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Ingrid von Barth: Una bambina nella seconda guerra mondiale

Ein kleines Mädchen im Zweiten Weltkrieg

Ricordi dal 1937 al 1947, Firenze L’Autore Libri Firenze (2011) (Die Übersetzung besorgte Cornelia Konrad, Schaan, Liechtenstein.) Fraxern

Ingrid Barth hatte zusammen mit Mutter und Schwester Zuflucht in Fraxern gefunden und berichtet in ihrem Buch über diese Zeit in Fraxern.

„Papa musste nach Italien abreisen und wir zogen nach Vorarlberg, nach Fraxern.

Mein Onkel Wendel4, der Mann von Tante Trude, eine von Papas Schwestern (er hatte drei Schwestern) war zu der Zeit ein ziemlich großes Tier5: er war Präfekt6 der Stadt Feldkirch, Vorarlbergs Hauptstadt7. Er hat uns in einem schönen, vom Land neu erbauten, noch nie bewohnten Haus untergebracht.8

Es war in einem kleinen Dorf, eben Fraxern, gelegen auf einem Hügel auf 600 Metern9, das Dorf der Kirschen und der roten Dächer. Rote Dächer, alle neu, da ein Feuer ein paar Jahre vorher fast das ganze Dorf zerstört hat-te. Die Karte, die ich immer noch habe, zeigt ein Dorf mit wenigen Einwohnern und mitten drin die Kirche mit dem spitzen Turm, charakteristisch für dieses Dorf. Rundherum grüne Wiesen voll von blühenden Kirschbäu-men, ein weißes Meer. Wunderschön: in der Schule habe ich diese Bäume voll von weißen Blüten oft gemalt.

Die Wohnung war geräumig, Küche, Schlafzimmer und große Abstellkammer. Zu jener Zeit schienen mir diese wenigen Räume riesig. Es gab auch einen Gemüsegarten, den meine Mama mit Sorgfalt bestellte. Die Unter-kunft war bereits möbliert mit Möbeln, die von da und dort kamen und wir füllten sie mit unseren wenigen Sachen, die wir aus Deutschland mitgebracht hatten.

Mama hatte mich für die dritte Klasse Volkschule eingeschrieben; ich hatte einen Lehrer, den ich liebte, auch wenn er sehr streng war und mit ‚Tatzen’ (Stockschlägen) bestrafte. Die Buben bestrafte er mit einer dünnen Rute auf den Rücken, wo es mehr weh tat, uns Mädchen, dank seinem freundlichen Zugeständnis, auf die Handinnenflächen. Ich erinnere mich nicht, viele Stockschläge erhalten zu haben, da ich ein sehr vernünftiges, ruhiges und fleißiges Mädchen war.

Das, was ich in diesen beiden Jahren bis zum Ende der vierten Volksschulklasse, von 1945 – 1947, gelernt habe, ist mir noch sehr gut in Erinnerung und bildet sozusagen die Basis meiner heutigen Deutschkenntnisse. Wie-viel man doch während der ersten Schuljahre lernt! Es wird alles aufgenommen, was uns gesagt wird und unser Geist ist bereit, alles aufzunehmen, was wir an Wissen bekommen können. Ich denke, dass die ersten Schuljahre wesentlich sind für die weitere Bildung und Ausbildung der Kinder.

Ich habe gelernt, die Umrisse der Schweizer Berge, die wir gegenüber sahen, zu zeichnen und auch die Namen aller Bergspitzen gelernt. Leider habe ich sie vergessen, nur ein Name ist mir geblieben: der Hohe Kasten, der Grande Cubo, dessen Gipfel wie ein Quadrat aussieht. Ich träumte. Ich stellte mir das Leben jenseits dieser Berg-spitzen vor, in einem Land, das ich nie besucht hatte, der Schweiz. Man sagte, dass sie dort alles hätten, sogar Weißbrot, während wir in Österreich nur Schwarzbrot hatten.

Ich war sehr gut in Mathematik, aber mir gefiel auch Geschichte und Geografie. Wir hatten keine österreichi-schen Bücher, aber zwei Bücher, die vom schweizeriösterreichi-schen Roten Kreuz kamen. So lernte ich die Geschichte und Geografie der Schweiz. Es waren zwei sehr schöne Bücher, sogar illustriert. Bis heute bewahre ich diese beiden Bücher der Volksschule auf.

4Dr. Wendelin Pflauder, Der Landrat des Kreises Feldkirch

5„Zum Deutschen Berater für die Provinz Bozen wurde der Landrat des Kreises Feldkirch, SS-Sturmbannführer Wendelin Pflauder ... bestellt.“ (Michael Wedekind, Nationalsozialistische Besatzungs- und Annexionspolitik in Norditalien 1943 -1945, Die Operationszonen, Oldenbourg Verlag, München 200, S 124)

6Pflauder sei „ein besonders fanatischer Nationalsozialist“ gewesen, der in seinem Heimatkreis „noch gegen Kriegsende 15jährige Kinder als Flakhelfer in den Krieg hetzte“.

(Horst Schreiber, Die Machtübernahme, Die Nationalsozialisten in Tirol 1938/39, Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte, Band 10, Haymon Verlag, Innsbruck 1993, S. 187.

7In Feldkirch war das Landratsamt des Kreises Feldkirch, das Bundesland Vorarlberg gab es damals nicht, deshalb auch keine Landeshauptstadt.

8Dieses Haus – es handelt sich um jenes Wohnhaus, welches die Familie Otto Summer später käuflich erwarb – wurde, ebenso wie zwei der anderen drei „neuen Häuser“ in weiterer Folge unter dem Titel „Bundeshäuser“ durch die Republik Österreich vermietet.

9Ca. 820 m ü M.

Bereits damals gefiel es mir zu organisieren. Immer war ich es, die Spiele, Vorführungen und Spaziergänge in der Umgebung mit meinen Schulkameraden ausdachte. Ich hatte auch eine Herzensfreundin, Herta, die Tochter der Adele Bischof und dann auch Waltraud, ein Mädchen, geflohen wie ich. Die Mutter von Herta betrieb den einzi-gen Gasthof im Dorf.10 Mutti traf sich oft mit Adele, auch um über ihr Schicksal als ‚Alleinstehende’ zu sprechen:

unser Papa in Italien und Adeles Mann im Krieg verschollen.

Im April 1945 kamen die Alliierten nach Österreich. Der Krieg war zu Ende. Vorarlberg wurde von den Franzo-sen besetzt.

Es war ein sonniger Tag, als ein großer Jeep mit einem sehr jungen Offizier ankam, um das Dorf zu ‚besetzen’.

Alles erfolgte in einer freudigen Art: Die Bevölkerung versammelte sich auf dem einzigen Platz, brachte als Ge-schenk verschiedene Lebensmittel, Eier, Butter und einige Würste mit, alles Produkte des eigenen Bodens. Innert Kürze war der Jeep bis zum Rande voll mit all den Gaben Gottes. Der Offizier ordnete an, dass alle Radiogeräte und Plattenspieler beschlagnahmt seien und ihm übergeben werden müssten. Aber nicht alle übergaben sie ihm;

tatsächlich verschwanden die Radios für einige Zeit aus den Wohnzimmern und Küchen und wurden anderswo versteckt, um ein paar Monate später, als sich kein Franzose mehr im Dorf zeigte, wieder aufzutauchen.

Einige Wochen vor Ende des Krieges und vor Beginn der Besetzung durch die Franzosen hörte man kleine, schnelle Flugzeuge kommen, die sehr tief flogen und auf Sicht schossen. Uns Kinder war es verboten hinaus zu gehen, da man erzählte, dass ein Bauer, der auf der Straße lief, von Maschinengewehren getroffen und schwer verletzt worden war.

Das Leben im Dorf wechselte mit den Jahreszeiten. Eine Nachkriegszeit mit wenigen Lebensmitteln, aber ich musste nie Hunger leiden. Ich hatte Träume und Wünsche, wenn auch nicht mehr so viele. Wir waren zufrieden.

Wenn wir in die Stadt hinunter mussten, nach Feldkirch oder nach Dornbirn zum Zahnarzt, mussten wir unge-fähr eine Stunde gehen, um dann den Zug zu nehmen. Müde auf dem Rückweg sangen Mutti und ich immer ein Lied: „Ah, wenn ein Auto käme und uns mitnähme!“

Einige Male konnten wir eine Art ‚Karre’ nehmen, welche die Bauern dazu benutzten, ihre Waren wie Saatgut, Früchte oder anderes vom Tal ins Dorf zu bringen. Die Karre, primitiv und sehr gefährlich, war absolut verbo-ten, aber manchmal gelang es Mutti, den Angestellten zu überreden, uns bis ganz hinauf mitzunehmen.

Ich hatte sehr schlechte Zähne, die behandelt werden mussten. Der Zahnarzt, wie ich ihn heute sehe, war ein Metzger. Er hatte einen Bohrer, den er mit dem Fuß bediente, und er hat mir einige Zähne abgetötet, die mir heute sicherlich erhalten geblieben wären. Er behandelte mich drei, vier Mal, bis der Zahn ‚tot’ war. Was habe ich gelitten!

Nicht alles war ein Honigschlecken. Schließlich war ich immer eine ‚Ausländerin’ in der Gruppe der Kinder im Dorf. Es gab einen Buben, unausstehlich, Sohn des Sakristan, der mir ‚Hitlerschwein’ nachschrie. Ich habe nicht verstanden warum und er wahrscheinlich auch nicht. Meine Mutter ging zu seinem Vater, um zu protestieren und mit ihm zu sprechen, und der Junge hat es nicht mehr gemacht. Natürlich keinerlei Erklärung seitens Mutti.

Heute kann ich mir nur vorstellen, dass die Erwachsenen des Dorfes über die Tatsache, dass wir Flüchtlinge und Verwandte des Ex-Landrates von Feldkirch waren, klatschten.

Nach der Besetzung wurde mein Onkel Wendel gefangen genommen, wie fast alle Leiter einer nazistischen Verwaltung. Er verbrachte viele Jahre in einem Straflager. Meine Tante musste ihr schönes Haus verlassen; sie flüchtete zu Verwandten und musste erkennen, dass viele Freunde von früher nicht mehr ihre Freunde waren. So ist die Welt!

Ich nahm selbstverständlich an allen Festen im Dorf teil: Fasnat, Fronleichnams-Prozession, Osterfest. Wir waren protestantisch und das Dorf katholisch mit einer großen Kirche und einem alten Pfarrer.

Mutti ließ mich gewähren. Nach alldem war es besser, sich zu integrieren und daher ging ich auch sehr oft zur Messe. Ich hielt jedoch nicht lange durch, da mir regelmäßig schlecht wurde vom Geruch des Weihrauchs. Aber die Fronleichnams-Prozession war das Schönste! Als erstes gingen alle Ranunkeln11 sammeln; Kilo um Kilo wurde auf den Wiesen gesammelt, um diese dann auf den Boden zu streuen, wenn die Marienstatue vorbeigetragen wurde. Wir Kinder waren festlich gekleidet und die Mädchen hatten Blumenkränze im Haar. Mama machte wunderschöne Kränze auch für die anderen Kinder des Dorfes.

Die Wiesen im Frühjahr und Sommer waren voll von wunderschönen Blumen, und ich fing an, diese zu sam-meln, zwischen Buchseiten zu trocknen und zu pressen. Ich machte ein kleines Kräuterbuch. Und weil Mama nur deren Alltagsnamen kannte, ging ich zum alten Pfarrer, der einzig gebildeten Person, abgesehen vom Lehrer natürlich, und davon abgesehen, der einzige, der Latein konnte. Und so brachte er mir viele lateinische Namen meiner gesammelten Blumen bei.

Der Pfarrer freute sich immer, mich zu sehen und auch darüber, dass ein Mädchen meines Alters sich für sol-che Sasol-chen interessierte. Er ssol-chenkte mir bei Gelegenheit einige Heiligenbildsol-chen. Es waren kleine Karten mit Engelsfiguren, der Mutter Gottes oder Jesus mit entsprechenden Sätzen, auf dass ein Mädchen gut und brav sein möge und natürlich immer bete. Er konnte sehr freundlich und höflich sein, aber ich hatte immer Angst vor sei-nen unerwarteten Wutausbrüchen, wenn er von der Kanzel predigte. Zu dieser Zeit waren die Messen sehr lange, auch länger als eine Stunde, und nur der erste Gottesdienst nach der Fastenzeit war ganz kurz, da der Pfarrer es immer eilig hatte, gleich danach ins Pfarrhaus zu eilen, um sich endlich an den Tisch zu setzen.

Mutti, auch wenn sie die österreichische Staatbürgerschaft besaß, war ursprünglich Engländerin. Der ‚fliegende’

Großvater war Engländer. Daher meldete sich Mama, nachdem die Alliierten einmarschiert waren, beim Engli-schen Kommando, um Nahrungsmittelhilfen zu erhalten.

Nach einigen Wochen kam mit der Post ein großes Paket, voll mit sagenhaften Sachen. Es war ein Lebensmittel-paket des Militärs, Corned Beef, Schokolade, Bonbons, getrocknete Früchte. Zum ersten Mal in meinem Leben aß ich getrocknete Bananen, sie waren herrlich, süß und weich. Ich suche sie noch heute, aber ich habe nie mehr so gute gefunden wie damals.

Ich fing an, Briefmarken zu sammeln. Mutti schenkte mir zu jedem Fest, Ostern oder Weihnachten, eine Brief-markenserie.

Ich hatte ein kleines Album und eine Pinzette, um die Briefmarken aufzunehmen. Während des Krieges sam-melte ich die ganze Serie mit dem Bildnis von Hitler wie auch die Briemarken, die von der Front kamen. Nach dem Krieg sammelte ich die neuen mit dem ersten österreichischen Präsidenten, Karl Renner. Auch sammelte ich einige ausländische Marken, die mich von fernen Ländern träumen ließen: von Italien auf den Umschlägen, die Papa schickte, von Deutschland auf den Umschlägen von Onkeln, von Kanada von Tante Melitta und von Santo Domingo vom Großvater Alexander.

Ich hatte auch Briefverkehr mit einem deutschen Jungen in Rumänien angefangen. Es waren deutsche Auswan-derer in Rumänien. Wir schrieben uns einmal im Monat und erzählten uns von unseren täglichen Abenteuern.

An Weihnachten waren wir alleine: meine Schwester, meine Mama und ich; Papa konnte nicht aus Italien ausrei-sen. Mama bereitete Weihnachten vor mit dem, was wir hatten und natürlich mit Hemd, Rock und - Unterho-sen.

Die Dekoration bestand aus farbigem Karton, Äpfeln und selbstgebackenen Keksen. Das Mehl war dunkel und anstelle von Nüssen und Haselnüssen verwendete man Haferflocken. Eier gab es meist nur in Pulverform, wenn uns nicht eine Bäuerin mit gutem Herz hin und wieder ein ‚richtiges’ Ei schenkte. Der Baum, eine Tanne, war echt. Es gab sie in den Wäldern und man konnte sie persönlich fällen. Ich erinnere mich, dass auf dem Baum Kerzen waren; diese gab es noch im Tante-Emma-Laden im Dorf.

Für mich war Weihnachten immer ein großes Fest. Zuerst, im Dezember, die Wartezeit, die Suche nach ver-steckten Geschenken, das Finden einiger Engelshaare. Ja, von klein auf fand ich vor Weihnachten immer wieder silberne Haare von Engeln, die sie nachts verloren hatten, wenn sie kamen, um zu schauen, ob wir Kinder auch mehr oder weniger brav waren. Das hat uns Mama seinerzeit erzählt, und ich glaubte lange daran. Auch heute noch, mit 70 Jahren, wenn ich Silberfäden auf dem Boden sehe, träume ich, es seien nicht nur Silberfäden, son-dern echte Engelshaare.

Die Tage vor Weihnachten waren immer etwas geheimnisvoll. Und dann ... immer irgendwie eine Enttäuschung.

Der Abend verging im Flug, die Geschenke waren selten das, was man erwartete. Etwas Enttäuschung nach all den Erwartungen, gab es immer. Und Weihnachten ohne Papa war traurig. Vielleicht nicht unbedingt für uns Kinder, aber für Mama, die jedoch immer versuchte, uns Kinder das nicht merken zu lassen. Papa konnte uns aus Italien noch das eine oder andere Paket schicken, aber wenig Spielzeug, es gab auch in Italien nicht viel.

Zu jener Zeit, das heißt vor allem gleich nach dem Kriegsende, zogen Mama und Großmutter Mary durch die Dörfer, um zu hamstern. Man ging zu den Bauern, um was auch immer gegen Lebensmittel einzutauschen.

Mama und Großmutter brachten einige Wertgegenstände, Haushaltsartikel, Stoffe oder andere Sachen, während uns die Bauern von ihren Produkten gaben wie Butter, Eier, Hühner, Schweinefleisch oder anderes.

Ich erinnere mich, dass wir eines Tages mit unserer Großmutter den Zug nahmen, um zu einem Bauern zu fahren, den sie sehr gut kannte. Wir wurden auch zum Mittagessen eingeladen, was ein ganz spezielles Erlebnis für mich war. Um den großen Holztisch in der Küche war die ganze Familie versammelt, die Knechte, die Magd und die Kinder. In der Mitte des Tisches befanden sich zwei große Schüsseln, eine voll von duftenden Krapfen, die andere mit Apfelmus aus ziemlich sauren Äpfeln, ohne Zucker. Jeder hatte einen großen Löffel, mit dem er im Apfelmus fischte. Am Ende putzte man den eigenen Löffel mit dem Tischtuch und verstaute ihn in der Schublade.

Eines Tages schließlich schaffte es Papa bis nach Liechtenstein, nach Vaduz, nur wenige Zugstunden von der österreichischen Grenze entfernt, zu kommen, um uns zu sehen. Wir hatten nur eine Bewilligung für einen Tag.

Wir trafen uns im Gasthaus, und Papa fragte uns, was wir am liebsten möchten; ich eine Banane und meine Schwester Lisa einen roten Apfel. Die Fixation auf rote Äpfel ist ihr geblieben; sie reist auch heute noch mit min-destens einem roten Apfel.

Ein Tag genügte uns nicht, um Papa alles zu erzählen, und wir trennten uns mit einer großen Traurigkeit im Herzen.

Unterdessen ging das Leben in Fraxern normal weiter. Wir konnten den Bauern bei der Kirschenernte helfen.

Dafür bekamen wir Essen und eine große Kiste Kirschen. Mama hat schwer gearbeitet, wir Kinder etwas weni-ger; wir vergnügten uns mit Spielen und Einander-Nachrennen. Wir hatten kleine Körbchen am Gurt befestigt, die, wenn sie voll waren, in größere Körbe gekippt wurden.

Ich mochte die hellen Kirschen, die fast weißen und harten. Ich spuckte den Stein nicht aus. Ich hatte von den Kindern im Dorf gelernt: Man isst die ganze Kirsche! Und wenn ich dann auf der Toilette war, vergnügte ich mich damit, die Steine wieder zu sehen. Dass ich keine Blinddarmentzündung bekommen habe, grenzt an ein Wunder!

Das Essen bei den Bauern während der Kirschenernte war schrecklich, zumindest für meinen Geschmack: Gers-tensuppe! Während vieler Jahre konnte ich keine Gerste mehr essen.

Unter uns, im Erdgeschoss, lebte eine Familie, auch sie geflohen. Es war ein Schuhmacher mit seiner Frau und einem Sohn, etwas größer als ich. Die ganze Familie roch nach dem Kleber, mit dem Schuhe geklebt wurden.

Einige Male musste Mama in die Stadt, um Dinge zu erledigen, nach Dornbirn oder Feldkirch. Sie war den ganzen Tag weg. Meine Schwester, die zu klein war, um alleine zu Hause zu bleiben, nahm sie mit. Ich blieb zu Hause, ging zur Schule hinunter ins Dorf, ungefähr zehn Minuten zu Fuß, kam mittags zurück, öffnete eine Büchse mit amerikanischem Fleisch, machte Hausaufgaben oder ging auf die Wiesen oder in den nahen Wald zum Spielen. Hin und wieder war auch der Sohn des Schuhmachers alleine zu Hause. Da kam es vor, dass er mir nahekam und anfing, mir die Unterhosen herunterzuziehen und mich anzufassen. Nicht, dass es mir nicht gefiel, obwohl ich fühlte, dass man das nicht machen sollte, aber... Ein paar Mal blieben wir alleine, bis uns eine Bäue-rin, unsere NachbaBäue-rin, sah und es Mama erzählte.

Es gab einen riesen Krach. Der Schuhmacher teilte seinem Sohn zahlreiche Schläge aus, während meine Mama sich sehr gut verhielt, zumindest so, wie ich es sah. Ruhig rief sie mich zu sich, um mich auszufragen. Ich habe alles abgestritten, laufend und heftig, und Mama hat nichts mehr gesagt. Ich hatte die Lektion gelernt. Ich spielte nicht mehr mit dem Sohn des Schuhmachers.

Am Muttertag, dem ersten Sonntag im Mai, pflückte ich viele Blumensträuße und mit der Axt machte ich Holz-spalten, um das Feuer im Ofen anzuzünden. Mama war glücklich.

Einmal gingen wir zwei mit Mama und zwei anderen Frauen aus dem Dorf in den nahen Wald, um Tannen-zapfen zu sammeln. Wir hatten große Jutesäcke, die wir bis zum Rand füllten, bevor die Männer mit Schlitten kamen, um die Säcke wegzubringen. Während wir im Wald waren, hörten wir komische Stimmen, Männer, die marschierten und uns entgegen kamen. Die Frauen, auch Mama, waren erschrocken, sammelten ihre Sachen zusammen, und wir alle versteckten uns im Unterholz, ganz still. „Macht keinen Lärm!“, flüsterten sie uns zu. Es waren französische Truppen, Marokkaner.

Ich verstand die Angst nicht, auch deshalb, weil es sehr schöne Männer waren, farbig angezogen, mit Turban.

Heute schließlich verstehe ich. Zu dieser Zeit waren alle Frauen in Gefahr, wenn marokkanische Truppen vorbei-zogen.

An einem kalten Winterabend mit viel Schnee, es war schon fast Nacht, klopfte es an unserer Türe. Mutti hatte

zerrissene Kleider und sie hatten Hunger. Es waren zwei geflohene Häftlinge aus einem französischen

zerrissene Kleider und sie hatten Hunger. Es waren zwei geflohene Häftlinge aus einem französischen