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Die inhaltliche Fragestellung

Im Dokument »Lobe den Herrn, meine Seele!« (Seite 25-30)

In zahlreichen Gesprächen mit Studierenden, gerade mit Studienanfängern, aber auch in der Begegnung mit Mitgliedern von Kirchengemeinden hat sich, meiner Erfahrung nach, herausgestellt, dass das Alte Testament immer noch von vie-len Menschen mit einem gewalttätigen und strafenden Gottesbild verbunden ist, während das Neue Testament als Evangelium der heilvollen Zuwendung Gottes zu den Menschen angesehen wird. Diese stereotype Sicht verbindet sich oft mit einer Abwertung des Alten Testamentes und findet sich bei Weitem nicht nur in Diskursen, die von Laien geführt werden.87 Wie lässt sich auf diese hartnäckigen Klischees antworten und was ist ihnen entgegenzusetzen?

Es wäre zu einfach und der vielschichtigen Theologie von Psalm 103 unan-gemessen, ihn durch die Betonung der Barmherzigkeit als ein schlichtes Gegen-bild anzuführen und mit ihm darauf zu verweisen, dass es auch ‚solche‘ Texte im Alten Testament gibt, so wie es auch Texte im Neuen Testament gibt, zu denen nur schwer Zugänge gefunden werden können. Schon ein Verständnis der sog.

Gnadenformel an sich, welche die theologische Mitte von Ps 103 darstellt, lässt sich nicht über eine schlichte Entgegensetzung erlangen. Die Formel wird durch eine Relation konstituiert, indem Gnade und Zorn in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden, welches ein Übergewicht der Gnade und eine Begrenzung des Zorns beschreibt. Das Thema, das die vorliegende Exegese begleitet, besteht eher in der Frage, in welche Kontexte die Rede von der Gnade und der Barmherzigkeit

87 Ich verweise hier auf die jüngste Kanon-Debatte, die von Notger Slenczka und seinen Thesen zur Fraglichkeit des Alten Testamentes als Bestandteil des christlichen Kanons angestoßen worden ist. Das Alte Testament mit einem bestimmten Gottesbild zu verbinden, ist nur ein Aspekt die-ser sehr umfassenden Debatte, scheint aber immer dann eine Rolle zu spielen, wenn es um das sog. „Fremdeln“ geht, das Slenczka hinsichtlich der alttestamentlichen Texte wahrnimmt. Das Argument des „Fremdelns“ aufgrund der Abwehr eines im Alten Testament beschriebenen par-tikularen Heilswillens Gottes, das den Zorn Gottes über seine Feinde einschließt, findet sich in:

Slenczka, Notger, Was soll die These: ‚Das AT hat in der Kirche keine kanonische Geltung mehr‘?

S. 12, https://www.theologie.hu-berlin.de/de/st/was-soll-die-these.pdf [letzter Zugriff: 20.07.2018];

außerdem in: Ders., „Die Kirche und das Alte Testament“, MJTH 24, Leipzig 2013, 83–119; 119.

Gegendarstellungen in Auseinandersetzung mit den Thesen Slenczkas finden sich in: GEP (Hg.), Neue Texte aus der Debatte über die Thesen von Professor Slenczka zum Alten Testament, Band 2, epd-Dokumentation 8, Frankfurt a. M. 2016; Hartenstein, Friedhelm, Zur Bedeutung des Alten Testamentes für die evangelische Kirche. Eine Auseinandersetzung mit den Thesen von Notger Slenczka, ThLZ 140, 2015, 738–751; Janowski, Bernd, Ein Gott, der straft und tötet? Zwölf Fragen zum Gottesbild des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2013, 3–30.

Was bedeutet Gnade? Die inhaltliche Fragestellung 25 JHWHs eingebunden ist und mit welchen Motiven sie verknüpft wird. Damit ver-binden sich zwei weitere Impulse, denen nachgegangen wird: Der erste besteht in der Beobachtung, dass es gerade die Rede von der Gnade JHWHs ist, die in den jungen, nachexilischen Texten des Alten Testamentes eine bedeutsame Denkfi-gur in Verknüpfung mit verschiedenen Traditionen wird. Der zweite liegt in der Feststellung, dass Gnade nicht gleich Gnade ist. Damit soll gesagt werden, dass vermutlich in den wenigsten Fällen klar ist, worüber wir genau reden, wenn wir über Gnade reden. Aufgrund der Polysemie dieses Begriffes, die auch dem heb-räischen Wort דסח, das hier mit Gnade übersetzt wird, zugrunde liegt,88 muss dieser für jeden Kontext neu definiert werden. Was דסח bedeuten kann, möchte ich anhand von Psalm 103 und seiner Kontexte so klar wie möglich auslegen.

Eine Besonderheit besteht dabei in der Hinzunahme von ausgewählten Schriften aus Qumran, wie z. B. den Sabbatopferliedern. Sie entspringen mit ihrer Angelo-logie der Vorstellungswelt einer frühen jüdischen Mystik, in der auch Psalm 103 beheimatet ist. Diese Arbeit soll dazu beitragen, den zusätzlichen Kontext aufzu-zeigen, den die Qumranschriften eröffnen und in dem die Theologie eines jungen alttestamentlichen Psalms Konturen gewinnt. Es ist also weniger „die Zusammen-stellung der schönen Sequenzen“, die mich in der Exegese leitet, als vielmehr ihr theologischer Zusammenhang.

88 Vgl. zum Facettenreichtum des Begriffes דסח Doob Sakenfeld, Katharine, The Meaning of Hesed in the Hebrew Bible: A New Inquiry, Harvard Semitic Monographs 17, Montana 1978.

3. Methodische Überlegungen

Um den oben beschriebenen Leitgedanken zu verfolgen, hat sich vor allem ein motivgeschichtlicher Ansatz bewährt. In Psalm 103 entstehen Motive, wie z. B. das der Vergänglichkeit oder das der Krönung mit Gnade und Barmherzigkeit, durch

„prägnante Einzelworte und Wortensembles“.89 Die verwendeten Begriffe verwei-sen wiederum auf unterschiedliche Traditionen, die in alle Kanonteile zurück-verfolgt werden können. Einerseits geschieht das natürlich über Stichwortver-bindungen, da Motive sich aus einem bestimmten Vokabular zusammensetzen.

Andererseits aber auch über ähnliche Terminologien, Konnotationen, theologi-sche Argumentationen. Diese Arbeit sieht sich daher keinem Ansatz verpflichtet, der mit dem Stichwort der „Intertextualität“ und der Einordnung von intertextu-ellen Bezügen verbunden ist.90 Die Begründung gegen diesen Ansatz liegt in der Eigenart des Psalms, kaum direkte Text-Text-Beziehungen zu verwenden, sondern Verknüpfungen im Vokabular zu schaffen, die eine große Deutungsoffenheit und Multiperspektivität nach sich ziehen. Dies liegt wohl in der „umfangreichen Lek-türe“ (Duhm s. o.) begründet, die im Hintergrund des Psalms steht. Hilfreicher als eine strenge Kategorisierung und damit einhergehende Bestimmung von Wer-tigkeiten der Bezüge ist m. E. für eine Auslegung von Psalm 103 das Denken in

„Vorstellungszusammenhängen“.91 Dieser von Odil Hannes Steck geprägte Begriff umfasst sowohl die synchronen Zusammenhänge, wie die sprachliche und inhalt-liche Ausprägung einer Vorstellung im Text, als auch die diachrone Fragestellung nach der Herkunft einer Vorstellung und ihrer Entwicklung oder Veränderung.

Auf der Darstellung von Vorstellungswelten und der Klärung ihrer Bedeutung für die Theologie des Psalms liegt der Schwerpunkt dieser Arbeit.

89 Steck, Odil Hannes, Exegese des Alten Testamentes. Leitfaden der Methodik, Neukirchen-Vluyn 141999, 143 f.

90 Unter dem Stichwort der „Intertextualität“ wird in der alttestamentlichen Forschungsliteratur ein weites Spektrum an unterschiedlichen methodischen Zugängen und Arbeitsweisen verhan-delt. Ursprünglich bezieht sich der Begriff auf die Arbeiten des russischen Literaturwissenschaft-lers Michail Bachtin und der bulgarischen Semiologin Julia Kristeva, deren Theorien vor allem in Frankreich und in Deutschland auf verschiedene Arten angewandt und weiterentwickelt wor-den sind und schließlich auch für die Exegese von biblischen Texten herangezogen wurwor-den. Ein Überblick zu den Ursprüngen und Entwicklungen des Begriffes der Intertextualität findet sich bei Seiler, Stefan, Text-Beziehungen. Zur intertextuellen Interpretation alttestamentlicher Texte am Beispiel ausgewählter Psalmen, BWANT 202, Stuttgart 2013, 17–24.

91 Steck, Exegese, 143.

Methodische Überlegungen 27 Zum Verhältnis der Texte, die miteinander in Beziehung gesetzt werden, ist noch eine hermeneutische Voraussetzung zu nennen. Das Verhältnis der Texte zueinander wird nicht nur in ihrer Zuordnung als Spender- und Empfängertext gesehen, was eine gewisse Einseitigkeit in die Auslegung mit sich brächte. Es wird mehr im Sinne eines „Diskurses“ begriffen, der an sich eine Mehrdimensionalität von Bedeutung beschreibt. Ricoeurs einfachste Definition des Diskurses lautet:

„Jemand sagt jemandem etwas über etwas, nach – phonetischen, lexikalischen, syntaktischen, stilistischen – Regeln.“92 Alle Texte, so Ricoeur, sind demnach als Diskurse zu verstehen, da der Satz ihre Grundeinheit darstellt.93 Weiterhin wei-sen Texte einen individuellen Werkcharakter unbeschadet ihrer Genre-Zugehö-rigkeit auf:

Ein Text ist […] ein Werk, das heißt, ein einzigartiges Ganzes. Als Ganzes erschöpft sich das literarische Werk nicht in einer Folge von Sätzen, die alle für sich selbst verständlich wären, es ist ein Gefüge von Themen und Äußerungen […]. Darüber hinaus ist […] ein Text eine Art Individuum wie ein Lebewesen oder ein Kunstwerk. Man kann also seine Einzigartigkeit nur erfassen, indem man schrittweise allgemeine Begriffe berichtigt, die auf die Textsorte, die literarische Gattung, die unterschiedlichen Strukturen abzielen, die sich in diesem singulären Text überkreuzen.94

Die exegetische Auslegung von Texten kann daher in ihrem Zusammenspiel der methodischen Analysen bezogen auf den Text als Individuum und als Ausprä-gung einer Gattung als ein Akt der Diskursivität verstanden werden. Diese Vor-aussetzung zieht zum einen den Gedanken nach sich, dass aus dem Verhältnis der verglichenen Texte eine Bedeutung entsteht, die auf die Deutung aller Ver-gleichstexte bezogen werden kann. Deshalb ist es unter Umständen hilfreich, die Interpretationsrichtung ausgehend von jüngeren Texten auf ältere zu lenken, um den Bedeutungsgehalt zu erkennen, den die jüngeren Texte in den älteren gese-hen haben. Darin besteht auch der Grund, die Qumrantexte nicht nur als Wir-kungsgeschichte zu begreifen, sondern als Element der Auslegung. Diese Mög-lichkeit findet ihre Begründung in der doppelten Gestalt der Texte, mit Ricoeur gesprochen, als Individuum und als Teil „eines Ganzen“.95 Das Ganze beschreibt im übertragenen Sinne die gemeinsame Vorstellungswelt, zu der die Texte zuge-hörig sind und in der ein gemeinsamer Gehalt an Deutung in individueller Aus-prägung angenommen werden kann.

92 Ricoeur, Paul, Eine intellektuelle Autobiographie, in: Welsen, P. (Hg.), Vom Text zur Person. Her-meneutische Aufsätze (1970–1999), Philosophische Bibliothek 570, Hamburg 2005, 3–78; 32.

93 Die Übertragung des Diskurs-Begriffes geschieht in dem Aufsatz: Die Metapher und das Haupt-problem der Hermeneutik, aaO., 109–134; 110 f.

94 AaO., 124.

95 „Das Verhältnis zwischen Teil und Ganzem ist sogar ein unausweichlich zirkuläres Verhältnis. Die Voraussetzung eines gewissen Ganzen geht der Wahrnehmung einer bestimmten Anordnung der Teile voran, und indem man die Details errichtet, baut man das Ganze auf.“ Ebd.

Einleitung

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Zum anderen setzt ein Diskurs immer eine Multiperspektivität von Deutung frei, da er sich in einer dreifachen Referenz vollzieht: die außersprachliche Wirk-lichkeit, die Wirklichkeit des Textes/Sprechers und die Wirklichkeit desjenigen, an den der Diskurs gerichtet ist.96 Gerade die Methode der Motivgeschichte, die sich auf Vorstellungswelten (der Plural ist aussagekräftig) bezieht, begibt sich in das Geschehen dieser dreifachen Referenzialität. Das bedeutet, dass ein Vorstel-lungszusammenhang nur schwer erschöpfend dargestellt werden kann und dass es Grenzen in der gesicherten Bestimmung von Abhängigkeiten usw. gibt. Dies gilt gerade für den Umgang mit jungen Texten, die mannigfaltige ältere Texte und Vorstellungen aufnehmen, verknüpfen und dadurch neue Bedeutungen schaffen.97 Diese Einsicht in die Begrenzung bedeutet allerdings nicht, dass der Sinngehalt von Texten und ihren Interpretationen beliebig wäre. Durch eine reflektierte Metho-dik ist es sehr wohl möglich und notwendig, Gewichtungen und Wertungen vor-zunehmen, um verantwortbare und den antiken Diskursen angemessene Ergeb-nisse zu erzielen.

96 Vgl. dazu aaO., 113 f.

97 Diese Beobachtung spielt vor allem in der Auslegung der Bundeskonzeption (Ps 103,17 f) eine wichtige Rolle und findet dort ihre exegetische Umsetzung.

4. Einordnung der Arbeit in die neuere Psalmenforschung

Der oben beschriebene Zusammenhang von individuellem Einzeltext und seiner Zugehörigkeit zu einem größeren literarischen Kontext ist in den letzten Jahren in der Psalmenforschung immer bedeutsamer geworden, so dass sich die Psalmen-exegese vermehrt auch zur PsalterPsalmen-exegese entwickelt hat.98

Jeder Psalm ist ein in sich abgeschlossener Text mit individuellem Profil und zugleich ist er offen für den Textzusammenhang, in dem er im Psalmbuch steht und der ihm eine zusätz-liche Bedeutungsdimension gibt.99

Psalterexegese bedeutet, dass das Profil der unterschiedlichen zusammenhängen-den Einheiten, die im Psalter vorfindlich sind, mit in die Interpretation einbezogen wird. Als Einheiten sind z. B. die einzelnen Bücher des Psalters zu nennen, aber auch Psalmengruppen und Teilsammlungen, die oft durch gemeinsame Über-schriften kompositionell strukturiert worden sind (z. B. Davidspsalmen, Asaf-psalmen usw.).100

Ps 103 lässt sich dadurch in verschiedene Kontexte einordnen: in das vierte Psalmenbuch, in die Gruppe der Davidpsalmen, in die Psalmgruppe Ps 102–106 (107)101 und in eine Gruppe von späten Psalmen, die alle die Handlungsoptionen der Gnade und Barmherzigkeit JHWHs in hermeneutisch relevanter Funktion verwenden.102

98 Ein Überblick über diese Bewegung, die Psalmen- und Psalterexegese verbindet, wobei die Psalte-rexegese als Ergänzung und nicht als Ersatz gedacht ist, ist dargestellt worden von Zenger, Erich, Psalmenexegese und Psalterexegese. Eine Forschungsskizze, in: Ders. (Hg.), The Composition of the Book of Psalms, BEThL CCXXXVIII, Leuven 2010, 17–65.

99 Hossfeld/Zenger, Psalmen, 35.

100 Vgl. zu den Überschriften als Kompositionsmerkmale Zenger, Psalterexegese, 52–57. Als weitere Kompositionsmarker können auch stilistische, terminologische oder thematische Bezüge gelten.

AaO., 31.

101 Zwischen den Psalmen 106 und 107 verläuft die Buchgrenze vom vierten zum fünften Psalmbuch.

Trotzdem gibt es Bezüge zwischen Ps 103 sowie der gesamten Psalmgruppe 102–106 zu Ps 107.

Die Buchgrenze beschreibt an dieser Stelle keine Grenze innerhalb der kompositionellen Zusam-menhänge. Vgl. dazu Gärtner, Judith, Die Geschichtspsalmen, FAT 84, Tübingen 2012, 284–290.

Vgl. zur Thematik der Buchgrenze, die keine wirkliche Grenze darstellt, auch Ballhorn, Telos, 146.

102 Mit der letzten Gruppe sind die Geschichtspsalmen 78; 105; 106; 136 gemeint, welche Gnade und Barmherzigkeit als „gemeinsamen geschichtshermeneutischen Interpretationsrahmen“ verwen-den; Gärtner, Geschichtspsalmen, 375.

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