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Intradisziplinäre Diakonietagung im DWI

Im Dokument Arbeit am Institut (Seite 66-75)

Ein Bericht

Die Westfälische Konferenz theologischer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Dia-konie wählte für ihre diesjährige Arbeitsta-gung das Thema "Diakonie auf dem Weg ins Jahr 2000. Fragen der Herkunft, gegenwärti-gen Gestalt und Zukunft der Diakonie". Unter der Leitung des Geschäftsführers des west-fälischen Diakonischen Werkes, Pastor Horst Fülling, besuchte in den Tagen vom 17. bis 19. Juni 1992 eine Gruppe von etwa 30 Theologinnen und Theologen Heidelberg und Speyer zu einer intensiven Arbeitsta-gung. Fragen gegenwärtiger Gestaltung und zukünftiger Orientierung des diakonischen Auftrages der Kirche sollten einmal im intra-disziplinären Gespräch - d.h. im Austausch zwischen verschiedenen Forschungsgebie-ten innerhalb der Theologie - angegangen werden. Die Diakoniewissenschaft im enge-ren Sinne sollte sich aussetzen den Beiträgen aus der biblischen Theologie und der kirchengeschichtlichen Forschung - ein methodischer Ansatz, der sich im Studien-alltag am DWI immer wieder verwirklicht und der dieses Mal auch im Rahmen einer Ta-gung fruchtbar gemacht werden sollte.

Prof. Strohm übernahm die diakoniewissen-schaftliche Einführung unter der Fragestel-lung: "Dimensionen diakonisch-sozialer Arbeit der Kirche auf dem Weg zum Jahr 2000 -interne und externe Herausforderungen an die Diakonie in der Zukunft". Im folgenden seien die Gliederungsthesen dieses Vertra-ges genannt:

1. Es ist Aufgabe der Theologie, mit der christlichen Gemeinde, mit allen Mitarbeitern in der Arbeit der Diakonie gemeinsam die Botschaft von der Versöhnung Gottes mit der Welt zu durchdenken. Was bedeutet es, ein bezogen zu sein in Gottes universalen Dienst an der Welt? Welche neue Sicht auf unsere Lebenswirklichkeit, welche Beurteilungskrite rien, welche Handlungskonsequenzen erge ben sich aus der "Botschaft der Diakonie der Versöhnung"?

2. Wir sind am Ende des 20. Jahrhunderts Zeugen einer revolutionären Veränderung der Wirklichkeit in der eigenen Region, im eu ropäischen Kontinent, in globalen Dimensio nen. Dies fordert trotz ihrer Ambivalenz und Undurchschaubarkeit unser Urteil heraus, sie drängt uns zur Stellungnahme und nötigt un ser Handeln zur Gestaltung der Wirklichkeit.

Zu widerstehen ist der doppelten Versu-chung, daß sich Christen und Gemeinden zu-rückziehen auf die Innerlichkeit des privaten Christenlebens oder sich an die vorherr-schenden Tendenzen der Gesellschaft an-passen und verlieren. Vielmehr stehen sie vor der positiven Aufgabe, an der Bereitstellung, Sicherung und dynamischen Entwicklung von Lebensmöglichkeiten mitzuwirken im ei-genen Gemeinwesen bzw. im Kontext einer virtuell zur Einheit zusammenwachsenden Menschheit.

3. Die Diakonie der Versöhnung begründet ein neues Nächstenverhältnis unter den

Menschen und ein grundlegend neues Ver-antwortungsverhältnis gegenüber der Schöpfung. Christlicher Glaube nötigt dazu, das Nächstenverhältnis (wie auch das Schöpfungsverhältnis) aus dem "Reservat des Sozial-Caritativen" herauszulösen und als Grund und Mittel des Rechts zu behaup-ten. Damit wird die Menschenwürde zum zentralen Ansatzpunkt christlicher Mitwirkung an den sozialen Aufgaben des Gemeinwe-sens. Zwei Kategorien dienen zur Verdeut-lichung: "Personalität" und "Solidarität".

Personalität bezieht sich auf das von Gott Angerufensein, auf die Verantwortlichkeit vor Gott, das Angenommensein jedes Menschen vor allen gesellschaftlichen und persönlichen Konstellationen. Solidarität konstituiert als Konsequenz von Personalität ein neues Verhältnis der Mitmenschlichkeit: "Aus dem Menschen werden Nächste". Indem der Mensch seiner Bestimmung durch Gott entsprechend seinen Nächsten annimmt, vermag er "Interessengruppen in verantwort-liche Gesellschaft" umzuwandeln.

4. Auf der Tagesordnung der Diakonie stehen externe Herausforderungen, für die wir verantwortliche Lösungen noch erar-beiten müssen. Drei exemplarische Heraus-forderungen seien hervorgehoben:

- Die innerkontinentalen und die interkonti nentalen Wanderungsbewegungen sind in vollem Gang. Was die westlichen KSZE- Staaten immer als Beweis der Menschen würde gefordert haben: die Öffnung der Grenzen, dies erfolgt gegenwärtig oder steht im Blick auf die östlichen Nach barstaaten unmittelbar bevor. Über die unmittelbare Hilfe von Fall zu Fall hinaus können die Kirchen nicht umhin, Lösungs strategien zu erarbeiten, die tragfähig sind und dem Auftrag einer Diakonie der Ver söhnung gerecht werden.

- Die demographischen und soziographi- schen Entwicklungen fordern immer deutli cher zu grundsätzlich neuen Handlungs modellen der intergenerativen Solidarität heraus, in denen ein Alter (und übrigens auch eine Kindheit) in W ürde ermöglicht wird. Eine Vielzahl von Ansätzen werden erprobt oder diskutiert. Dies gilt es zu prüfen und das Beste zu verwirklichen.

- Im Zuge der dritten industriellen Revolution ergeben sich neue Konstellationen sozialer Depravierung und Armut, denen mit ange messenen, nicht zuletzt präventiven Ar-

beitsformen begegnet werden muß. Auf dem Gebiet der Bekämpfung der Arbeits-losigkeit/Langzeitarbeitslosigkeit hat die evangelische Kirche Erfahrungen gesam-melt und wichtige Impulse für neue Formen der Arbeitspolitik gegeben.

5. Parallel dazu zeigen sich Entwicklungs trends, die innere Veränderungen, Einstel- lungs- und Verhaltenswandlungen betreffen.

Zwei exemplarische Trends seien hervorge hoben:

- Seit langem wird die Tendenz zur Indivi dualisierung, Singularisierung und Segre- gation der Lebensstile beobachtet. Was bedeutet dies für das Selbstverständnis und Sicherheitsverlangen der Menschen?

Welche Perspektive entwickelt die kirch liche Arbeit?

- Seit langem bahnt sich ein neues Ver ständnis des Hilfeverhaltens und der Vor stellung von independent living an. Welche Traditionen bestimmen das Hilfehandeln in der Diakonie? Brauchen wir neue Modelle des Hilfehandelns und ein geläutertes Selbstverständnis?

6. Drei Optionen im zukünftigen Verhältnis von Diakonie und sozialstaatlicher Entwick lung werden gegenwärtig explizit oder im plizit vertreten:

- Rückzug aus der Breitenarbeit der Diako nie auf allen Feldern des Sozialwesens. Be schränkung auf wenige sporadisch-spon tane Modelle.

- Fortschreibung der Arbeit in allen Berei chen mit dem Ziel, die eigenen Kosten zu minimieren und die finanziellen Verpflich tungen des Staates, der Kommunen und der Versicherungsträger kostendeckend einzufordern.

- Eigenständige, konstitutive Beiträge durch 1. personale Hilfe und Partnerschaft durch gemeindenahe Diakonie und neue Formen kooperativen und ökumenischen Hilfehan delns; 2. Entwicklung und Evaluierung kontinuierlicher und tragfähiger - und zugleich vorbildlicher - Modelle diakonisch- sozialen Handelns; 3. Abbau von Berüh rungsängsten gegenüber freigemeinnützi gen, kommunalen und staatlichen Partnern durch aktive Mitwirkung bei der langfristi gen Sozialgestaltung im eigenen Land und in Europa (bzw. in interkontinentalen Be ziehungen).

7. In drei Bereichen steht Diakonie gegen wärtig in besonderer Weise in der Bewäh rung:

- Erwartet wird ein Entwicklungssprung im Horizont der ambulanten Dienste und beim weiteren Ausbau der Diakonie-/Sozial- stationen. Es geht um die Neuorganisation der sozialen Infrastruktur der sozialen Dienste und die Frage nach der Trag fähigkeit der "Sozialgemeinde".

- Die Anstaltsdiakonie ist starken Anfechtun gen, gelegentlich auch Anfeindungen ausgesetzt. Sie bedarf einer neuen tragfä higen Perspektive jenseits von Fortschrei bung des Bestehenden und von fragwürdi gen Utopien.

- Der gesamte Pflegebereich bedarf einer grundsätzlichen und langfristigen Neuge staltung. Patentrezepte verbrauchen sich rasch am Ausmaß und am Tiefgang der ge genwärtigen Krise.

8. Die Diakoniewissenschaft kann dazu bei tragen, in exemplarischen Bereichen Grund fragen christlicher Diakonie zu durchdenken, geschichtliche Erfahrungen aufzuarbeiten und Hoffnungs- und Handlungsperspektiven aufzuzeigen. Die Erfahrungen mit Studie renden berechtigen zu der Annahme, daß heute genügend Bereitschaft zu Engagement und auch zu persönlichen Opfern besteht.

9. Diakonie und Diakoniewissenschaft be dürfen ständig der aktiven und gestalteri schen Wahrnehmung des Sozialstaates in seinen Krisen und seinen Zukunftsperspekti ven:

- Die Krise des Sozialstaates wurde in den achtziger Jahren vorwiegend unter dem Kostengesichtspunkt diskutiert. Von 1960 - 1990 hat sich der Sozialhaushalt verzehn facht, das BSP nur versiebenfacht. Die Sozialleistungsquote stieg von 23% auf 31,5%; die Gesamtabgabenbelastung stieg in den vergangenen 20 Jahren von 36 % auf 42 %. Insbesondere im Gesund heitswesen stiegen die Ausgaben stark überproportional: In der GKV von 9 Mrd.

DM 1960 auf 134 Mrd. 1988, der Beitrags satz im Durchschnitt von 8,4% auf 12,9 %.

Kostendämpfungsgesetze - zuletzt 1989 - brachten nur vorübergehende Entlastung.

Der Anstieg der Zahl alter und hochbetag ter Personen läßt starke Anstiege der Ge- sundheits- und Pflegekosten erwarten.

Ähnliche Entwicklungen zeigen auch die Sozialhilfekosten, wobei hier wie dort die stationäre Versorgung die höchsten Zu-wachsraten aufweist. Die Ausdehnung des gesamten Sozialrechts auf die neuen Bun-desländer wird bis zum Jahre 2000 einen Ausnahmezustand durch stark überhöhte Ausgleichszahlungen zur Folge haben.

Einigkeit besteht, daß Einsparungen nicht einseitig zu Lasten der Versicherten und der Schwächeren gehen dürfen. Der Sozi-alstaat bedarf regelmäßiger Struktur-reformen, um zu sozial- und wirtschaftlich verträglichen Lösungen zu gelangen. Ge-fragt wird z.B. nach einer Reform des

"Leistungserbringungssystems" im Ge-sundheitswesen. Gefordert wird die gesetzliche Absicherung des Pflegerisikos.

Entscheidend für die Zukunft des Sozial-staates ist jedoch die Lösung der Beschäf-tigungskrise. Beschäftigung ist der Haupt-mechanismus der Sozialpolitik, sie fördert die eigenbestimmte soziale Daseinsvor-sorge und entlastet die Sozialbudgets.

Ohne eine integrale Arbeitspolitik und Ar-beitsförderung bleibt deshalb die Zukunft des Sozialstaates ungesichert.

- Zur Überwindung der inneren Strukturkrise des Sozialstaates kommt es darauf an,

"daß die Solidarität, die der Sozialstaat ver-wirklichen soll, umgedacht wird von einem Reparaturbegriff für die sozial schädlichen Folgen des Individualismus zum Ausgangs-punkt und Strukturprinzip des Zusammen-wirkens und Miteinanders der Menschen"

(E.A. Böckenförde). In diesem Zu-sammenhang wäre in Zukunft der Trend zur Vollprofessionalisierung und fachlichen Differenzierung der sozialen Dienste zu-gunsten eines ausgewogenen Zusammen-wirkens von Selbsthilfepotentialen, mit Kompetenz ausgestatteten Ehrenamtlichen und professionellen Helfern umzusteuern.

Ebenso muß die strukturelle Unterlegenheit der pflegenden Dienste gegenüber den etablierten Führungsberufen (Ärzten, Psychologen, Theologen, Betriebswirten) aufgehoben werden. Die nach wie vor vorhandene Helfermotivation bedarf der Ausprägung auf ganzheitliche und ortsnahe Hilfskonzepte (z.B. Normalisie-rungskonzept, sozialökologische Kon-zepte, Lifemodell) und sozialer Ho-norierung. Schließlich bedarf die im Subsidiaritätsprinzip verankerte Mitwirkung der Träger freier Wohlfahrtspflege der stän-digen Überprüfung im Blick auf die ge-

stellten Aufgaben. Es gilt zu prüfen, "wer jeweils der berufene Träger sozialer oder caritativer Werke oder Maßnahmen ist".

"Jede Art von Hilfe ist in umso höherem Grade wirklich hilfreich, als sie den Hilfsbe-dürftigen so wenig wie möglich als hilfloses Objekt behandelt, vielmehr ihn so viel wie möglich zur Selbsthilfe instand setzt und ihm Gelegenheit gibt, als aktives Subjekt selbst bei der Befreiung aus seiner Not mitzuwirken, sich aktiv daran zu beteiligen.

Unter dieser Rücksicht: auszumachen, wer jeweils berufener Helfer ist. Dies und nichts anderes ist das viel berufene Subsidiari-tätsprinzip" (O. v.Nell-Breuning). Die freie Wohlfahrtspflege hat die doppelte Aufgabe:

innovativer und kooperativer Leistungsträger sowie Förderer der Selbsthilfe zu sein. Sie muß sich von der Gefahr der Büro-kratisierung und Vertrustung ebenso hüten wie die öffentlichen Leistungsträger.

- Die Bildung eines europäischen Binnen-marktes 1993, die eingeleitete politische Union und die bis 1999 vereinbarte Wäh-rungsunion werfen ein grelles Licht auf das Fehlen einer europäischen Sozialunion.

Der Druck verstärkt sich: "Ein europäischer Wohlfahrtsstaat mit eigenständigem Gewicht liegt in Reichweite der europäischen Gemeinschaft zur Jahrtausendwende"

(S. Leibfried). Harmonisierungstendenzen zeichnen sich gegenwärtig nur im "frei-zügigkeitsspezifischen" Gemeinschaftsso-zialrecht ab. Im übrigen ist von Ko-ordination - nicht von Harmonisierung - der höchst unterschiedlichen Sozialleistungs-systeme die Rede. Koordination bezieht sich auf die Ziele, den Mitteleinsatz sowie die Effizienz und Kontrolle. Schritte zu einem Sozialstaat Europa bilden die 1957 in den Röm. Verträgen vorgesehenen europ.

Sozialfonds und die 1989 verabschiedete

"Gemeinschaftscharta sozialer Grundrechte der Arbeitnehmer". Die Konstitutionalisierung sozialer Rechte auf nationaler wie auf EG-Ebene würde die Wirksamkeit des EuGH vergrößern. Auf der Tagesordnung steht die Forderung nach "Gewährleistung eines annehmbaren Mindestlebensstandards" für alle EG-Bürger. Erhebliche Lastenausgleichszahlungen von Nord nach Süd sind unausweichlich. Langfristig ist ein gesamteuropäischer Sozialraum, der Osteuropa einschließt, anzustreben. Ein

"Weltsozialstaat" ist heute noch Utopie.

Unausweichlich aber ist eine Weltsozialpolitik, in der schrittweise der er-

reichte Stand institutioneller Regelungen (z.B. Alterssicherung, Sozialhilfe etc.) in die entwicklungspolitischen Strategien implan-tiert wird.

"Gottesliebe und Nächstenliebe" war im wei-teren Tagungsverlauf das Stichwort, unter dem der Neutestamentler an der Heidelber-ger Fakultät, Prof. Hartwig Thyen, die bibli-schen Begründungszusammenhänge der Diakonie betrachtete. Die Liebe, in der Bibel zweifellos das Fundament für alles, was wir Diakonie nennen können, offenbart sich nach Thyens Ausführungen im "Loslassen-Können des Selbst um des Anderen willen", ist also nicht befehlbare und einklagbare Norm, son-dern "souveräne Daseinshaltung". Sie ist die selbstbewußte Lebensäußerung von Men-schen, die ihren Grund nicht in sich selbst, sondern ihrerseits wiederum in der Liebe ha-ben.

An drei Textzusammenhängen - für die Bibel beider Testamente gleichermaßen relevant -ging Prof. Thyen ins Detail: Erstens die For-mulierung des Doppelgebotes der Gottes-und Nächstenliebe in Mk 12,28-43; zweitens das Gebot der Feindesliebe in Mt 5,43-48 und drittens das Wort vom neuen Gebot in Joh 13,34f. Das doppelte Gebot der Liebe zu Gott und zum Nächsten fungiert in der Ver-sion bei Lukas als Einleitung der Erzählung vom barmherzigen Samariter; das bedeutet, so Prof. Thyens Hinweis, daß die Samariter-geschichte als Beispiel beider gelesen wer-den will, der Nächsten- und der Gottesliebe.

Gleichwohl könne nicht davon die Rede sein, daß die Liebe zu Gott in der Liebe zum Nächsten einfach aufgehe, vielmehr sei die alte christologische Formel des "unvermischt und ungetrennt" auch für das doppelte Lie-besgebot in Geltung. Die Tradition der Fein-desliebe, die gemeinhin als neutestamentli-che Neuerung betrachtet wird, interpretierte Prof. Thyen als Implikation bereits des alten Gebotes aus 3. Mose 19,18 "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst". Nicht nur wird der "Nächste" auch schon in 3. Mose 19,34 (!) mit dem "Fremden" identifiziert, der durchaus als feindlich erfahren werden kann;

überdies bekräftigte Prof. Thyen ausdrücklich die von dem Heidelberger Alttestamentler Hans-Peter Mathys vorgetragene These, daß das neutestamentliche Liebesgebot an allen Stellen seinen Ursprung in 3. Mose 19,18 hat.

Demzufolge ist weder bei Matthäus eigentlich von "Antithesen" zu sprechen, noch ist das

"neue" Gebot bei Johannes das schlechthin neue, sondern das neu zur Geltung ge-brachte alte Gebot (1. Joh 2,7-11). Letztlich ist die geschwisterliche Liebe gerade im Johannesbrief keine Liebe allein zu den Schwestern und Brüdern im Glauben, sondern eine Liebe, die auch einen Kain (1.

Joh 3,11 ff) als Bruder wahrnehmen und lieben kann.

Einen weiteren Schritt im Diskurs unternahm der Heidelberger Kirchengeschichtler Prof.

Adolf Martin Ritter unter der Fragestellung:

"Diakonie in der Alten Kirche - Modell für kirchliche Diakonie heute?" Prof. Ritter be-leuchtete zunächst eine Reihe von Rahmen-bedingungen des antiken römischen Sy-stems und damit eben auch der frühen Chri-stenheit. Das römische Reich sei ganz gewiß keine Gesinnungsdiktatur oder ein Polizei-staat gewesen, sondern habe eine Vielfalt der Anschauungen und Bewegungen - und damit auch das kirchliche und kirchlich-soziale Le-ben - durchaus toleriert. Ab der Mitte des 3.

Jahrhunderts konstatierte Prof. Ritter die ent-scheidende tiefe Krise des römischen Rei-ches in allen Lebensbereichen. Auch für die sozialen Belange hatte der Staat kaum mehr länger die Kraft - langsam wurde das Feld bereitet für ein Eintreten des Christentums in eine politisch und eben auch gesellschaft-lich-sozial relevante Position. Die antike Welt beschrieb Prof. Ritter keineswegs als eine

"Welt ohne Liebe", wie sie Uhlhorn apostrophiert hatte. Vielmehr war es eine Welt, in der die Devise galt "Gutes tun und laut davon reden!" Und ein anderes ist für die Beurteilung der Antike wichtig: Ihr dient die Religion gerade nicht als Begründung für soziales Engagement.

Prof. Ritter untersuchte im folgenden die in-teressante Frage: Wie hat die römische Um-welt die Christen gesehen, was fiel an ihnen auf? Bekannt geworden ist die Feststellung, die Tertullian überliefert: "Seht, wie sie einan-der lieben!" Ein weiteres Zeugnis über die Lebensführung der Christen würdigte insbe-sondere ihre Menschenfreundlichkeit gegen-über Fremden, ihre Sorgsamkeit bei der Be-stattung der Toten und ihren sittlichen Ernst.

Gerade der Bezug auf die Außenseiter und gerade nicht nur auf die Mitglieder der eige-nen Gemeinschaft stellte eieige-nen cha-rakteristischen Zug der Liebestätigkeit in der alten Kirche dar - eine Fortführung, so Prof.

Ritter, der Praxis des Christos Diakonos. Als

entscheidenden Hintergrund für die Ausbil-dung der frühkirchlichen Lebensformen wies Prof. Ritter auf das zeitgenössische Juden-tum hin. Juden und Christen waren sich in der Grundlegung des Liebeshandelns auf weiten Strecken einig und bildeten auch -gegenüber einer Familienzentriertheit der römischen Umwelt - Formen struktureller Wohltätigkeit heraus. Über allem stand -auch dies in charakteristischem Unterschied zur römischen Welt - das Bekenntnis zu Gott als dem Anwalt der Armen und Schwachen.

Die Alte Kirche bereits ist die Zeit der Institu-tionalisierung der kirchlichen Diakonie. Sie ist auch die Zeit, in der sich das Amt des Dia-kons neben Bischof und Presbyter entwik-kelte und sich das Amt der Witwe ausbildete, das dem Diakonissenamt sehr nahe kam. Bis auf die Zeit Konstantins im 4. Jahrhundert zu-rück reichen die Anfänge jener spezifischen Beziehung zwischen Staat und Kirche, bei der wichtige soziale Aufgabenbereiche vom Staat auf die Kirche übergingen, einschließ-lich der erfordereinschließ-lichen Finanzmittel. Frucht der Alten Kirche ist nicht zuletzt auch das Mönchtum, das bis heute einer der bedeu-tendsten Träger der Diakonie geblieben ist.

Seine Antwort auf die Frage nach dem Mo-dellhaften der frühen Kirche für heutige Dia-konie faßte Prof. Ritter abschließend in vier Punkte: Erstens hat sich die Diakonie der Alten Kirche evidenter Not angenommen.

Zweitens machte die frühe Christenheit in der Orientierung am Judentum die Ganzheit der Gemeinde als diakonisch-ethisches Subjekt geltend. Drittens hielt das Mönchtum als we-sentlicher Träger der Diakonie den Gedan-ken wach, daß sozial verwaltetes Eigentum die christlich eher zu favorisierende Lösung sei, und viertens begegnen bereits im Sozial-erbrecht der Alten Kirche strukturelle Ansätze einer vorbildlichen Wohlfahrtspflege.

Im weiteren Verlauf des Seminars führte Dr.

Gerhard Schäfer in die Diskussion um die diakonisch-soziale Bedeutung der Gemeinde um die Jahrhundertwende ein. Seine histori-schen und theologihistori-schen Erwägungen aus diakoniewissenschaftlicher Perspektive lie-ßen vier der damals profiliertesten Ansätze für das Verständnis diakonischer Gemeinde geradezu als Grundmuster und Paradigmen auch der heutigen Diskussion lebendig wer-den. Geschichtliche Linien - die sich

seits in je spezifische Weise auch mit der bi-blischen Tradition verknüpfen - sollten gera-dezu als heuristischer Rahmen für das Ver-ständnis des aktuellen Gespräches um

"Gemeinde und Diakonie" fruchtbar gemacht werden.

Der erste Entwurf verbindet sich mit dem Namen Emil Sülze und versteht die Liebestä-tigkeit als Funktion der Seelsorge im Hori-zont der Ortsgemeinde. Sulzes Programm zielt auf die Seelsorgegemeinde, die als lebendige Gemeinde Träger auch der Diako-nie wird. Im Dienste seines Gemeinde-prinzips entwickelte Sülze geradezu ein kybernetisches System der Aufteilung in kleine und kleinste Seelsorgebezirke - im Zuge der Seelsorge aller an allen werde sich auch das diakonische Tun realisieren.

Gegen Sulzes Organisation des Gemeinde-prinzips richtete Paul Grünberg seinen An-griff: Die Forderung, alle Liebestätigkeit in die Gemeinde zu integrieren, sei nicht zu recht-fertigen - empirisch nicht und theologisch nicht. Grünberg trat ein für das Zusammen-wirken auch mit freien, ungebundenen Kräf-ten. Für ihn deckte sich die Mannigfaltigkeit des sozialen, geistigen und geistlichen Le-bens nicht mit den Grenzen der Kirchenge-meinden.

In radikaler Unterschiedenheit von Sülze und auch von Grünberg rekurrierte Bernhard

In radikaler Unterschiedenheit von Sülze und auch von Grünberg rekurrierte Bernhard

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