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im sozial-politischen Diskurs der japanischen Moderne

Im Dokument Muße und Gesellschaft (Seite 188-200)

Simone Müller

1. Einleitung

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam in Japan, als Folge des neuen Erziehungs-systems und der wirtschaftlichen Situation nach dem Russisch-Japanischen Krieg (1904–1905), eine Schicht arbeitsloser Bildungsbürger auf, die nicht als ‚Arbeits-lose‘ (shitsugyōsha), sondern als ‚hohe Müßiggänger‘ (kōtō yūmin, wörtlich: sich vergnügende Menschen mit hoher Schulausbildung) bezeichnet wurden.1 Diese wurden vom Staat bald als Gefahr wahrgenommen, da dieser – vor dem Hinter-grund des Erstarkens sozialistischer und anarchistischer Bewegungen – fürch-tete, dass Missmut jene untätigen Hochschulabsolventen zu einer politischen Radikalisierung treiben könnte. Dies führte 1911 zu einem öffentlichen Dis-kurs, der unter der Bezeichnung kōtō yūmin mondai (das Problem des hohen Müßiggängers) in die Geschichte eingehen sollte. Der kōtō-yūmin-Diskurs, der symptomatisch Widersprüche des japanischen Modernisierungsprozesses zum Ausdruck bringt, erstreckte sich bis in die 1930er-Jahre. Der Begriff kōtō yūmin wird aber auch in der Gegenwart noch verwendet, um auf spezifische Probleme der japanischen Gesellschaft hinzuweisen, die insbesondere seit den 1990er-Jahren in Erscheinung traten.2 Im Sinne eines Menschen, der seine Zeit für schöngeistige Dinge statt für Arbeit einsetzen kann, wird der ‚hohe Müßig-gänger‘ zuweilen in Absetzung zur heutigen Beschleunigungsgesellschaft zum Ideal einer neuen, Zeit und persönliche Erfüllung statt Geld, Erfolg und Karriere gewichtenden Lebensweise erkoren. 3

Die hier angedeutete gegenwärtige Begriffsverwendung impliziert, dass dem Begriff sowohl eine negative als auch eine positive, ästhetisierte Konnotation eignet. Diese unterschiedliche semantische Aufladung nimmt bereits in der Edo-Zeit (1603–1868) ihren Ausgang und zeigt verschiedene Entwicklungslinien,

1 Gemäß den japanischen Gepflogenheiten wird bei japanischen Namen der Nachname vor den Vornamen gesetzt.

2 Vgl. Sakamoto Tetsushi, „Heisei no kōtō yūmin“, in: Aera 36 (6. Sept. 1999), 6–9; Takeuchi Yō, „‚Heisei no kōtō yūmin’ mondai o megutte“ (tokushū Heisei o kenshō suru: ‚jiken‘ to ‚kao‘

kara yomitoku 25 nenshi), in: Kokoro 16 (2013), 31–33.

3 Misaki Ichirō, Hosshigaranai ikikata. Kōtō yūmin no susume, Tōkyō: Kadokawa Shoten 2009.

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die den gesellschaftspolitischen und historischen Hintergrund der jeweiligen Zeit widerspiegeln. Eine diskursgeschichtliche Untersuchung des kōtō-yūmin-Begriffs verspricht deshalb interessante Aufschlüsse über die japanische Sozi-al- und Geistesgeschichte der frühen Neuzeit und der Moderne. Vor diesem Hintergrund werde ich im Rahmen der folgenden Ausführungen dem kōtō-yūmin-Diskurs nachgehen. Nach einigen, in die Vormoderne zurückreichenden begriffsgeschichtlichen Vorüberlegungen werde ich vor dem historischen und politischen Hintergrund der Meiji-Zeit (1868–1912) die Entstehung des Diskur-ses nachzeichnen und darlegen, wie sich der Topos in der Literatur der Meiji-Zeit niederschlägt. Danach werde ich illustrieren, wie der kōtō-yūmin-Diskurs in den 1920er- und 1930er-Jahren seine Fortsetzung fand. Die Ausführungen schließen mit einem kurzen Schlusswort, in welchem ein Ausblick auf den gegenwärtigen Diskurs gegeben wird.

2. Begriffsgeschichtliche Vorüberlegungen

Das japanische Wörterbuch Nihon kokugo daijiten (Großes japanisches Wörter-buch) definiert kōtō yūmin als „Menschen, die trotz hoher Ausbildung keiner Arbeit nachgehen.“4 Das Wörterbuch Nihon daijirin (Großer japanischer Wörter-wald) äußert sich etwas detaillierter. Dort verweist der Begriff, welcher der spä-ten Meiji- bis frühen Shōwa-Zeit (1925–1989) zugeordnet wird, auf „Menschen, welche säkulare Mühen verabscheuen, keiner festen Arbeit nachgehen und nach Lust und Laune leben.“5 Älteren Ursprungs ist der Begriff yūmin ohne das Präfix kōtō (hohes Niveau). Der Eintrag im Nihon kokugo daijiten lautet wie folgt:

„Menschen, die keine feste Anstellung haben und keiner Arbeit nachgehen. Fau-lenzer. Außerdem bezeichnet der Ausdruck auch Menschen, welche abseits der säkularen Welt dem Genuss des Lebens nachgehen.“6 Der Eintrag deutet an, dass es sich bei den yūmin um Personen handelt, die sich aufgrund ihres Bedürfnisses nach persönlicher Selbstentfaltung am Rande der Gesellschaft bewegen. In der Zeichenkombination yūmin gakusha (Müßiggänger-Wissenschaftler) bezeichnet er Menschen, die abseits des säkularen Lebens ‚unnützen‘ Wissenschaften nach-gehen.7

Doch wie präsentiert sich der Begriff in den Quellen selbst? Die früheste Be-griffsnennung findet sich in dem vermutlich im 2. vorchristlichen Jahrhundert entstandenen altchinesischen konfuzianischen Klassiker Liji (Buch der Riten), und zwar in Kapitel 3 „Königliche Regulationen“ (Wangzhi). Darin wird

be-4 Nihon kokugo daijiten, 13 Bde. (+ 2 Sonderbände), 2. Aufl., Bd. 5, Tōkyō: Shogakukan 2003, 402.5 Nihon daijirin, Tōkyō: Chūseidō 1988, 482.

6 Nihon kokugo daijiten, Bd. 13, 359.

7 Nihon kokugo daijiten, Bd. 13, 359.

schrieben, wie der Herrscher eine Urbarmachung und Besiedelung des Landes unternehmen soll:

In settling the people, the ground was measured for the formation of towns, and then measured again in smaller portions for the allotments of the people. When the division of the ground, the cities, and the allotments were thus fixed in adaptation to one another, so that there was no ground unoccupied, and none of the people left to wander about idle (youmin), economical arrangements were made about food; and its proper business ap-pointed for each season. Then the people had rest in their dwellings, did joyfully what they had to do, exhorted one another to labour, honoured their rulers, and loved their superiors.

This having been secured, there ensued the institution of schools.8

Yūmin (chin. youmin) verweist in dieser Textstelle auf die nicht registrierte und nicht in den Frondienst eingespannte Bevölkerung, die es durch Landerschlie-ßung sesshaft zu machen galt, um sie besteuern und für das Militär einziehen zu können. Das Ziel der Regierung war eine Gesellschaft, in der jeder seinen festen Platz einnimmt und seine Rolle als Untergebener in einer hierarchisch or-ganisierten Staatsordnung wahrnimmt. Herumstreuende ‚Müßiggänger‘ hatten in einem solchen Gefüge keinen Platz, es galt sie zu ‚sozialisieren‘. Bereits ent-stehungsgeschichtlich eignet dem Begriff also eine negative Note.

In der konfuzianischen Kompilation Dadai liji (Buch der Riten des Älteren Dai) aus der Westlichen Han-Zeit (74–49 v. Chr.) gilt der youmin als Symptom einer in Unordnung geratenen Gesellschaft. Darin wird vermerkt, dass es im Altertum keine youmin gegeben habe. Alle hätten ein zeitlich geregeltes Leben geführt und eine sichere Behausung gehabt. Dies im Gegensatz zur Gegenwart, in welcher die Gesellschaft in Verfall geraten sei, Herrscher ungerecht seien, Disharmonie und Ungleichheit herrsche, die Menschen herumvagabundierten, Arbeit verachteten und „gierig fräßen“ (tanshi).9 Im Shen jian (Weitreichende Reflexionen) schließ-lich, einer philosophischen und politischen Textsammlung aus der Östlichen Han-Zeit (25–220 n. Chr.), wird eine Gesellschaft beschrieben, in welcher der Kaiser das Land selbst bestellt, Geld nicht sinnlos ausgegeben und Macht nicht unbesonnen ausgeübt wird, und in der es auch keine youmin gibt.10

In japanischen Quellen präsentiert sich der Begriff ähnlich negativ. Auch hier dominiert die Konnotation eines für die Gesellschaft nutzlosen Menschen. Der neokonfuzianische Gelehrte Fujiwara no Seika (1561–1619) definiert in seinem Werk Daigaku yōryaku (Abriss über Das große Lernen) die yūmin als eine Art klassenlose Paria beziehungsweise Personen, die nicht den vier feudalen Ständen

8 Li Chi. Book of Rites. An Encyclopedia of Ancient Ceremonial Usages, Religious Creeds, and Social Institutions, übers. v. James Legge, hg. v. Ch’u Chai u. Winberg Chai, 2 Bde., New York:

University Books 1967, Bd. 1, 230.

9 Dadai liji, http://ctext.org/da-dai-li-ji/qian-cheng (02. 05. 2016).

10 Shen jian, http://ctext.org/shenjian/zheng-ti (02. 05. 2016).

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der Samurai, Bauern, Handwerker und Händler (shinōkōshō) zugehörig sind.11 In dem ebenfalls Fujiwara no Seika zugeschriebenen Werk Suntetsuroku (Auf-zeichnungen prägnanter Aussagen) aus dem Jahre 1606 werden die yūmin als Menschen definiert, die das Feld nicht bestellen, keiner Arbeit nachgehen und ihre Zeit bloß nutzlos mit „Fressen und Saufen verbringen“ (kuraitsuiyasu).12 Ähnlich heftig geht Kumazwa Banzan (1619–1691), ein Anhänger des neokon-fuzianischen Zweigs der Wang Yangming-Schule – eine Denkrichtung, welche die Einheit von Wissen und Handeln anstrebte –, mit den yūmin ins Gericht, wo-bei er diese nun konkret Personengruppen zuordnet. In Shūgi washo (Buch über rechtes Handeln und Harmonie, 1672), einem in Dialogform verfassten Werk, in welchem Kumazawa sein Denken darlegt, wird erläutert, bei den yūmin handle sich in erster Linie um buddhistische Mönche und Bergasketen (yamabushi).

Kumazawa macht aber auch unter den Ständen der Händler und Handwerker yūmin aus, da diese mit ihrem Handel der Welt Schaden zufügten.13 Selbst die Samurai nimmt er nicht aus. Außerdem zählt er zu den yūmin auch Beamte, die ihre Untergebenen ausbeuten und sich weder um ihren Dienst, den Staat noch die Kriegskunst kümmern und ihm zufolge deshalb zu nichts nutze sind.14 Kumazwa Banzans Ausführungen machen klar, dass er all diejenigen Personen den yūmin zuzählt, die nicht den ethischen Grundsätzen des Konfuzianismus entsprechen und sich dem Wohl des konfuzianischen Staatsgefüges gegenüber gleichgültig verhalten.

Die chinesischen und japanischen Einträge belegen somit, dass youmin res-pektive yūmin ursprünglich ein konfuzianischer Begriff ist, der einen vagabun-dierenden und zu der Gesellschaft nichts beitragenden Menschen bezeichnet, dem Schmarotzertum angekreidet wird. Dies wird deutlich anhand des sowohl in chinesischen als auch in japanischen Quellen rekurrierenden Ausdrucks des

‚gierigen Fressens‘ (ch. tanshi, jap. donshoku).

Ein radikalisiertes Verständnis des yūmin als ‚Schmarotzer‘ zeigt sich in den kritischen Schriften des Edo-zeitlichen Arztes und Schriftgelehrten Andō Shōeki (1702–1763). In seinem Werk Shizen shin’eidō (Der wahre Weg der natürlichen Lebensweise) entwickelt Shōeki eine scharfe Kritik am konfuzianisch geprägten Tokugawa-System, das er hōsei, die „Gesetzeswelt“ nennt.15 Dieser stellt er die Utopie einer vorhistorischen, archaischen Gesellschaft gegenüber, von ihm

shi-11 Zit. nach Andō Shōeki Kenkyūkai (Hg.), Andō Shōeki jiten (Andō Shōeki zenshū bekkan), Tōkyō: Nōsan Gyson Bunka Kyōkai 2006, 282.

12 Suntetsuroku, zit. nach Andō Shōeki jiten, 282.

13 Im konfuzianisch geprägten Ständesystem des frühneuzeitlichen Japan standen die Händ-ler an unterster Stelle, da diese nicht direkt in den Produktionsprozess involviert waren und mit Habgier in Verbindung gebracht wurden.

14 Shūgi washo, zit. nach Andō Shōeki jiten, 282.

15 Die Gesetzeswelt elaboriert Shōeki in seiner in Form einer Fabel verfassten Schrift Hōsei monogatari (Erzählungen über die Gesetzeswelt). Vgl. Andō Shōeki zenshū, 17. Bde, Tōkyō:

Nōsan Gyson Bunka Kyōkai 1996–2006, Bd. 6, 34–203. Für eine deutsche Übersetzung siehe

zen no yo, die „natürliche Welt“16 genannt, in welcher die Menschen Ackerbau betreibend, selbstgenügsam und in Eintracht mit der Natur lebten, und zu der es nun zurückzukehren gilt.17 Die Ursache für den Niedergang des Naturzustandes sieht Shōeki im Erscheinen von Buddha Shakyamuni und den chinesischen Heiligen, insbesondere Konfuzius. Diese hätten sich durch Wissenseifer und Ehrgeiz über die Masse gestellt und somit Hierarchien, Chaos und Unordnung geschaffen. Shōekis Kritik gilt aber auch den daoistischen Heiligen wie Laozi, Mozi und Zhuangzi, die er als müßiggängerische Schmarotzer, die nicht selbst den Acker bearbeiteten, sondern lediglich ‚gierig fräßen‘, diskreditiert.18Andō Shōekis Kosmologie steht somit in engem Bezug zu einer Herrschaftskritik, die an eine Gelehrtenkritik gebunden ist:

Schriftzeichen, Bücher und Gelehrsamkeit sind die Wurzel dafür, nichts anzubauen und gierig fressend den Weg des sich drehenden [Himmels] sowie Reiche und Länder zu stehlen. Daher sind sie zuerst abzuschaffen. Den Kerlen, die [sie betreiben], ist Land zur Bewirtschaftung zuzuteilen.19

Die Einbeziehung aller Bürger in den Arbeitsprozess ist bei Shōeki die Grund-lage für eine gerechte Gesellschaft. Müßiggänger und Schmarotzer, die sich zu Lasten der anderen bereichern, werden nicht geduldet. Dementsprechend be-zeichnet Shōeki alle Menschen, ungeachtet welchen Standes, die nicht Ackerbau betreiben und nur gierig fressen, als yūmin, und diffamiert diese als „Staatsläuse“

(kunishirami).20 Seine Attacken zielen aber, anders als die seiner Zeitgenossen, in erster Linie gegen die Machthaber, also Könige, Fürsten und die ihnen die-nenden Samurai, Burgvögte, Verwalter, Beamte und Fußsoldaten, die er alle als nutzlose yūmin bezeichnet.21 Zu den yūmin zählt er außerdem wie Kumazawa Banzan auch Bergasketen, Schrein- und Tempelpriester, alle Schriftgelehrten und Dichter, nicht unternehmerische Händler und Handwerker, Freudenmädchen, Bettler, hinin (wörtl. Nicht-Menschen)22, Tagelöhner, Bittsteller, Schauspieler

Claus Weidner, Einheit und Zweiteilung: Die sozialen Ideen des Arztes Andō Shōeki (1703–1762), München: Iudicium 1999, 147–259.

16 Andō Shōeki beschreibt sein Ideal einer natürlichen Welt insbesondere in seiner Schrift Shizen no yo no ron (Abhandlung über die natürliche Welt). Vgl. Andō Shōeki zenshū, Bd. 2, 99–105; dt. Weidner, Einheit und Zweiteilung, 135–146.

17 Den Prozess der Wiederherstellung der natürlichen Welt in der Zukunft beschreibt Andō Shōeki in seiner Schrift Shihō tōran no yo ni arinagara shizen kasshin no yo ni kanau ron (Ab-handlung darüber, wie die gegenwärtige Welt der eigennützigen Gesetze, des Raubs und der Wirren mit der Welt des natürlich lebenden Wahren in Übereinstimmung zu bringen ist). Vgl. Andō Shōeki zenshū, Bd. 1, 267–303; dt. Weidner, Einheit und Zweiteilung, 260–284.

18 Andō Shōeki zenshū, Bd. 4, 197–198; vgl. auch Tanabe Motoo, „Andō Shōeki no shakai keizai shisō“, in: Keizaishi kenkyū 29.3 (161) (März 1943), 18–41, 27.

19 Andō Shōeki zenshū, Bd. 1, 280; zit. nach Weidner, Einheit und Zweiteilung, 268.

20 Andō Shōeki jiten, 282.

21 Andō Shōeki jiten, 282.

22 Es handelt sich um die unterste Schicht im feudalen Japan, der Leute zugehören, deren Berufe aus religiöser Perspektive als unrein betrachtet wurden.

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und Teehausbesitzer.23 Sie alle führen ihm zufolge ein Schmarotzerleben. Nur die Bauern nimmt Shōeki von den Müßiggängern aus.

Shōeki wurde aufgrund seines radikalen Denkens nach seinem Tod gebrand-markt und galt lange Zeit als „vergessener Denker“ (wasurerareta shisōka).24 Erst im Jahre 1899 wurde er vom Erzieher Kanō Kōkichi (1865–1942) wiederentdeckt, der sein Denken nun als „physiokratischen Kommunismus“ (nōhon kyōsan shugi) bezeichnete25 und Shōeki zu einem Marxisten erkor.26 Insbesondere auf das von Marxisten dominierte intellektuelle Feld der Nachkriegszeit übte Shōekis Gesell-schaftsutopie eine große Faszination aus: Ideen einer egalitären, pazifistischen und kommunalen Gesellschaft mit gleichberechtigter Güterverteilung, in der das Wohl der Gemeinschaft Vorrang vor dem Wohl des Individuums hat und alle gleichwertig in den Arbeitsprozess miteinbezogen werden, entsprechen in vielen Punkten den marxistischen Gesellschaftsideen.27 Wie weiter unten auszuführen sein wird, verbindet sich Shōekis Sicht des yūmin Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem marxistischen Diskurs, in welchem die bourgeoise Intelligenz, ebenfalls unter dem Begriff yūmin, als parasitäre Müßiggänger kritisiert wurde.

Der yūmin findet auch Niederschlag in der Edo-zeitlichen Literatur, wo sich schon früh ein Gegendiskurs gegen die konfuzianische Auffassung des yūmin anbahnt. Im 17. Jahrhundert entstand als Begleiterscheinung einer aufstreben-den Händlerklasse in aufstreben-den Vergnügungszentren der Städte eine bewusst gelebte Mußekultur, welche die Beherrschung der Liebe und die Kunst des Amüsierens im Bewusstsein der unwiederbringlichen Vergänglichkeit der Welt umfasste. Das entsprechende Lebensgefühl ist unter den Begriffen ukiyo (fließende Welt) und iki (Charme; Gewandtheit) bekannt. Die Erzählliteratur der Edo-Zeit ist dement-sprechend von Helden bevölkert, die keiner Arbeit nachgehen und stattdessen in den Vergnügungsvierteln das Erbe ihrer Eltern verprassen. Der Ethnologe Origuchi Shinobu bezeichnet Kunst und Literatur der Edo-Zeit deshalb als Li-teratur von „Outlaws“ (burai no to).28

Ein repräsentatives Beispiel dieser Outlaw-Literatur, in welcher die damaligen hedonistischen Lebensverhältnisse beschrieben werden, ist das um das Jahr 1665

23 Andō Shōeki jiten, 282 f.

24 Vgl. Herbert E. Norman, Wasurerareta shisōka – Andō Shōeki no koto, übers. v. Ōkubo Kenji, Tōkyō: Iwanami shoten 1950.

25 Vgl. Date, Isao, „Andō Shōeki (1)  – Yūtopia shishōshi no shiza kara“, in: Matsuyama daigaku ronshū 5.5 (Dez. 1993), 215–240, 215.

26 Vgl. Kano Kōkichi, „Andō Shōeki“, in: Sekai shichō, Bd. 3, Tōkyō: Iwanami Shoten, http://

www.aozora.gr.jp/cards/000866/files/2653_20666.html (02. 05. 2016).

27 Zu Andō Shōekis Rezeption in der Nachkriegszeit vgl. Simone Müller, „Intellektuellen-kritik und Utopie – Die Wiederentdeckung von Andō Shōeki, und Takeuchi Yoshimis Lektüre von Shōekis Kritik der ‚Weisen‘“, in: Eduard Klopfenstein / Simone Müller (Hg.), Utopien und Dystopien in Japan / Tiere in der japanischen Kultur (Europäische Japan-Diskurse, Bd. XII und VIII), Bern 2011, 393–441. (Asiatische Studien / Études Asiatiques, Bd. 65.2).

28 Origuchi Shinobu, „Burai no to no geijutsu“, in: Orikuchi Hakase Kinenkai (Hg.): Origuchi Shinobu zenshū, Bd. 17, Tōkyō Chūō Kōronsha 1956 [1928], 227–233, 230.

entstandene Kanazōshi29 Ukiyo monogatari (Geschichte der fließenden Welt) von Asai Ryōi (ca. 1612–1691). In Anlehnung an die damals importierten Ming-zeitlichen (1368–1644) Aufklärungs- und Belehrungsbücher klärt die Erzählung über die sozialen Verhältnisse auf, übt Kritik an der Politik, vermittelt Lebens-regeln und enthält auch humoristische Geschichten. Am Anfang des Werks wird ein dem Moment gewidmeter Hedonismus gepredigt. Repräsentiert wird dieser Hedonismus von Hyōtarō, Sohn eines geizigen Händlers, der sich weder für die Kriegskunst noch für die Gelehrsamkeit interessiert und ein ausschweifendes, Kurtisanen und dem Glücksspiel verpflichtetes Leben führt. Nachdem er aus Leichtsinn einen Samurai verärgert, muss er fliehen, wird Wandermönch und nennt sich in der Folge Ukiyobō (Kerlchen der fließenden Welt). Seine Bekann-ten bezeichnen ihn als einen, aufgrund seines unlauteren Lebenswandels von der Gesellschaft aufgegebenen, überflüssigen yūmin und lasten ihm an, seine Hin-wendung zum Buddhismus sei nicht aus einem inneren Trieb erfolgt, sondern stelle lediglich einen letzten Ausweg aus seiner Notlage dar.30 Nichtsdestotrotz bleibt Ukiyobō seinem Entschluss treu, und nach vielen Unterweisungen wird er schließlich zu einem taoistischen Heiligen und verschwindet spurlos. In der Figur des Müßiggängers Hyōtarō verbirgt sich somit eine implizite Kritik des konfuzianisch geprägten feudalen Tokugawa-Systems.

Gesellschaftskritik kann auch aus den Werken Ihara Saikakus (1642–1693) herausgelesen werden. Der Literaturnobelpreisträge Ōe Kenzaburō (*1935) bei-spielsweise sieht in Saikakus Erzählung Sugata Himeji Seijūrō monogatari (Die Geschichte von Seijuro aus Himeji) aus der Erzählsammlung Kōshoku gonin onna (1685, dt. Fünf Geschichten von liebenden Frauen, 196031), in welcher der Pro-tagonist Seijūrō trotz des Tadels seines Vaters ein ungehemmtes, Frauen und Trank verpflichtetes Leben führt, das Spannungsverhältnis zwischen der Kraft des feudalen, den Klassen Einschränkungen auferlegenden Bakufū-Systems und der Kraft der unter dem Druck des Feudalsystems und gegen deren kon-trollierenden Einfluss ihre wirtschaftliche und kulturelle Macht entfaltenden Händlerklasse dargestellt.32 Der Topos des Müßiggängers dient hier gleichsam als Gegendiskurs gegen die konfuzianische, das Individuum der sozialen Ordnung

29 Es handelt sich um, meist in Kyōto im 17. Jahrhundert gedruckte, in Kana-Schrift oder Mischform verfasste japanische Unterhaltungs- und Aufklärungsbücher. Aufgrund ihrer relativ großen Verbreitung gelten sie als erste Formen kommerzieller Literatur in Japan. Die späteren Werke des Genres, zu denen auch das Ukiyo monogatari zu zählen ist, zeichnen sich durch eine stärkere Thematisierung gesellschaftlicher Verhältnisse aus.

30 Asai Ryōi, „Ukiyo monogatari“, in: Nihon kotenbungaku zenshū, Bd. 64, Tōkyō: Shōgakukan 1999 [1665], 85–223, 152.

31 Ihara Saikaku, „Kōshoku gonin onna“, in: Teihon Saikaku zenshū, Bd. 2, Tōkyō: Chūō Kōronsha 1949 [1685], 113–222; dt. Fünf Geschichten von liebenden Frauen, übers. v. Walter Donat, München: Hanser 1960.

32 Ōe Kenzaburō, „Chikara toi shite no sōzōryoku“, in: Ōe Kenzaburō dōjidai ronshū, Bd. 9, Tōkyō: Iwanami Shoten, 1981 [1973], 49–73, 53.

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unterstellende Feudalgesellschaft der Edo-Zeit. Diese Doppelstruktur des yūmin, einerseits Bezeichnung für eine für die Gesellschaft überflüssige Existenz und andererseits für einen in der schöngeistigen Literatur repräsentierten, soziale Schranken zu sprengen trachtenden ‚Lebemenschen‘, finden wir auch im kōtō yūmin-Diskurs des 20. Jahrhunderts wieder. Dieser entwickelte sich vor dem Hintergrund weitereichender sozialpolitischer Veränderungen, die in der Meiji-Zeit ihren Ausgang nahmen.

3. Der kōtō yūmin-Diskurs in der Meiji-Zeit

Die japanische Meiji-Regierung trieb im Rahmen zahlreicher Reformen die politische, wirtschaftliche und kulturelle Öffnung gegenüber den westlichen Industrienationen voran, um Japan nach Vorbild der Westmächte zu einem konkurrenzfähigen Staat zu machen. Zur Erreichung dieser Ziele wurden die Bedürfnisse des Individuums denjenigen des Staats untergeordnet. Die breit angelegten Reformen beinhalteten die Abschaffung der Tokugawa-zeitlichen Feudalordnung, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und die

Die japanische Meiji-Regierung trieb im Rahmen zahlreicher Reformen die politische, wirtschaftliche und kulturelle Öffnung gegenüber den westlichen Industrienationen voran, um Japan nach Vorbild der Westmächte zu einem konkurrenzfähigen Staat zu machen. Zur Erreichung dieser Ziele wurden die Bedürfnisse des Individuums denjenigen des Staats untergeordnet. Die breit angelegten Reformen beinhalteten die Abschaffung der Tokugawa-zeitlichen Feudalordnung, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und die

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