber standhaft und wird schließ-lich vom Kalifen Abu Bakr freigekauft und von den ersten Muslimen als Glau-bensbruder aufgenommen:

»Bilal ist der erste Gebetsrufer [...] des Islam. Später nimmt er das Amt eines Feldmar-schalls ein und kämpft in vielen Schlachten im Namen Allahs. [...] Hier zeigt sich, dass die Brüderlichkeit im Islam keinen Rassismus kennt, so dass ein Farbiger zum Oberbe-fehlshaber über Menschen anderer Hautfarbe werden kann.« (Rassoul 1979: 10)

Eine zweite wichtige Referenz ist die letzte Predigt Muhammads, die er auf sei-ner Wallfahrt nach Mekka gehalten haben soll. In eisei-ner Grußbotschaft zum Op-ferfest zitiert die »Muslimische Jugend Deutschlands« (MJD) vor dem Hinter-grund, dass »Geschwister« unterschiedlichster Herkunft nach Mekka anreisen, einen Teil jener Predigt, nach dem »ein Araber keinen Vorzug vor einem

7 Muhammad Rassoul war Leiter des von 1978 bis 2001 bestehenden Islamischen Zent-rums für Daދwa und Information in Köln (Spuler-Stegemann 1998: 91) und ist Autor zahlreicher deutschsprachiger Bücher zum Islam, etwa bei Islamische Bibliothek, ar-celmedia und Buchhandlung Attawhid.

araber und ein Nichtaraber keinen Vorzug vor einem Araber« habe, »noch ein Weißer besser als ein Schwarzer oder ein Schwarzer besser als ein Weißer ist, außer durch Gottesfürchtigkeit«. Diese Lehre, so heißt es weiter, ersticke » Ras-sismus in jedweder Form bereits im Keim«.8

Rassismus wird hier als Diskriminierung aufgrund von ethnischer Abstam-mung oder Hautfarbe gefasst. Während Muslime in Deutschland sich zunächst stark in ethnisch geprägten Kulturvereinen oder Moscheen organisierten, gibt es parallel dazu eine zunehmend dynamische interethnische Dimension. Im Zuge kultureller Transfers wird gerade unter jungen und gebildeten Muslimen die Universalität des Islam betont: Der »wahre Islam« sei jenseits von kulturellen Bräuchen und nationaler oder regionaler Identität zu finden und überwinde durch Herkunft gesetzte Grenzen.9Mit einer solchen religiösen Argumentation gelingt es etwa jungen Muslimen, gegen Vorbehalte der Eltern die Heirat eines Partners aus einer anderen ethnischen Gruppe durchzusetzen: Diskriminierung nach Ab-stammung widerspricht dem religiösen Konsens, sich als egalitäre und solidari-sche Gemeinschaft zu verstehen. So schreibt Rassoul:

»Das Prinzip der Gleichheit unter allen Brüdern und Schwestern im Islam erzeugt in ihren Seelen das Gefühl einer würdigen Verbundenheit und schenkt jedem Einzelnen ein gren-zenloses Vertrauen gegenüber seinen Mitmenschen, das er hoch zu schätzen weiß. Es ver-hindert Rassenhass und Diskriminierung und schafft somit eine große Völkerfamilie, die in Frieden und Gerechtigkeit leben kann.« (Rassoul 1979: 7)

Unter der Überschrift »Brüderlichkeit als Basis für die islamische Gesellschaft« heißt es weiter:

»Aus all dem Vorangegangenen ersehen wir, dass die islamische Gesellschaft Macht ge-gen den Unglauben hat. Sie ist gütig und barmherzig gege-genüber den Gläubige-gen. Jedes In-dividuum in der islamischen Gesellschaft soll Schutz erhalten für Leib und Seele. Die ganze Gemeinschaft, jung und alt, Mann und Frau, schwarz und weiß, ist eine Einheit wie ein Körper. [...] Natürlich gehören auch die Kinder zur islamischen Gemeinschaft, und sie soll Liebe und Verständnis für diese Kinder hegen; denn die Kinder von heute sind die Männer und Frauen, die Väter und Mütter der Zukunft. [...] Und wenn sie erwachsen sind,

8 http://www.muslimische-jugend.de/id-gru%C3%9Fwort-des-mjd-vorstands (Zugriff:

22.6.2011).

9 Zur Ablehnung des »kulturellen Islam« und der Bedeutung der Entterritorialisierung von Islam für den von Olivier Roy so bezeichneten »Neofundamentalismus« siehe Roy 2006: 254-272 sowie zum »renovierten Universalismus« Tiesler 2006: 105 ff.

werden sie nie vergessen, dass sie von klein auf zu dieser Gemeinschaft gehörten. Um die-se Normen zu begreifen, müsdie-sen wir verstehen, dass sie göttlichen Wert haben. Sie sind im Qur’an und in der Sunna [im Wesentlichen die Hadithe, Anm. d. Verf.] begründet.«

(Rassoul 1979: 18)

Wie die Zitate andeuten, werden Grenzen weniger auf Grundlage von Herkunft und Abstammung, durchaus aber in der Unterscheidung von Muslimen und Nichtmuslimen konstruiert. Die islamische Rechtstradition sieht für Personen je nach Gruppenzugehörigkeit unterschiedliche Behandlung und Rechte vor, wobei unter Nichtmuslimen zwischen Polytheisten und den vergleichsweise privilegier-ten Schriftbesitzern,10 also Juden und Christen, unterschieden wird. Je nach Si-tuation und Einzelfall vertreten sunnitische Gelehrte geregelte Formen der An-näherung, Distanz oder strikte Meidung. Rassoul zählt allgemeine Gebote und Verbote im Umgang muslimischer Brüder untereinander auf und nennt bei den Verboten an erster Stelle:

»Du sollst keinen, der nicht dein Bruder im Islam ist, zum Freund nehmen. Dieses Verbot ergibt sich u. a. aus Vers 28 der 3. Sura, der lautet: ›Die Gläubigen sollen die Ungläubigen [ar. al-kafirina, Anm. d. Verf.] nicht statt der Gläubigen zu Beschützern nehmen; und wer solches tut, der findet von Allah in nichts Hilfe‹.« (Rassoul 1979: 16)

Dieser Standpunkt ist im Kontext einer pluralen Gesellschaft bereits recht ext-rem. Terkessidis folgend ist jedoch vor allem die Banalität religiöser Diskrimi-nierung zu beleuchten, also ihre strukturelle und innerhalb des Systems als nor-mal empfundene Seite. Was gemäßigtere wie radikalere Standpunkte im sunni-tischen Rechtsdiskurs vereint, ist die in der Regel unhinterfragte grundsätzliche Reproduktion der Einteilung von Menschen in Muslime und Nichtmuslime. Im Handbuch Erlaubtes und Verbotenes im Islam des international einflussreichen arabischen Fernsehscheichs Yusuf al-Qaradawi herrscht eine milde Rhetorik ge-genüber Nichtmuslimen, und es wird betont, dass »der Islam den Muslimen nicht verbietet, freundlich und großzügig zu Angehörigen anderer Religionen zu sein, selbst wenn es sich um Götzendiener und Polytheisten handelt«. (Qaradawi 1989: 286) Auch wird betont, dass einem dhimmi, also einem Juden oder

10 Unter die so genannten ahl al-kitab (»Leute des Buches«) fallen die Angehörigen der-jenigen religiösen Traditionen, die laut islamischer Lehre über gewisse Anteile der

›wahren‹ Offenbarung verfügen bzw. verfügt haben. Zu historischen Hintergründen der rechtlichen Stellung von ahl al-kitab bzw. ahl adh-dhimma siehe Cohen 1994: 52-74.

ten, der unter muslimischer Dominanz lebt, Rechte zustünden, die ihm kein Muslim vorenthalten dürfe. (Ebd.: 287 f.) Die Unterscheidung religiöser Grup-pen wird somit zwar in ihren benachteiligenden Aspekten relativiert, als Be-standteil der sozialen Praxis aber diskursiv reproduziert und bestätigt. Tatsäch-lich zeigt sich bei zentralen Praktiken der Materialisierung von Gruppengrenzen große Einigkeit zwischen Hardlinern und gemäßigteren Stimmen: Nicht nur bei al-Qaradawi, sondern wohl in den allermeisten Moscheegemeinden in Deutsch-land herrscht die Rechtsmeinung vor, dass eine muslimische Frau keinen Nicht-muslim heiraten darf.11 Lediglich jüdische und christliche Frauen dürfen ›einge-heiratet werden, mit Atheisten und Polytheisten ist jedwede Eheschließung ver-boten. In einem religiösen Handbuch, das von einem früheren Vorsitzenden der staatlichen türkischen Religionsbehörde verfasst wurde und ein Standardwerk im Umfeld der DøTøB ist, heißt es:

»Ein Muslim darf eine Frau heiraten, die den Ahl al-KitƗb, den so genannten Buchreligio-nen angehört, aber nicht eine Götzendienerin. [...] Eine Muslimin darf aus religiöser Sicht nie einen Nicht-Muslim heiraten. Eine solche Heirat wird nie zugelassen. Ein solches Ver-halten widerspricht der islamischen Ehre und dem Glück bzw. dem Heil der Muslimin.«

(Bilmen o.J.: 384; Hervorh. i. Orig.)

Wenngleich häufig rationalisierende und relativierende Begründungen für diese Norm vorgetragen werden, so wird doch eine Grenze bekräftigt, die als absolut und bindend gilt.

Terkessidis betrachtet die Normalität der Trennung zwischen uns und

ihnen als konstitutiv für Rassismus und damit als das eigentlich erklärungsbe-dürftige Phänomen. (Terkessidis 2004: 84) Die Schaffung bestimmter Gruppen versteht er als Teil eines Dispositivs, also eines Macht/Wissen-Komplexes nach Foucault: Es ist nicht der Rassist, der den Minderwertigen schafft, son-dern »eine bestimmte institutionelle Praxis, die in ihrem Funktionieren das An-dere wie auch das Eigene in einem Verhältnis der Ungleichheit hervorbringt«.

(Ebd.: 96) Foucaults Ansatz betrachtet normative Wissensbestände in ihrer Kopplung an soziale Praktiken und Diskurse als gesellschaftliche Institutionen oder soziale Tatsachen. Die soziale Wirklichkeit ist vielschichtig: Was sich in

11 Vgl. Al-Qaradawi 1989: 159 f. sowie unter anderem auf der Homepage des »Zentral-rats der Muslime in Deutschland e.V.« (ZMD), wo unter der Rubrik FAQ zu der Frage

»Warum darf eine muslimische Frau keinen Nicht-Muslim heiraten?« mit der Schutz-bedürftigkeit der muslimischen Frau argumentiert wird (http://islam.de/1641. php#-juc/mischehe03.html, Zugriff: 22.6.2011).

der islamischen Diskurstradition aus religiösen Rechtswerken zitieren lässt, be-kommt zwar in bestimmten Milieus bereits per se sozial wirksames normatives Gewicht zugeschrieben, wird aber in Referenzstrukturen wie Familie, Ehre, Konformität und common sense bisweilen auch unabhängig von einer direkten religiösen Auseinandersetzung reproduziert.12

Im Zusammenhang mit Gruppenreproduktion ist nicht nur das Verhältnis zwischen Muslimen und Nichtmuslimen angesprochen, sondern auch dasjenige zwischen Wir-Gruppen-Kollektiv und Individuum sowie Genderrollen. Die Un-terscheidung von Muslimen und Nichtmuslimen schafft eine normativ besetzte Wir-Gruppen-Identität, die Gegenstand religiöser Diskurse ist. Zur idealisierten Einbindung des muslimischen Individuums ins Kollektiv schreibt Rassoul:

»Der Islam gewährt in seiner Gesetzgebung [...] drei Arten von Bindungen besonderen Schutz. Für die Familie als Kernzelle der islamischen Gesellschaft gibt es strenge Maßstä-be, um sie in der besten Form aufrechtzuerhalten. Denselben Schutz genießt die Bindung durch Heirat, weil diese zum Fundament der Familie gehört. Der Schutz der Brüderlich-keit im Islam wird noch strenger geregelt und überwacht. Für die BrüderlichBrüderlich-keit im Islam steht ein umfangreicher Katalog von Maßnahmen zur Verfügung, die die Unversehrtheit der Brüderlichkeit garantieren; und dies geschieht mit Recht, weil die Existenz der gesam-ten islamischen Nation [ar. umma] ohne diese Brüderlichkeit unvorstellbar wäre.«

(Rassoul 1979: 6)

Die Kehrseite dieser Einbindung sind Muster struktureller Gewalt, die eine vom Kollektiv unabhängige Identitätssuche behindern und sich als rassistische Identi-tätspolitik nach innen beschreiben ließen. Al-Qaradawi zitiert einen Hadith, nach dem Muhammad gesagt haben soll: »Das Blut eines Muslims zu vergießen ist nicht erlaubt, außer in drei Fällen: Leben für Leben, ein verheirateter Mensch, der zina [Unzucht; Anm. d. Verf.] begeht und jemand, der sich von seiner Reli-gion abwendet und sich von der Gemeinschaft abtrennt.« (Al-Qaradawi 1989:

276 f.) Mit diesem Urteil, das auch in Kontexten, in denen seine Umsetzung nicht zu erwarten ist, eine prinzipielle Drohung darstellt, erhält die idealisierte Gleichheit und Brüderlichkeit repressiven Charakter. Für ein Individuum, das im Sinne der Scharia als Muslim geboren wurde, ist keine Wahlfreiheit hinsichtlich der religiösen Gruppenzugehörigkeit vorgesehen: Die soziale Zuordnung ist in-nerhalb der Gruppe untrennbar an Abstammung gekoppelt.13

12 Vgl. hierzu u. a. die Milieustudie von Ahmet Toprak 2007.

13 Außerhalb der Gruppe existiert diese Kopplung aus islamischer Perspektive nicht, da eine Person unabhängig von ihrer Abstammung zum Islam konvertieren kann; dieser

Ebenfalls angeboren ist die Verpflichtung auf feste Genderrollen innerhalb eines heteronormativen binären Systems, das Männern und Frauen unterschiedli-che Rechte und Handlungsmöglichkeiten zuschreibt. In einem religiösen Hand-buch aus dem Umfeld des populären türkischen Kreationisten Adnan Oktar alias Harun Yahya wird die Rolle des Mannes als »Vorstand des Haushaltes«, » Haus-vater« und »Vertreter der Familie im öffentlichen Leben« festgesetzt. Der Mann stehe nach dem Koran »in der islamischen Familie« eine Stufe höher als die Frau und darf als Haupt der Familie von seinen Frauen Gehorsam verlangen (Okusan o.J.: 299). Aufgrund ihrer vornehmsten Aufgabe und ihrer Reize sei ferner der Ort der islamischen Frau vornehmlich das Haus. Auch bei al-Qaradawi heißt es zur Ehe:

»Wegen seiner natürlichen Fähigkeit und Verantwortung, für seine Familie zu sorgen, ist der Mann der Vorstand von Haushalt und Familie. Er hat Anspruch auf Gehorsam und Zu-sammenarbeit seitens der Frau, und sie darf sich nicht gegen seine Autorität auflehnen und derart Auseinandersetzungen verursachen. Ohne einen Kapitän würde das Schiff des Haushalts kentern und sinken.« (Al-Qaradawi 1989: 175)

Diese Regeln werden im Diskurs häufig mithilfe stereotypisierter Merkmale von Männern und Frauen plausibilisiert, doch betont Terkessidis, dass klassische Ste-reotypen, also das Wissen um zuvor produzierte Gruppen, erst als sekundäre Folge einer institutionellen Praxis – in diesem Fall religiös legitimierter Famili-enstrukturen – entstehen. Die Stereotypen betreffen Frauen wie Männer: Letzte-ren wird zugeschrieben, per gottgegebenem Geschlecht zu einer Gruppe zu ge-hören, die über besonderen Weitblick, Vernunft, Verantwortungsfähigkeit usw.

verfügt.14

Geschlechtliche und andere Formen von Ungleichheit sind nicht nur struktu-rell verwandt, sondern oft auch empirisch miteinander verwoben. (Kerner 2009:

36) Rassismen wie Sexismen konstruieren kategoriale Unterschiede zwischen

Gruppen, die mit einer »Naturalisierung und damit Fixierung ihrer

vermeintli-Schritt gilt dann jedoch als irreversibel und determiniert außerdem die Zugehörigkeit der Nachkommen. Da die Kategorie ›Muslim‹ nicht nur individuellen Bekenntnischa-rakter als Selbstbezeichnung hat, sondern auch eine Kategorie der sozialen und religi-onsrechtlichen Zuordnung ist, reproduziert ihre Verwendung also unter Umständen systeminterne Zwänge.

14 Vgl. hierzu auch Breuer 2008: 26-31.

chen Charakteristika« einhergehen. (Ebd.: 39 f.)15 Diese Differenzzuschreibun-gen werden verwendet, »um Formen der Stratifikation und der Segregation zu legitimieren«, so Kerner: »Der jeweils angemessene Ort einer Person innerhalb – oder auch außerhalb – einer Gesellschaft wird abgeleitet aus ihrer Gruppenzuge-hörigkeit und den spezifischen Charakteristika, die den unterschiedlichen Grup-pen zugeschrieben werden.« (Ebd.: 40)16 Besonders zu berücksichtigen sind Ver-schränkungen von Zuschreibungen, wozu Kerner bemerkt: »Die sexistische Sor-ge um Reproduktion und die rassistische SorSor-ge um HomoSor-genität sowie die Ver-hinderung von Vermischungen sind kompatibel – und können sich zu einem be-völkerungspolitischen oder, um ein anderes Vokabular zu verwenden: bio-politischen Komplex verknüpfen.« (Ebd.: 42) Der Begriff Intersektionen steht dabei als »Chiffre für alle möglichen Weisen des machtdurchwirkten Zusam-menspiels unterschiedlicher Differenz- bzw. Diversitätskategorien«. (Ebd.: 45)17 Ein Beispiel hierfür ist der Komplex islamischer Familien-, Ehe- und Heiratsdis-kurse. Im bereits zitierten Handbuch der türkischen Religionsbehörde wird zu-nächst die Geschwisterlichkeit unter den Muslimen betont, und es ist von der starken gegenseitigen Bindung aller Muslime ungeachtet der Nationalität zuei-nander die Rede. Sodann heißt es: »Die Vermehrung und Stärkung der Muslime, der Schutz ihrer Heimat und Existenz hängen vom Familienleben ab. In diesem Sinne sind Gründung und Fortsetzung einer Familie eine wichtige islamische Verpflichtung.« (Bilmen o.J.: 382) Heteronormativität und die Bestimmung zur Reproduktion der muslimischen Gemeinschaft betreffen beide Geschlechter; die Lebensform der Ehe zwischen Mann und Frau als Norm wird moralisch mit dem

15 Wie im klassischen Rassismus dient beim Sexismus nicht soziale Gruppenzugehörig-keit oder Herkunft, sondern physische Distinktion als Grundlage für Zuschreibungen:

»[I]m Falle von rassistischen und sexistischen Zuschreibungen dominiert die Vorstel-lung, sie gründeten in der menschlichen Natur; weshalb rassistische und sexistische Differenzzuschreibungen eben meist naturalisierte Differenzzuschreibungen sind, die überzeitliche oder wenigstens langfristige Gültigkeit beanspruchen.« (Kerner 2009:

37)

16 Neben diesen Strukturanalogien zwischen Rassismen und Sexismen gibt es natürlich auch Unterschiede. So weist Kerner darauf hin, dass die Muster von Inklusion und Exklusion jeweils auf ganz unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind. (Kerner 2009:

41 f.)

17 Vgl. auch Winker/Degele, die »Intersektionalität« als »kontextspezifische, gegen-standsbezogene und an sozialen Praxen ansetzende Wechselwirkungen ungleichheits-generierender sozialer Strukturen (d. h. von Herrschaftsverhältnissen), symbolischer Repräsentationen und Identitätskonstruktionen« fassen. (Winker/Degele 2009: 15)

Pflichtgedanken untermauert. Kerner spricht hinsichtlich des Überschneidens von Rassismus und Sexismus von einem »komplexen Ineinandergreifen unter-schiedlicher Institutionengefüge« (Kerner 2009: 48) und plädiert für eine mul-tidimensionale Konzeptionalisierung des Verhältnisses zwischen Rassismen und Sexismen: So ist die islamische Reglementierung von Mischehen nicht auf eine rassistische Identitätspolitik nach außen zu reduzieren, sondern basiert auch auf repressiven Strukturen nach innen.

Im Dokument Kultur und soziale Praxis (Seite 50-58)