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2.3 Körperlichkeit

2.3.3 Identität und Sport

Wenn Körper, Identität und Selbstwertgefühl so eng aufeinander bezogen sind, wie eben dargelegt, dann stellt sich die Frage, welche Bedeutung einer stark körperorientierten Tä-tigkeit wie dem Sport für die Identitätsbildung zukommt. Was ist der Beitrag des Sports zur „ontologischen Sicherheit“ und „existentiellen Integration“ eines Menschen? Die Fra-ge stellt sich im Kontext unserer Untersuchung in Bezug auf das JuFra-gendalter. Bereits ha-ben wir gesehen, dass für Jugendliche nicht nur die Bildung einer persönlichen Identität ansteht, sondern auch ihr Selbstwertgefühl einer starken Prüfung unterzogen wird. Inso-fern die Identität sowohl eine körperliche wie eine soziale Basis aufweist (vgl. Kap.

2.3.1), ist zu erwarten, dass der Körper gerade im Jugendalter besondere Aufmerksamkeit erlangt.

Denn in der Pubertät verändern sich die körperlichen Merkmale oft schnell und öffentlich sichtbar, weshalb dem eigenen Körper, aber auch dem Körper anderer nicht ausgewichen werden kann. Die wahrgenommenen Veränderungen der körperlichen Proportionen und

50 Jugendliche und junge Erwachsene, die zur freien schriftlichen Selbstbeschreibung aufgefordert werden, nennen physische Eigenschaften zumeist an prominenter Stelle (vgl. Neuenschwander, Hess & Keller 1997).

der körperlichen Erscheinung sowie die unausbleiblichen Reaktionen der näheren sozia-len Umwelt führen in Verbindung mit der kognitiven Entwicklung des Jugendlichen zu einer adoleszenzspezifischen Form des Egozentrismus (vgl. Elkind 1967). „Early adoles-cence is marked literally and metaphorically by a resurgence of the body. The adolescent watches his or her body spurt into growth and develop secondary sexual characteristics.

As a result of these changes, the self is increasingly interested in and defined by the body.

Whereas the infant values his body in terms of its pleasure and pain, the adolescent‟s bo-dy derives value in social and symbolic terms from the reactions of others“ (Wilson 1979, p. 39).

Wie die Ablösung von den Eltern, stellen die körperlichen Veränderungen im Jugendalter eine Entwicklungsaufgabe dar, die bewältigt werden muss, egal ob sich ein Jugendlicher oder eine Jugendliche für Sport interessiert oder nicht. Der Körper, die körperliche Er-scheinung und die Körperwahrnehmung müssen in die persönliche Identität integriert werden, andernfalls ist mit psychischen Störungen zu rechnen (wie im Falle von Anorexie oder Bulimie). Der Abbau des adoleszenten Egozentrismus kann nur gelingen, wenn der Körper und dessen Eigenheiten beachtet und respektiert werden. Bei der Zuwendung zum Körper kann der Sport hilfreich sein, da er eine sozial anerkannte Form der Auseinander-setzung mit dem Körper darstellt. Wie Späth und Schlicht (2000) aufgrund einer Studie bei 177 Gymnasiastinnen und Gymnasiasten feststellen, erfährt der Körper bei sportlich aktiven Jugendlichen eine stärkere Zuwendung und höhere Beachtung. Sportliche Aktivi-tät kann den Prozess der Identifikation mit dem eigenen Körper unterstützen. Im Zustand des Flow, wie er durch sportliche Betätigung herbeigeführt werden kann, lösen sich die starren Ich-Grenzen auf und das Individuum vermag mit seinem Körper zu verschmelzen (vgl. Csikszentmihalyi 1985; Rheinberg 1996).

Wie weit der Sport als Medium für die Identitätsbildung genutzt wird, ist jedoch eine weitgehend offene Frage. Zu rechnen ist auf jeden Fall mit geschlechtsspezifischen Diffe-renzen. Wie wir bereits vermerkt haben, bringen Männer ihren Körper eher mit Kraft und Leistung in Verbindung, während für Frauen das Aussehen und die körperliche Attraktivi-tät eine grössere Rolle spielen (vgl. Kap. 2.2.4). Die Unterscheidung des Körperkonzepts nach körperlicher Leistungsfähigkeit (physical ability) und körperlichem Aussehen (phy-sical appearance) ist in der einschlägigen Forschung denn auch geläufig (vgl. Mrazek 1986; Späth & Schlicht 2000). Auch wir werden ihr in unserer Untersuchung folgen. Vor-gesehen ist keine umfassende Analyse der Identitätsbildung (dies würde das Design unse-rer Studie sprengen), sondern eine Beschränkung auf das Körperselbst. Dazu werden wir in Anlehnung an Marcia (1993) und Adams (1994a, b) vier körperliche Identitätszustände unterscheiden. Als globale Kategorien der Selbstbeurteilung werden wir das Selbstwert-gefühl, die depressive Neigung und die Ängstlichkeit (trait anxiety) der Jugendlichen erfassen.

3 Forschungsfragen

Im Zentrum unserer Untersuchung steht die Frage nach der sozialintegrativen Funktion des Sports bei Jugendlichen mit ausländischer Staatsbürgerschaft.51 Dabei finden die ver-schiedenen Facetten des Integrationsbegriffs Beachtung, die zuvor erläutert wurden (vgl.

Kap. 2): strukturelle Integration, normative Integration, soziale Integration (soziale Aner-kennung), sprachliche Integration, Integrationsgefühl und existentielle Integration.

Insofern ein wesentliches Merkmal der strukturellen Integration im Bildungsstatus eines Jugendlichen liegt, setzt eine erste Forschungsfrage hier an. Wir gehen vergleichend vor, indem wir schulisch unterschiedlich erfolgreiche Jugendliche für unsere Stichprobe rekru-tieren (vgl. Kap. 4). Sport in Form von Spitzen- bzw. Leistungssport kann für Jugendli-che, die in der Schule nicht oder ungenügend reüssieren – und das sind häufig ausländi-sche Jugendliche – eine Gelegenheit bieten, die eigene Leistungsfähigkeit auf einem Ge-biet unter Beweis zu stellen, das hohe gesellschaftliche Anerkennung und Aufmerksam-keit geniesst. Der (professionelle) Leistungssport markiert eine gesellschaftliche Statusli-nie, die substitutiv zur dominanten Statuslinie der Bildung genutzt werden kann, um Macht und Prestige zu erlangen und insofern von kompensatorischer Bedeutung ist. Un-sere erste Forschungsfrage lautet daher: Bildet der Leistungssport ein alternatives Medi-um der strukturellen Integration für (ausländische) Jugendliche? Konkret: Wird der Sport (insbesondere der Leistungssport) von schulisch wenig erfolgreichen (insbesondere aus-ländischen) Jugendlichen als Vehikel wahrgenommen, um niedrigen Bildungsstatus zu kompensieren?

Unabhängig davon, ob wir es mit Leistungs- oder Breitensport zu tun haben, bietet der Sport Jugendlichen die Möglichkeit, in einem informellen oder formellen Rahmen Gleichaltrige kennen zu lernen, gemeinsame Aktivitäten auszuüben, Beziehungen aufzu-bauen und gegenseitiges Vertrauen zu schaffen. Damit genügt der Sport wesentlichen Kri-terien, die sich einem Medium der sozialen Integration52 stellen. Eine zweite Forschungs-frage setzt hier an: Tragen gemeinsame sportliche Aktivitäten von ausländischen und schweizerischen Jugendlichen zur sozialen Integration der ersteren bei? Dabei setzen wir voraus, dass die sportliche Aktivität nicht national bzw. ethnisch segregiert ausgeübt wird, sondern in national gemischten Gruppierungen oder Vereinen stattfindet.

Ist das Kriterium erfüllt, d.h. finden die sozialen Interaktionen über die Grenzen der nati-onalen Herkunft hinweg statt, dürfte der Sport auch einen wesentlichen Beitrag zur sprachlichen Integration leisten. Hier liegt die dritte Forschungsfrage unserer Untersu-chung: Wie beurteilen ausländische Jugendliche, die häufig Kontakt mit schweizerischen Jugendlichen haben und mit ihnen gemeinsam sportlich aktiv sind, ihre sprachliche Integ-ration? Sowohl für die zweite wie für die dritte Forschungsfrage dürfte relevant sein, wie intensiv die sozialen Beziehungen sind, weshalb wir auch nach binationalen Freundschaf-ten, d.h. Freundschaften zwischen ausländischen und schweizerischen Jugendlichen, fra-gen werden.

Wenn wir annehmen, dass soziale Interaktionen mit Einheimischen, die auf einer egalitä-ren Basis stattfinden, nicht nur dazu fühegalitä-ren, dass man sich als Ausländerin oder Ausländer anerkannt fühlt, sondern auch mit den Normen und Werten des Aufnahmelandes vertraut wird, dann kommt dem Sport möglicherweise auch eine normative Integrationsfunktion zu. Die Vermutung wird durch die hohe Affinität des Sports mit zentralen Werten einer

51 Wir verwenden diesen Ausdruck und nicht denjenigen des Migrationshintergrundes, weil wir bei der Bildung unserer Stich-probe vom Kriterium der Nationalität ausgegangen sind (vgl. Kap. 4.1).

52 Im Sinne unseres Begriffs der sozialen Anerkennung (vgl. Kap. 2.1.2).

modernen, meritokratischen Gesellschaft bestärkt. Anders formuliert ist zu erwarten, dass Personen ausländischer Herkunft, insbesondere wenn sie aus Gesellschaften mit traditio-naler Wertstruktur stammen, dann nicht dazu neigen, die Werte ihrer Herkunftskultur hochzuhalten, wenn sie sportlich aktiv sind. Damit ergibt sich eine vierte Forschungsfra-ge: Sind sportlich aktive Jugendliche ausländischer Herkunft in ihren Werthaltungen mo-derner als ausländische Jugendliche, die sportlich inaktiv sind? Unabhängig von der nati-onalen Zugehörigkeit der Jugendlichen lässt sich zudem vermuten, dass sportlich aktive Jugendliche weniger dazu neigen, „gegenkulturelle“ Werte hedonistischer oder eskapisti-scher Art zu vertreten. Schliesslich stellt sich die Frage, wie weit die Identifikation mit einer religiösen Gemeinschaft, die naturgemäss nicht eine nationale, sondern eine trans-zendente Orientierung aufweist, der Integration in das Aufnahmeland hinderlich ist bzw.

wie weit Sport und Religiosität gegenläufige Werte verkörpern.53

Als körperliche bzw. körperorientierte Tätigkeit hat der Sport Bedeutung für die Identi-tätsbildung im Jugendalter. Wir nehmen an, dass sportliche Aktivität zu einem positiven Körperbild, zu Gefühlen psychischen Wohlbefindens und zu einem erhöhten Selbstver-trauen (Selbstwert) führt. Im Rahmen einer fünften Fragestellung wollen wir den Bezie-hungen zwischen sportlicher Aktivität einerseits und Wahrnehmung und Beurteilung des eigenen Körpers, körperlichem Identitätsstatus und Selbstwertgefühl andererseits nachge-hen. Thematisiert wird dabei die existentielle Integration, der wir einen indirekten Beitrag zur sozialen und sprachlichen Integration von (ausländischen) Jugendlichen sowie zu de-ren Integrationsgefühl zuschreiben. Letzteres werden wir in den verschiedenen Analysen als zusätzliches Integrationskriterium einsetzen.

Ein positives Körperbild und ein hoher Selbstwert hängen unter anderem von der Über-einstimmung zwischen dem Realbild des eigenen Körpers und einem erwünschten Ideal zusammen. Was körperlich ideal heisst, dürfte allerdings von verschiedenen Faktoren beeinflusst werden, die bei männlichen und weiblichen Jugendlichen zudem unterschied-licher Art sind. Wir vermuten, dass das maskuline Ideal eher von instrumentellen Krite-rien wie einem durchtrainierten, kräftigen und leistungsfähigen Körper durchwirkt ist, während das feminine Ideal eher von ästhetischen Kriterien wie gutes Aussehen, Attrakti-vität und schlanke Figur bestimmt wird. Dementsprechend ergibt sich als sechste Frage-stellung: Wie weit unterscheiden sich männliche und weibliche Jugendliche in ihren sportlichen Interessen, ihrem sportlichen Engagement und im Ausmass der sportlichen Aktivität? Welche Beziehungen bestehen zwischen Sport und Körperlichkeit?

Anzunehmen ist, dass sich nicht nur die Attraktivität sportlicher Betätigung und das Aus-mass an sportlicher Aktivität, sondern auch die bevorzugten Sportarten zwischen den Ge-schlechtern unterscheiden. Was die kompensierende Funktion des Sports anbelangt, neh-men wir an, dass weibliche Jugendliche generell, besonders aber weibliche Jugendliche aus Herkunftsländern mit einer traditionalen Geschlechtsrollendifferenzierung, nicht im gleichen Masse von einer allfälligen kompensatorischen Wirkung des Sports profitieren können wie männliche Jugendliche. Möglicherweise versuchen sie, schulischen Misser-folg anderweitig (insbes. über askriptive Merkmale wie Schönheit, spezifische Werte der Weiblichkeit und Familialismus) zu bewältigen. Auch in Bezug auf die soziale Anerken-nung stellt sich die Frage nach alternativen Interaktionskontexten, die für weibliche Ju-gendliche zugänglicher sind als der Sport, aber eine analoge Integrationsfunktion

53 Über das Verhältnis von Sport und Religion finden sich in der wissenschaftlichen Literatur verschiedene Abhandlungen (vgl.

u.a. Koch 2000, 2002). Dem Sport wird attestiert, eine „säkulare Religion“ zu sein, was sich am Olympismus leicht nach-weisen lässt, haben doch Pierre de Coubertin und andere Repräsentanten der Olympischen Bewegung dem Sport explizit religiöse Funktionen zugewiesen (vgl. Koch 2002, p. 93ff.). Insofern liegt die Vermutung nahe, dass eine starke Identifikati-on mit dem Sport mit einer gewissen Distanz zu den „eigentlichen“ ReligiIdentifikati-onen einhergeht.

üben. Da viele Sportarten nach dem Geschlecht getrennt betrieben werden, ist auch nicht auszuschliessen, dass der organisierte Sport für ausländische Frauen aus traditionalen Ethnien sogar leichter zugänglich ist als andere institutionelle Formen der Freizeitgestal-tung. Ebenso wenig kann ausgeschlossen werden, dass bestimmte Gruppen von jungen Ausländerinnen, nämlich solche mit tiefem Bildungsstatus und fehlenden Möglichkeiten der Nutzung von alternativen Statuslinien, besonders schlecht integriert sind.

Neben dem Geschlecht werden wir dem Bildungsstatus und der nationalen Herkunft (Staatsangehörigkeit) der Jugendlichen bei allen Analysen Rechnung tragen. Im Falle der Bildung erwarten wir mit wachsendem Status eine lineare Zunahme der Werte auf allen Integrationsfaktoren. Die höchsten Integrationswerte vermuten wir bei den Gymnasias-tinnen und Gymnasiasten, die tiefsten bei den Anlehrlingen. Im Falle der Nationalität erwarten wir Unterschiede in Abhängigkeit vom Herkunftsland der Jugendlichen. Grund-sätzlich gehen wir jedoch davon aus, dass unsere Fragestellungen für ausländische und schweizerische Jugendliche gleichermassen Geltung haben. Denn die gesellschaftliche Integration ist nicht nur eine Frage des Ausländerstatus, sondern betrifft jedes Indivi-duum, das Mitglied einer (modernen) Gesellschaft ist. Neben der nationalen Herkunft der Jugendlichen werden wir auch ihren Immigrationsstatus (erste oder zweite Generation), den sozioökonomischen Status der Herkunftsfamilie sowie von Fall zu Fall weitere fami-liale Variablen (Unterstützung durch die Eltern, Konflikte in der Familie u.a.) in die Ana-lysen einbeziehen.

Was die Zugänglichkeit der Sportarten anbelangt, ist zu erwarten, dass Fussball (zumin-dest bei männlichen Jugendlichen), aber auch andere Ballsportarten (wie insbes. Hand-ball, Volleyball und Basketball) aufgrund ihrer internationalen Verbreitung besonders leicht zugänglich sind, während Sportarten, die stärker national geprägt sind (im schwei-zerischen Extremfall: Hornussen), kaum von Bedeutung sind, wenn die Frage der sozia-len Integration ansteht. Eher bedeutungslos dürften auch ‚teure‟ Sportarten sein, da die Jugendlichen mit Integrationsproblemen vorwiegend aus sozial benachteiligten Schichten stammen. Aufgrund der vernuteten Geschlechterdifferenzen dürften die so genannten äs-thetischen Sportarten (Turnen, rhythmische Sportgymnastik, Eiskunstlauf, Tanzen u.a.) für weibliche Jugendliche zugänglicher sein als für männliche.

4 Untersuchungsanlage, Stichprobe und Methoden

Die Untersuchung beruht auf einer korrelativen Querschnittstudie. Wesentliche konzeptu-elle und forschungstechnische Grundlagen für die Untersuchung sind in einem Vorprojekt erarbeitet worden (vgl. Herzog, Egger, Neuenschwander & Oegerli, 1998). Dabei handelt es sich insbesondere um eine ausgedehnte Literaturanalyse, die Vertiefung der for-schungsleitenden Konzepte, Interviews mit Personen aus verschiedenen Praxisfeldern zum Zweck der Differenzierung der Konzepte und die Entwicklung des Fragebogens.

Im Folgenden wird die Stichprobenbildung erläutert (Kap. 4.1), die Stichprobe beschrie-ben (Kap. 4.2), die Entwicklung des Erhebungsinstruments dargestellt (Kap.4.3) und das Vorgehen bei der Datenerhebung erläutert (Kap. 4.4).