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IM MODERNE-LABOR

Im Dokument FAUST UND GEIST (Seite 114-200)

Ringfeldsichtung: Boxen in der Literatur der zwanziger Jahre

In der umfassenden Literatur, die in der Zwischenkriegszeit als manifeste Reaktion und Reflexion auf den Boxsportboom entsteht, lassen sich gewisse Konstanten und bevorzugte Motive, weit verbreitete Metaphern und wiederkeh-rende narrative Strategien, bestimmte Topoi und signifikante Details sammeln:

Körper- und Körperkraftmetaphern; Erzählformationen und -perspektiven; An-spielungen auf Realien; Authentizitäts- und Fiktionssignale sowie das Boxen affirmativ als auch kritisch flankierende Motivreihen. Den interpretatorischen Schienen, die damit gelegt sind, wird hier aber nicht weiter gefolgt. Der textana-lytische Abschnitt will einen Beitrag zu den diskursiven Semantiken jener Texte leisten, die Boxen mit Körper-, Psychotechnik- und Performanz-Konzepten so-wie zeitdiagnostischen Signaturen verbinden, um so spezifische Merkmale der gesellschaftlichen und kulturellen Moderne mit Hilfe des Boxens zu (er)klären, zuweilen, wie bei Robert Musil, bis ins Grundsätzliche hinein. Es ist der Ver-such, die diskursiven und praktischen Spiegel- und Vorstellungsbilder, die dieser Sport wirft, Schritt für Schritt zu durchmustern. Als komplexe Konstellation prägt Boxen spezifische soziale und politische Kontexte; es gibt die „Matrix für ein Dispositiv“1 ab.

Boxliterarische Propagierungen – weniger Problematisierungen – zirkulieren zu Beginn des 20. Jahrhunderts in hohem Ausmaß; die verstärkte Nachfrage setzt eine bemerkenswerte schriftstellerische Produktivität und Produktion frei; als Teil der Deutungskultur von Zeitabschnitt und Mentalitätserkundung wird Boxen von zahlreichen Intellektuellen mit offenen Armen aufgenommen2: Boxen schreie „nach einem Dichter!“3, fordert Joseph Roth im Feuilleton Der Boxer in ironischer Brechung. Schriftsteller, Publizisten, Reklamemacher, Tage-buchschreiber und Dramatiker wenden sich, in je unterschiedlichen Tonlagen, Attitüden, Absichten und Intensitäten, der Literarisierung des Boxens zu. Die

1 Foucault 1978, S. 120 2 Vgl. Fleig 2008, S. 97 3 Roth 1989, S. 144

große Zahl literarischer Quellen vom Beginn des 20. Jahrhunderts ist sichtba-rer Beleg einer dichten reflexiven und alltagsgeschichtlichen Durchdringung mit den Werten, Begriffen und Diskursen aus der Welt des Boxens, diesem nach außen hin offenen Diskursraum ritualisierten Raufens mit gepolsterter Faust, vor Krachkulisse und Massenpublikum, im gleißenden Licht der Ringscheinwerfer.

Auf den Bühnen tummeln sich schon kurz nach der Jahrhundertwende Kraft-kerle, die vom Boxen als einem symptomatischem, mit Signalcharakter ausstaf-fiertem Oberflächen- und Modephänomen der anbrechenden Moderne künden:

Frank Wedekind lässt 1908 in dem Stück Oaha einen tugendhaften Verlagsbuch-händler das Faustfechten üben, wobei beinahe ein Nasenbein bricht; Ernst Toller verstrickt sein dramatisches Personal in Hoppla, wir leben in eine Diskussion, ob eine Boxveranstaltung besucht werden soll.4 Carl von Ossietzky lässt eine seiner Theaterkritiken in der Berliner Volks-Zeitung in der trockenen Feststel-lung kulminieren, dass jene Bühnenaktion, die am meisten physische Qualität bewiesen habe, mit beharrlichem Beifall bedacht worden sei: „Wir sind nicht umsonst Zeitgenossen Breitensträters.“5 In Arthur Schnitzlers Novelle Fräulein Else verfällt Else in zwiespältige Schwärmerei: „Der einäugige Amerikaner […]

hat ausgesehen wie ein Boxkämpfer. Vielleicht hat ihn beim Boxen wer das Aug’

ausgeschlagen.“6 Hugo Bettauer nähert sich der jüngeren Historie 1922 im Ro-man Der Kampf um Wien satirisch mit den Mitteln des Boxens: „Hat nicht ganz Amerika durch einige Tage den Weltkrieg über den Kampf um die Weltmeister-schaft im Boxen vergessen gehabt?“7 In Romanen, Reportagen und Erzählungen findet sich Boxen bald in variierenden Schreibweisen ausgestellt; vier vornehm-liche Erscheinungsformen des literarisierten Boxens sind dabei auszumachen.

Weitestgehend unhinterfragte Vorstellungen vom Boxen als schmückend-mo-disches Beiwerk finden sich als verstreute Spur. Boxen hält als extravagantes Phänomen in regionale Zeit- und Inflationsromane – wie in Felicitas Roses Die jungen Eulenrieds und Paul Kellers Drei Brüder suchen das Glück – Einzug, auch wenn der Breslauer Autor Keller das Boxen als Aktivität ausstellt, die jeder Stra-ßenprügelei zur Ehre gereichte8; die Erwähnung von Boxernamen und Ringge-plänkeln gehört in Tagebüchern und Erinnerungen an die Zeit zum guten Ton.

Der Berliner Schriftsteller und Satiriker Alexander Moszkowski bemerkt 1925, dass jedes Kind die „Helden vom Knockout“9 kenne. Harry Graf Kessler notiert

4 Vgl. Wedekind 2003, S. 44; Toller 1980, S. 47 5 Ossietzky 1994, S. 543

6 Schnitzler 1980, S. 209 7 Bettauer 1980, S. 350

8 Vgl. Rose 1936, S. 142ff; Keller 1929, S. 93f 9 Moszkowski 1925, S. 223

1929 in sein Tagebuch eine Episode symptomatischer Boxerverehrung: George Bernard Shaw schwärmt darin dem Diaristen von seiner Begegnung mit einer US-Boxberühmtheit vor.10 Boxen wird hier als modisches Moderne-Moment gehandhabt, das durchweg ohne konkrete kontextuelle und problematisierende Einordnung auskommt und ohne analytischen Anspruch auftritt: Boxen als Ku-riosum und Faszinosum, das schlagwortartig beleuchtet wird; der Faustkämpfer als eine herbeizitierbare Schlüsselfigur des Progressiven.

In den 1920er-Jahren etablieren sich in schneller Folge sogenannte Boxerro-mane, die in ihrer Gesamtheit zwar ein heterogenes Korpus bilden, sich in ihrer Form der Inszenierung, Propagierung und Präsentation des Boxens aber ähnlich sind: Die Misere des Lebens löse sich, so die Frohbotschaft der Trivialboxlite-ratur, die den Bedürfnissen nach Information und Zerstreuung gleichermaßen entgegenkommt, in einer Serie simpler Schläge auf. Ohne dass die Autorinnen und Autoren die gattungsmäßigen Voraussetzungen diskutierten, werden diese Romane zum eigenständigen Genre erhoben. Der Roman eines Boxers, der Bo-xer-Roman oder Ein heiterer Boxerroman11, so die Untertitel dieser Werke, sind direkt an die Adresse jener gerichtet, die auf der Suche nach Unterhaltung und Ablenkung sind.12 Die Prosa einer Reihe heute nahezu vergessener Autorin-nen und Autoren wirft ihr Schlaglicht explizit auf das Boxen, unter anderem Hannes Bork (Der deutsche Teufel), Horst Hellwig (Der Mann am Faden), Felix Hollaender (Das Erwachen des Donald Westhof), Ernst Klein (Kämpfer), W. K.

von Nohara (Theo boxt sich durch), Werner Scheff (Der Boxer, zwei Frauen und ein Pfeil), Max Schievelkamp (In der dritten Runde), Johannes Sigleur (Männer im Ring), Adolf Uzarski (Beinahe Weltmeister), Victor Witte (Verliebtsein ausge-schlossen), Ludwig von Wohl (Der große Kampf) und Olga Wohlbrück (Athleten).

Trivialliteratur erweist sich dabei durchaus als „zuverlässigerer Spiegel der men-talen Verfassung einer Gesellschaft als die Hochliteratur“13; in diesen Texten lässt sich deshalb eine Vielfalt an Diskursen und Realien zum Boxen finden – Boxen als Spektakelkultur und Strategie der Daseinsbewältigung; als Utopie, Männlichkeitsmodell, Extremerfahrung und Schule des Kämpfens; als exklusi-ver Präsentationsraum für Kraftkerle, Körperstilisierung und Sportler-Heroisie-rung. Boxen bildet das Erzählgerüst dieser Form der Prosa; den Autorinnen und Autoren geht es nicht darum, Licht in die dunklen Paradoxien des Boxens zu bringen; ihre Protagonisten stellen sie als konstruierte Heldenfiguren ins Licht der Bogenlampen, ganz nach Zeitgeschmack.

10 Vgl. Kessler 1979, S. 601

11 Vgl. Uzarski 1930, S. 3; Schievelkamp 1920, S. 3; Witte 1939, S. 5; Hellwig 1931, S. 3 12 Vgl. Nusser 2002

13 Rothe 1981, S. 147

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Franz Blei (Bildnis eines Boxers), Ödön von Horváth (Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes; Was ist das?), Erich Kästner (Boxer unter sich), Klabund (Der Boxer; Spuk), Ernst Krenek (Schwergewicht oder Die Ehre der Nation), Anton Kuh (Wie schreibt man über einen Boxer?), Hein-rich Mann (Die große Sache), Joachim Ringelnatz (Boxkampf), Kurt Schwitters (Merfüsermär) und Joseph Roth stellen in Erzählungen, Gedichten, Romanen und Reportagen dagegen vielfältige Korrespondenzen zwischen dem Boxen und den zeittypischen Diskursen her; allein von Roth, dem Berichterstatter der Frankfurter Zeitung und des Prager Tagblatts, ist eine große Zahl boxlite-rarischer Zeugnisse überliefert: Der Boxer; Die Boxer (II); Training; Der Bizeps auf dem Katheder; Körperliche Erziehung der Frau; Lobgedicht auf den Sport; Der Kampf um die Meisterschaft; Heimkehr eines Boxers; Ursachen der Schlaflosigkeit im Goethe-Jahr; Der Boxer in der Soutane; Der Meister im Museum. 1924 veröf-fentlicht Roth sein ironisches Lobgedicht auf den Sport, das jeder Bemühung um Zelebration und Exzellenz spottet. Selbst Gott, hält Roth dem Boxfanatismus der Zeit entgegen, wirke im Vergleich mit dem, „der Runden schlägt“14, wie ein

„kleiner Mühlenaushilfstreter“15; Goethe sei ein „kleiner Hund dagegen“16, was einer könne, auf dessen Faust der Segen des „Kinnzertrümmerns“17 ruhe. Die Autoren der neusachlichen Literatur verstehen es, das weite Feld des Boxens mit seinen undeutlichen Grenzen und veränderlichen Schwerpunkten gleicherma-ßen für Kritik, Ironisierung und Marginalisierung zu nutzen.

Die Wortmeldungen von Bertolt Brecht und Robert Musil ragen aus den zeitge-nössischen Schriftbergen zum Boxen unübersehbar heraus. Brecht und Musil ent-ziehen sich in den 1920er- und 1930er-Jahren weitestgehend dem Sog modischer Sportpraxen und widmen sich dem Boxen in vielschichtiger Weise; dem Kampf mit Fäusten nähern sich Brecht und Musil als einem komplexen kulturellen Be-deutungsfeld: Boxen als performative Praxis und Interaktion zwischen Sportler und Publikum; als neue Form der Körperzurschaustellung; als Schlüssel zum modernen Ich-Erlebnis, das vor dem Hintergrund von Rationalisierung und Technikdenken von opaker Erfahrungsmöglichkeit bestimmt scheint. Brecht stellt in seinen essay-istisch-programmatischen Texten Die Todfeinde des Sportes, Das Theater als Sport, Das Theater als sportliche Anstalt, Die Krise des Sportes, Mehr guten Sport und Sport und geistiges Schaffen sowie in der Erzählung Der Kinnhaken und in den um 1926 entstandenen, Fragmente gebliebenen Roman- und Biografie-Projekten Das Re-nommee und Der Lebenslauf des Boxers Samson-Körner erzählt von ihm selber,

auf-14 Roth 1990c, S. 8 15 Ebd.

16 Ebd.

17 Ebd.

geschrieben von Bert Brecht erweiterte diskursive Zusammenhänge zwischen Sport, Ökonomie und Alltagskultur her. Wirbelnde Körper in einem Schwall farblosen Lichts, gerahmt von Publikum – Anatomie-Arenen: Die Ereignisse im Boxring faszinieren Brecht. Schaucharakter, Authentizitätsanspruch, Körperintensität und die möglichen Formen der Selbsterfahrung bilden für den Autor Beobachtungs- und Erfahrungsfelder, die er zu Kulturkritik und Modernediskurs verdichtet. Brecht hievt Boxen auf die Theaterbühne; er sprengt, wie noch genauer zu entwickeln sein wird, den diskursiven Rahmen des Boxens und testet die Massentauglichkeit dieses Sports aus, die andere Texte der Zeit bloß inspizieren.

Körperlichkeit und mentale Disposition bilden in den Überlegungen Ro-bert Musils zum Boxen schließlich kein Gegensatzpaar mehr, sondern Pole eines Spannungsverhältnisses, das sich den Handlungen und Haltungen, den Reflexen und Reflexionen einprägt: Nicht nur Ulrich im Mann ohne Eigen-schaften übt sich in der Boxsportkunst; die Erfahrung boxsportlicher Ekstase zählt auch zum speziellen Erlebnisrepertoire des Boxweltmeisters Faust Ma-genschlag, der bereits 1921 in einem frühen szenischen Entwurf Musils in den Tagebüchern auftaucht.18 Boxen erweist sich in der Erzählung Der Riese Agoag als ein zentraler Referenzrahmen für Musils Kritik modischer Körper-, Sport- und Menschenbilder; in Essays wie Der Praterpreis, Durch die Brille des Sports, Randglossen zu Tennisplätzen, Kunst und Moral des Crawlens und Als Papa Tennis lernte sind die Themenkreise Sport und Boxen ebenfalls zentral geschaltet; der in der Forschung bislang wenig herangezogene Text Psychotechnik und ihre An-wendungsmöglichkeit im Bundesheere veranschaulicht Musils Beschäftigung mit psychophysischen Fragen, die er als einer der ersten Autoren seiner Zeit auf das Boxen überträgt. Kein anderer Autor der Zeit, so wird zu zeigen sein, erprobt die Vielschichtigkeit und Komplexität des Boxens wie Musil.

Auf die naheliegende Korrespondenz von Kapitel- und Rundenzahl greift Faust und Geist nicht zurück: Eröffnungskapitel sind keine ersten, Abschlusska-pitel keine finalen Ringrunden. Zugelassen werden soll dagegen ein möglichst breites Spektrum an Lesarten, Moderationen, Interpretationen und Erklärun-gen der Weimarer Boxliteratur. Der Boxsport baut auf eingeschliffene Körper- und Kampfcodes, althergebrachtes Regelwerk und einen von Duell zu Duell nur in äußerlichen Details variierenden dramaturgischen Ablauf; erst die Bei-mischungen des Improvisatorischen, der Variation in dem Vertrauten, erzeugen jedoch den Reiz des Boxens – im Boxring selbst wie in einer kulturgeschichtli-chen Untersuchung zum Boxen.

18 Vgl. Musil 1976a, S. 553ff

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Der Boxkampf ist das Höchste.

Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman

Boxer hinterlassen deutliche Spuren im zeitgenössischen Trivialroman. Das Genre präsentiert ein „Panoptikum moderner Körperideale“1 und berichtet von dem „Sport nicht essayistisch-ernst, sondern narrativ-unterhaltsam“2. Kai Mar-cel Sicks hat in Stadionromanzen weiter festgestellt, dass in den fiktionalen Pro-sastücken oft Einzelfiguren in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt seien:

„Das Romangeschehen ist so vollständig im Protagonisten zentriert.“3 Die Sportromane, die durchweg ein positives Bild ihres Sujets zeichnen4, themati-sieren zugleich die drohenden Ängste vor Autonomieverlust und individueller Handlungsohnmacht; sie exemplifizieren – erzählerisch zwar angestoßen, aber in psychologisch rudimentär konstruierte und außerhalb des Diskursgesche-hens positionierte Protagonisten verlegt – das Ringen der Athletenfiguren um die Wiedergewinnung und Beibehaltung von Konzentration, Willenskraft und Selbstkontrolle.5 Die im Sportroman speziell akzentuierten Handlungsverläufe und Figurenzeichnungen dienen besonders der boxtrivialen Rede als Vorlage;

zum Vorstellungsrepertoire über das Boxen zählen neben Heroen-Individualis-mus zentral Sieg und Niederlage. Kai Marcel Sicks schreibt in Stadionromanzen:

Im Sportroman lesen wir von großen Siegern und großen Niederlagen; von Athle-ten, die ihren Platz im Leben finden, und von solchen, die jeden Halt verlieren; von Charakteren, die durch den Sport reifen, und von solchen, deren Unreife im Sport erst ansichtig wird, von umjubelter Berühmtheit und plötzlicher Einsamkeit; von den Annehmlichkeiten des Reichtums und den Gefährdungen, die er mit sich bringt; von den Wonnen der Liebe und den Schmerzen, die sie verursacht.6

Hinter den gattungstypologischen Konstellationen des Genres Boxerroman las-sen sich noch weitere Aspekte wahrnehmen. Die Autorinnen und Autoren the-matisieren das Boxen weitestgehend losgelöst von sozialen und politischen

Rela-1 Sicks 2006, S. 156 2 Ebd., S. 9 3 Vgl. ebd., S. 37 4 Vgl. ebd., S. 40

5 Vgl. ebd., S. 80; zum Willen als einem zeittypischen Signum von Selbstständigkeit, Selbstver-antwortung und intrinsischer Motivation vgl. ebd., S. 21, 66ff u.103

6 Sicks 2006, S. 50

tionen, vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die dem Phänomen Boxen mit Nachdruck neue diskursive Felder zuweist; der allgemeine kulturelle Wandel fin-det in Romanen und Erzählungen vom Boxen jedoch nur am Rande seinen sym-bolischen Ausdruck; die Spiegelfigur des Boxers wird interpretiert, kommentiert und adaptiert: Der Topos wird in der Trivialliteratur nur lose oben auf das diskur-sive Zeit- und Mentalitätsgeflecht platziert; erst die avanciertere Literatur sowie Brecht und Musil werden die Ideenfäden des Boxens in engerem Sinne mit den diskursiven Verstrickungen der Moderne verknüpfen. Im Trivialgenre sind noch kaum Verknüpfungspunkte auszumachen. Mit dem Sujet wird in allgemeinem Kontext eine Spannungsebene erzeugt, die das Interesse der Leserschaft wecken soll. Foucault, so Achim Geisenhanslüke in Foucault in der Literaturwissenschaft, lege Wert auf den „theoretischen und methodischen Zuschnitt der Diskursana-lyse“7 als einer Wissenschaft, die „nicht einzelne Texte zum Gegenstand nimmt, sondern übergreifende diskursive Formationen“8. Das erklärte Ziel der nachfol-genden Überlegungen – nämlich mit der an Foucault ausgerichteten Frage nach den Relationen und Transfers zwischen heterogenen Wissens- und Diskursfel-dern jene narrativen Formen zu analysieren, die Boxen hervorbringt – verfängt im Bereich der Trivialliteratur nicht, weil die Kernaussage der Gattung verläss-lich in die leerlaufende Rhetorik vom Boxer als einer grimmigen Kampfmaschine mündet. Jene Wissenskomplexe, die mit Boxen interagieren, bleiben dabei ohne grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang; im Unterhaltungsroman box-sportlicher Prägung wird das Wissensarchiv um den Faustkampf nicht einmal im Verborgenen wachgerufen: Die Makrostrukturen des Sozialen und Politischen bleiben ebenso unberücksichtigt wie die Mikroebene der Figurenzeichnungen, wie auf den kommenden Seiten herauszuarbeiten sein wird. Es werden Athleten ins Licht der Aufmerksamkeit gestellt, die sich, fern sozialpsychologischer Hin-weise und literarisch herausgearbeiteter Disziplinierungstechniken, ganz dem Fetisch des Boxens ergeben: Zelebriert wird der Aspekt reiner, ins Schaufenster der Massenhysterie gestellte Körperlichkeit im Zeichen des Zeit- und Menta-litätsgeflechts Boxen; die Signalfigur des Boxers zeigt sich in Trainingsexzesse verfangen; in die Vorstellung vom Boxen als Lebens- und Weltbewältigungspro-gramm scheint keine Relativierungsebene eingezogen, die theoretisch plausibel zu fassen wäre. Die Diskurse distinkter Formationen – Pseudo-Sakralisierung, Ökonomie, Nationalismus und das Berserkern in den Arenen – werden endlich in Form einer Spektakelkultur inszeniert, die sich einem modernen Denken in differenzierten Zusammenhängen verweigert. Zusammenfassend ist festzuhal-ten, dass jener Modernitätsschub, den sich die Trivialliteratur durch das Signal

7 Geisenhanslüke 2007, S. 74 8 Ebd.

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Kraft-undKörperkulte:Boxsport-ModeimUnterhaltungsroman |

Boxen zu verschaffen sucht, in Ansätzen steckenbleibt; Spektakel, Starkult und Sporteuphorie werden nahezu kritiklos und ohne jedes tiefgreifende Zusammen-denken von externen und internen Praktiken, von Diskurs-, Erkenntnis- und Wissensformationen im Durchlauferhitzer der Unterhaltungsliteratur dargebo-ten: Boxen bildet gleichsam eine geschlossene Oberfläche.9 Das wird auf den folgenden Seiten zu überprüfen sein.

1.Boxfieber:SignalfigurBoxer

Die boxspezifische Trivialliteratur schaltet sich bevorzugt durch Anspielung und historische Zitate in die Realien des Boxgeschehens. Boxen dient ihr als ein Vehikel bestimmter Repräsentationen der Wirklichkeitswahrnehmung; die ver-meintlich authentischen Anteile des Boxens, großzügig aus dem Pool der fre-netisch-kollektiven Boxsportbegeisterung geschöpft, sollen in der Literatur Si-gnal- und Vermarktungswirkung entfalten. Der Kult der Faust wird zelebriert:

Kaum ein Haushalt, der vom „Boxfieber […] nicht ergriffen“10 sei, jubelt Johannes Sigleur in Männer im Ring. Boxen findet in einem Fluidum absoluter Begeiste-rung statt: In Berlin stehen „Boxkämpfe im Mittelpunkt des allgemeinen Inter-esses“11. Es herrscht „Gewimmel und Gesumme wie in einem Bienenkorb“12; vor der Arena staue sich, registriert Olga Wohlbrück in Athleten, eine „unabsehbare, grollende, heulende, schwatzende, erregte Menge“13. Boxen vertreibt die Tristesse des Alltags. „Man möchte irgend etwas Verrücktes tun, es ist ja gar nichts los“, stellt der Baron in Vicki Baums Menschen im Hotel gegenüber Fräulein Flamm fest. „Man möchte Sie jetzt beißen oder mit Ihnen balgen oder Sie ganz zerknaut-schen – na, heut abend geh ich zum Boxkampf, da geschieht doch wenigstens etwas.“14 Die Duelle in den Sportarenen seien jedenfalls schlicht das „Beste“15.

9 Die neueren Forschungen zur Ästhetisierung des Sports im 20. Jahrhundert rücken vom bloßen Materialstatus der literarisch-linearen Beschreibung spezifischer Sportsektoren ab und fokussie-ren den Aspekt der Verbindung von Sport und Sprache als Diskursfiguration, die in Form eines

„Gegendiskurs[es]“ (Gamper 2001, S. 38) die fest gefügten Anordnungen des Sportdiskurses neu zu konnotieren vermag; durch „Perspektivenerweiterung“ (Gamper 2003, S. 45; Hervorh. im Orig.) lasse sich die „Moral des Sports“ (ebd.) unterminieren, die sich in „stereotypen, reduktio-nistischen Narrationen durchsetzt und verbreitet“. (ebd.)

10 Sigleur 1940, S. 73 11 Schievelkamp 1920, S. 84 12 Hellwig 1931, S. 61 13 Wohlbrück 1921, S. 102 14 Baum 1988, S. 162 15 Ebd., S. 150

Man stürzt sich deshalb förmlich in den „Strom des Boxfiebers“16: Die Ringduelle werden in „Gegenwart von Tausenden ausgefochten“17; keine „Stecknadel mehr“18 lässt sich in die dichtgedrängte Menge schmuggeln. Ein beständiges Mitteilen in Super lativen durchzieht diese Art des Schreibens: Auf dem Programm steht ein Fight der „größten Weltchampions“19, das „größte Weltereignis des Jahres 1928, die große Sensation einer großen Zeit“20, so Adolf Uzarski in Beinahe Weltmeister, wobei die „kultivierte Menschheit aller Länder der Erde […] mit fieberhafter Spannung“21 und „seit Wochen schon aufgeregt“22 der Galavorstellung entge-genblickt. Der Berliner Sportpalastsprecher Reinhold Habisch, aufgrund einer Gehbehinderung „Krücke“ gerufen, wird in Boxerromanen und -sportschriften zu einem Rollenmodell mit hohem Wiedererkennungseffekt.23 Der Publizist und Jurist Hermann Sinsheimer notiert im Feuilleton Box-Arena:

An seinem Mund – ein zweiter Thersites – hängt das Ohr der Menge. Sie will von ihm hören, was sie selbst denkt. Krücke ermahnt die Boxer vor dem Kampf und spricht ihnen nach dem Kampf das Verdikt – der Obmann und der Sprecher des riesigen Sport-Scherbengerichts: Wehe den Gerichteten!24

Der Berliner Journalist Kurt Doerry, der im Manifest Boxen entschieden zum Faustkampfsport rät25, betritt in Max Schievelkamps In der dritten Runde als Unparteiischer ebenso den Ring26 wie der Schauspieler Harry Lamberts-Paul-sen – der im Ufa-Stummfilm Die Boxerbraut nur vier Jahre darauf einen Faust-kämpfer spielen wird – in dem Roman als Ring-Conférencier erscheint und den Boxer Otto Flint27 ankündigt:

Plötzlich Bewegung unten im Saale. Geleitet von ihren Sekundanten kommen die ersten Kämpfer Kirch und Kretz.[28] Beide setzen sich auf die sich in der Diago-16 Sigleur 1940, S. 27

17 Schievelkamp 1920, S. 115 18 Wohlbrück 1921, S. 102

17 Schievelkamp 1920, S. 115 18 Wohlbrück 1921, S. 102

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