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Identität - die postmoderne Wiederkehr eines modernen Problems

Selbstinszenierungen junger Frauen und Männer - der empirische Zugang

8. Identität - die postmoderne Wiederkehr eines modernen Problems

„Antonovsky, in particular, has defined alienation, or in his terminology the opposite of ,sense of coherence', as the extent to which a lack of confidence about the manageability, meaningfiilness, and comprehensibility of life permeates one's orientation to life. In terms of the experiences of adolescent alienation, meaningfulness is the most critical of these three components of alienation because it is the search for meaning in the life of adoles-cents that creates, or allows for, the creation of youth subcultures" (Epstein 1998:6).

Dieses Zitat des amerikanischen Jugendkulturforschers Epstein umschreibt in etwa den Stand der hiesigen Identitätsdiskussion (vgl. Keupp et al. 1999):

Der sense o f identity, wie z.B. Heiner Keupp in Abwandlung des sense o f coherence Antonovsky's formuliert (Antonovsky 1987), besteht dann im Vertrauen darauf, dass das Leben bewältigbar (manageable), dass es bedeu-tungsvoll (meaningful), dass es subjektiv verständlich (comprehensible) i s t8 6. Alle drei haben geschlechtsspezifisch und im Hinblick auf die biografische Entwicklung freilich unterschiedliche Bezugspunkte, so dass auch Kohärenz als das diese drei Aspekte Umfassende sich auf Unterschiedliches beziehen kann.

Dieses Kohärenzgefühl wird um so wichtiger, je vielfältiger und grund-sätzlicher die realen Kontingenzerfahrungen werden. Keupp et al. geben somit eine handlungs- und identitätstheoretische Antwort auf die in der Tat offene Frage, wie die von Zygmunt Bauman (2001) eindrücklich beschriebe-ne postmoderbeschriebe-ne Lebenssituation überhaupt aushalt- und bewältigbar ist: Der fundamentalen Unsicherheit und Ungewissheit, die mit der Entwicklung zur späten Moderne in alle Aspekte des Lebens hineingreift, und die Identität erst zu einer Frage werden läßt, begegnen die Subjekte mit Handlungen, die Sinnzusammenhänge herstellen und damit ein Gefühl von Kohärenz möglich machen. Beispiele hierfür finden sich bereits in den voranstehenden Kapiteln zum Körper, zum Raum, insbesondere jedoch zu den Gemeinschaftsformen.

Dieses Gefühl von Kohärenz ist eine sehr vorsichtige Formulierung, in der die ganzen Zweifel an traditionellen Vorstellungen von Identität aufge-hoben sind. Sie beschränkt sich darauf, eine Gefühlsbasis für die je individu-ell zu leistende „Identitätsarbeit" (Keupp 1997) zu benennen. Dieses Han-deln ist es eigentlich, das dann für das Subjekt den Zusammenhang stiftet, relativ unabhängig von seinen konkreten Bezugspunkten, relativ unabhängig sogar von seinen konkreten Ergebnissen. Es reicht, dass hierbei by doing -Identitätsrelevantes entsteht. Was jeweils identitätsrelevant ist, bemißt sich

86 Vgl. zum Salutogenese-Modell des amerikanisch-israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky und dessen zentraler Aussage, dass der Erhalt von Gesundheit sich dem Kohä-renzgefühl verdanke, die hervorragende Expertise von Bengel et al. 1998.

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allein an subjektiven Kriterien, kann also nur von den jungen Frauen und Männern selbst entschieden werden.

Dieses Gefühl von Kohärenz kann in unterschiedlichen biografischen Situationen für unterschiedliche Fragen wichtig sein: in Übergangssituatio-nen als Gefühl des Zusammenhangs im Hier und Jetzt, als Zuversicht, dass verschiedene Lebensbereiche nicht „auseinanderfallen", dass zum Beispiel zwischen der Ausbildung bzw. Erwerbsarbeit und sonstigen Ansprüchen an das Leben keine unüberbrückbaren Widersprüche auftreten (allenfalls Kon-traste, die „manageable" sind), dass ich mit dem, was ich kulturell, politisch, sozial etc. verwirklichen will, nicht herausfalle aus meinen sonstigen sozialen Kontexten (es sei denn, ich will bewußt Kontraste setzen, und es geht auch um den Distinktionsgewinn). Zu anderen Zeiten kann anderes wichtig wer-den bzw. in wer-den Vordergrund treten. Z.B. ein biografisches Zusammen-hangsgefühl, das es möglich macht, die verschiedenen Stationen des bisheri-gen Lebens im Zusammenhang zu sehen, so dass sie - im Rückblick - einen ,Sinn' ergeben und im Hinblick auf die Zukunft das Vertrauen entsteht, die eigenen Geschicke weiter irgendwie „managen" zu können. Manageability hat daher genauso wie comprehensibility und meaningfulness eine emotio-nale Komponente.8 7

Wie gesagt: Dieses Gefühl kann durch unterschiedliche Erlebnisse in unterschiedlichen Lebensbereichen hervorgebracht werden, weil für Subjekte - unterschiedlich voneinander und auch je nach Lebensphase und Lebenslage - Unterschiedliches identitätsrelevant wird. Es gibt biografisch wechselnde und nach Geschlecht mit unterschiedlichen Relevanzen besetzte Felder der Identitätsarbeit. Und mit diesem - so angemessenen wie besetzten - Begriff der Arbeit ist wiederum ein offener Prozeß zu verstehen, und nicht etwa ein Weg, der auf eine stabile Identität zuläuft. Gleichwohl hat diese Identitätsar-beit nichts Beliebiges: sie ist aus der Subjektperspektive das Handeln, das den inneren Zusammenhang stiftet und Identitätsrelevantes erzeugt. Prozeß heißt hier: Brüche und Kehrtwenden sind eingeschlossen, und in diesem Falle bedeutet Identitätsarbeit auch, diese als Teile des Lernpozesses und der persönlichen Weiterentwicklung zu begreifen und zu bewältigen.

Identitätsarbeit ist dabei vor allem Vermittlungsarbeit: zum Beispiel, worauf Stewart Hall (1987) hingewiesen hat, die Vermittlung zwischen In-nen und Außen, sprich: zwischen subjektiv-persönlichem BinIn-nenraum und den diversen äußeren Selbsten, die innerhalb der (hegemonialen) Ausdrucks-politiken (politics o f articulation, Hall 1987) entstehen und zu denen man sich in Beziehung setzt bzw. setzen muß. Diese Vermittlungsarbeit mußd von jungen Frauen und Männern auf je spezifische Weise geleistet werden; sie

87 Dies hat Aaron Antonovsky deutlich gemacht, indem er in den dreien wichtige Grundkom-ponenten des Kohärenzgefühls sah. Und es ist das Verdienst Heiner Keupps und seiner Mitarbeiterinnen (vgl. Keupp/Höfer 1997, Keupp et al. 1999), die Überlegungen Anto-novsky's für die aktuelle Identitätsdiskussion fruchtbar gemacht zu haben.

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wird eine umso komplexere Angelegenheit, als junge Frauen und Männer in unterschiedlichste soziale Zusammenhänge eingebunden sind, also über ver-schiedene „Mitgliedschaften" (Wenger 1998) verfügen. In diesen entwickeln sie unterschiedliche „Teilselbste", die sie in ein dynamisches - keineswegs jedoch harmonisches - System (Bilden 1997) integrieren müssen.

„Alltägliche Identitätsarbeit hat die Aufgabe, die Passungen (das matching) und die Ver-knüpfungen unterschiedlicher Teilidentitäten vorzunehmen" (Keupp 1997:34f).

Dies bedeutet unter spätmodernen Bedingungen ein je nach dem passendes Zusammensetzen von Bausteinen, ein „Identitätsbasteln" (Hitzler/Honer

1994), ein „Identitätssampling" (Klein 1999:50), mit dem Ergebnis von

„Patchwork-Identitäten" (Keupp 1997). Doch so frei, wie es anklingt, ist dieses Basteln nicht. Es ist bei genauerem Hinsehen in keiner Hinsicht frei.

Zum einen ist da der in der (späten) Moderne grundsätzliche gesellschaftli-che Auftrag, sich diese Identität aktiv herzustellen:

„To put it in a nutshell, ,individualization' consists in transforming human ,identity' from a ,given' into a ,task' - and charging the actors with the responsibüity for performing that task and for the consequences (also the side-effects) of their Performance; in other words, it consists in establishing a ,de jure' autonomy (though not necessarily a de facto one)"

(Bauman 2 0 0 1 : 1 4 4 , Hervorh. B.S.).

Zum anderen findet diese Identitätsarbeit unter Bedingungen statt, die immer auch Machtverhältnisse spiegeln - Machtverhältnisse zwischen den Ge-schlechtern, zwischen Mehrheits- und Minderheitenkulturen, zwischen unter-schiedlichen Ressourcenlagen:

„Qualität und Ergebnis dieser Arbeit findet in einem machtbestimmten Raum statt, der schon immer aus dem Potential möglicher Identitätsentwürfe bestimmte behindert bezie-hungsweise andere favorisiert, nahelegt oder gar aufzwingt. (...) Insofern konstruieren sich Subjekte ihre Identität nicht in beliebiger und jederzeit revidierbarer Weise, sondern versu-chen sich in dem, w a s ich Gefühl von Identität genannt habe, in ein ,imaginäres Verhältnis zu ihren wirklichen Lebensbedingungen' zu setzen (Althusser 1973)" (Keupp 1997: 34).

Indem sich zum Beispiel junge Frauen und Männer in ein imaginäres Ver-hältnis zu ihren realen Übergangsbedingungen setzen (vgl. hier das Bild der

„imaginären Lösungen"), werden „Normalitätshülsen oder Symbolisierungen von alternativen Optionen, Möglichkeitsräumen oder Utopien" (Keupp 1997:35) wichtig: sie geben den Bezugsrahmen ab für die Identitätsarbeit, die sich - adaptierend oder distanzierend - zu ihnen verhält. Oder Teile hieraus adaptiert, andere verwirft. Daß dies kein machtfreier Raum ist, spiegelt sich auch in Identitätszwängen (Hall 1987; Rief 2001), namentlich im Hinblick auf normierte Zweigeschlechtlichkeit (Fräser 2000, Hagemann-White 1993).

So wird begreifbar, wie sich gesellschaftliche Verhältnisse wie z.B. das Ge-schlechterverhältnis mit und durch subjektives Handeln reproduzieren - nicht eins zu eins, sondern in einer permanenten, durch Frauen und Männer geleisteten Be und Verarbeitung. Struktur und Handeln werden hier in einer

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durchaus ergebnisoffenen - Weise vermittelt. Bereits in der Verfügbarkeit von Ressourcen, die hierzu nötig sind, bildet sich ein Machtverhältnis ab, das bearbeitet, auf diese Weise jedoch nicht aus der Welt geschaffen werden kann. Umso wichtiger wird es, gerade diesen Ressourcenzugang im Blick zu behalten:

„Die Aufforderung, sich selbstbewußt zu inszenieren, hat ohne Zugang zu den erforderli-chen Ressourcen etwas Zynisches" (Keupp et al. 1999: 53).

Oder, mit Nancy Fräser: eine Identitätspolitik bzw. eine „reine" Politik der Anerkennung braucht als notwendiges Pendant eine Politik der gleichen Rechte und Zugangschancen (Fräser 2000). Zygmunt Bauman formuliert diesbezüglich ganz klar: ohne vollständige citizenship sind diese Vorausset-zungen nur halbherzig erfüllt:

„The ,individual de jure' cannot turn into the ,individual de facto'' without first turning into the Citizen" (Bauman 2 0 0 1 : 108).

Was die nötigen Voraussetzungen für Identitätsarbeit anbelangt, so sehen Keupp und Mitarbeitende eine erste darin, dass - mit Bourdieu - bestimmte Kapitalien in andere Kapitalsorten transferiert werden - zum Beispiel kultu-relles in soziales Kapital. Eine zweite Voraussetzung besteht darin, Kapitali-en in idKapitali-entitätsrelevante RessourcKapitali-en zu übersetzKapitali-en: in einKapitali-en Optionsraum, in eine soziale Relevanzstruktur, oder in eine Bewältigungsressource (Keupp et al. 1999:202). Vor dem Hintergrund der Interviewaussagen leuchten diese drei „Übersetzungskategorien" unmittelbar ein: Die befragten jungen Frauen und Männer entwickeln sich Optionsräume für mögliche Identitätsentwürfe -etwa durch signifikante Andere, die sie in ihrer jugendkulturellen Szene treffen, oder die sie selbst für andere darstellen, oder durch das Erproben ihrer gestalterischen Fähigkeiten in diesen Möglichkeitsräumen. Sie entwik-keln eine soziale Relevanzstruktur, die nicht nur bestimmte (distinkte) Be-wertungsmuster bereitstellt, sondern, was für Identitätsarbeit konstitutiv ist, auch eine bestimmte jugendkulturell modulierte Form der sozialen Anerken-nung. Schließlich schaffen sie sich durch ihre soziale Infrastruktur ein Netz gegenseitiger Bestärkung und Unterstützung, die als Bewältigungsressource wichtig werden kann. Mit diesen Übersetzungskategorien werden materielle Ressourcen genauso wichtig wie soziale Ressourcen, Fähigkeit zum Aushan-deln genauso wichtig wie individuelle Gestaltungskompetenz (zum Beispiel bei der „Selbsterzählung", die es zu gestalten gilt, ebd. 209ff). Vor allem im Zusammenhang mit dieser Gestaltungskompetenz wird die Notwendigkeit symbolischer Ressourcen deutlich: um ein Verhältnis zu den realen Lebens-bedingungen aufzubauen (imaginär oder nicht), und um eine Identitäts-Performance hervorzubringen (Bauman 2001:144), braucht es Symbole, Zeichen, kulturelle, ästhetische, körperliche und sprachliche Ausdrucksfor-men. In der Focussierung auf die Handlungsform der Selbstinszenierungen geht es genau um diesen Zusammenhang zwischen Darstellbarkeit (und ihren 181

strukturellen Voraussetzungen) und den (spät-)modernen Formen der Identi-tätsarbeit, mehr noch: des (spät-)modernen Seins-in-der-Welt.

Bevor ich auf diesen Grundzusammenhang näher eingehe, noch einmal zurück zur Aussage des Eingangszitats, nach der meaningfulness gerade für junge Männer und Frauen die kritischste Variable in diesem filigranen

Ge-fühlsgeflecht der Kohärenz darstellt. Dies ernstgenommen, werden all die Ereignisse und sozialen Zusammenhänge, die Bedeutung generieren, in be-sonderem Maße identitätsrelevant. Welche das jeweils sind, kann nur das betreffende Subjekt sagen, oder besser: spüren. Gerade in den Übergängen junger Frauen und Männer können dies die unterschiedlichsten und auch (aus Erwachsenenperspektive) entlegensten Ereignisse, Rückmeldungen, Begeg-nungen sein. Um hier die Abwertung von real (d.h. subjektiv) Identitätsrele-vantem zu vermeiden, will ich darauf verzichten, die bekannten Zentralberei-che wie etwa familiäre Beziehungen, Liebesbeziehungen, Freundschaftsnetze und Arbeit getrennt zu analysieren. Denn bei solchem Sortieren von identi-tätsrelevanten Lebensbereichen geraten die Zusammenhänge und Über-schneidungen, in denen und durch die sie relevant werden, schnell aus dem Blick. Gerade auf letztere soll hier jedoch die Aufmerksamkeit gerichtet werden, weil sie subjektive Relevanzen zum Ausdruck bringen. Bestätigt wird dies durch eigene empirische Erfahrungen aus Interviews mit Mädchen und jungen Frauen: die zentralen Aussagen liegen häufig in den Überschnei-dungen von unterschiedlichen Bereichen (wie etwa Berufswahl und Regio-nalbezug, Lebensentscheidungen und Beziehungen zu den Eltern) - ein Be-fund, der natürlich nur dadurch zustande kommt, dass diese Bereiche vorab thematisch getrennt wurden. Aus der Binnensicht des Subjekts stehen sie jedoch in einem engen Zusammenhang. Auch Ball et al. (2000) stellen in

ihrer Untersuchung fest, dass in manchen Erzählungen ihrer Befragten

„the boundaries between the social life / seif and work life / seif are unclear. They overlap, they become blurred, they construct and constitute identity" (Ball et al. 2000:297).

Womöglich entsteht genau in diesen overlaps, in diesen Überschneidungsbe-reichen, das Gefühl von Kohärenz: sobald unterschiedliche Lebensbereiche und Ausdrucksformen aufeinander verweisen, sobald sie füreinander quasi symbolische Qualität bekommen, können sie Träger von Sinn in dieser ba-lancierenden Identitätsarbeit werden.

Wird also versucht, auf solche Trennungen zu verzichten, dann rückt zum Beispiel in den Blick, dass der Beruf nicht nur isoliert „als solcher"

wichtig ist, sondern weil mit dem Beruf auch noch etwas für die Szene, für sich selbst in der Szene, für die regionale Infrastruktur, für die eigene Wei-terentwicklung, die Weiterentwicklung des Geschmacks, der jugendkultu-rellen Stilentwicklung, für persönlichen Erfolg, für Anerkanntsein in der Szene, in der Region, in der Familie etc. getan werden kann. Das Szeneenga-gement wie zum Beispiel das Veranstalten von Parties ist wichtig, nicht nur, um damit etwas für eine Szene zu tun, und dafür, dass in der Region „etwas 182

geht", sondern auch aus einem persönlichen Interesse heraus: um Raum für die eigenen Interessen zu organisieren - und um gleichzeitig und hiermit überlappend Anerkennung für sich selbst zu organisieren. Einen Laden zu eröffnen nicht nur als Existenzgrundlage, sondern weil hiermit ein ganz be-stimmter (eigener) Beitrag zum Style-Programm einer Szene geleistet werden kann, weil mitgestaltet, mitgedacht, mitkreiert werden kann.

Von solchen Überschneidungen will ich also ausgehen, wenn ich von Identitätsrelevanz spreche. Auch für Verstehbarke it und Gestaltbarkeit als den beiden anderen bei Antonovsky für das Kohärenzgefühl zentralen Kate-gorien läßt sich die Bedeutung solcher Überschneidungen zeigen. Fragen wie: Warum wird etwas verständlich? Warum wird etwas gestaltbar? Wie bekommt etwas Sinn? Finden ihre Antworten zumeist nicht in demselben Lebensbereich, für den sie gestellt wurden, sondern verweisen auf angren-zende oder unerwartet andere Lebensbereiche. Mithin verweigern sich auch Verstehbarkeit und Gestaltbarkeit der Zuteilung zu Lebensbereichen, auch hier sind es oft gerade die Überschneidungen, die Zusammenhänge subjek-tiv-biografisch verstehbar und gestaltbar machen. Im Nachhinein findet sich in diesen Überschneidungen noch einmal eine Bestätigung für die Erkennt-nismöglichkeiten, die in einer qualitativen Forschungsmethode liegen: nur durch eine solche Form der Datenerhebung und -auswertung kann die Be-deutung der Überschneidungen überhaupt zum Vorschein kommen. Das Herausarbeiten der Qualität solcher symbolisch-realen (emotionalen) Zu-sammenhänge entspricht dem im Theoriekapitel formulierten Anspruch, patriarchale Trennungen und Dualismen zu vermeiden.

Wichtig in der Untersuchung von Identitätsrelevanzen bleibt das klare Bewußtsein einer Außenperspektive und ihrer Beschränkungen: Identitäts-balancen (vgl. Krappmann 1969) sind eine hochgradig biografisch gebunde-ne Angelegenheit, und das, was biografische Relevanz bekommen kann, ist sehr vielfältig und muß von außen nicht „einsichtig" sein (vgl. Thornton 1997). Der Grundgedanke im Hinblick auf jugendkulturelle Zusammenhänge ist vielmehr: sie stellen Bedeutungen her und können identitätsrelevant im Sinne des Kohärenzgefühls werden. Und hierbei ist es nicht entscheidend, ob diese Bedeutung kurzfristig sind oder sich zu einem längerfristigen jugend-kulturellen Engagement entwickeln. Auch kurzfristige „Bedeutungsphasen"

können identitätsrelevant werden, wenn sie zum Beispiel von einem Punkt des Übergangs zum nächsten eine sinnvolle Brücke herstellen (vgl. Grano-vetter 1977), oder für eine bestimmte Phase Halt geben oder Orientierung bieten. Oder wenn hierbei Begegnungen mit significant others stattfinden.

Oder sich eine entscheidende Wendung im Selbstbezug, im Körperbezug vollzieht. Oder plötzlich wieder ein „Kick" da ist:

„Techno hat mich aus einer Sackgasse rausgeholt. Mich hat eigentlich nichts mehr gekickt, in dem Sinne. Ich hab gedacht: was soll jetzt noch kommen, was soll noch Spaß machen.

Es war irgendwie alles abgelutscht. D i s c o gehen, gut, und hin und wieder gibt es nette

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Feste. Aber es ist halt schon extrem, Techno. Es bringt einfach Power in Dein Leben, ein Gegengewicht zum organisierten Alltag. Abenteuer schon fast. Es öffnet Dir einfach - jetzt könnt' ich richtig ausschweifen...Ha ja, daß es nicht begrenzt ist, es gibt immer wieder Neues, das bedeutet für mich Techno" (Drum, m., 31 J., 2. S., 12).

8.1 Identität und Darstellbarkeit: Die Klammer um Disparates

Mit einem handlungs- und interaktionstheoretischen Zugang zum Thema Identität und dem Begriff der Identitätsarbeit wird es möglich, auch Selbstin-szenierungen als Identitätsarbeit zu beschreiben. In der Art und Weise, wie junge Frauen und Männer sich selbst darstellen - verbal, in ihren

Selbster-zählungen, oder auch im gestischen, körperlichen Ausdruck, in ihren „Auf-tritten", stellen sie ein Kohärenzgefühl her. Kohärenz wird durch dieses spe-zifische Ausdruckshandeln immer wieder neu hervorgebracht. Auf einer ganz grundsätzlichen Ebene wird dieses Ausdruckshandeln („expressivism") bei dem Sozialphilosophen Charles Taylor zu einem Charakteristikum des (spät-) modernen Individuums schlechthin (Taylor 1981:61), was der Realität (spät-) moderner Lebenslagen und (spät-) moderner Übergänge entspricht. „Expres-sivism" ist also nicht nur das, was die Subjekte in ihrer Bewältigungskom-petenz auszeichnet, sondern auch das, was die gesellschaftlichen Strukturen ihnen abverlangen. Indem Jugendkulturen Gelegenheiten hierfür herstellen, antworten sie implizit auf diese gesellschaftliche Anforderungsstruktur.

Diejenigen jungen Frauen und Männer, die sich aktiver in jugendkultu-rellen Settings engagieren, die also aktiv dafür sorgen, dass eine Jugendkul-tur lebt, stellen quasi die Basis für Identitätsrelevanzen her - und zwar nicht nur für sich selbst, sondern eben auch für andere. Hier bekommt der Gid-dens'sche Gedanke der Dualität von Struktur eine neue Wendung: Strukturen für die einen basieren auf dem Handeln der anderen. Indem also zum Bei-spiel diese aktiven jungen Frauen und Männer sich ein Bühne für ihre Selbstinszenierung schaffen, stellen sie auch für andere eine her. Indem sie ständig die Repertoires der Darstellungsmöglichkeiten erweitern, können auch andere diese erweiterten Ausdrucksmöglichkeiten nutzen. In dem, wie sie sich inszenieren, stellen diese Macher und Macherinnen häufig auch role-models für andere jungen Frauen und Männer bei der Ausgestaltung ihrer Geschlechterrollen dar. Sofern es ihnen gelingt, Bedeutsamkeit herzustellen, z.B. durch Symbole oder einfach durch ihr Handeln - als DJ, als Modebera-terin, als VeranstalModebera-terin, schaffen sie Bezugsmöglichkeiten für andere.

Selbstinszenierung und Darstellbarkeit sind die Klammer um verschiedene identitätsrelevante Aspekte, welche im folgenden genauer erarbeitet werden.

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8.2 Identität und Zugehörigkeit: Selbstsichten als vielfältig Dazugehörende

Dadurch, dass Individuen zumeist in verschiedene, kurz- oder längerfristige Handlungsgemeinschaften involviert sind und von „vielfältigen Mitglied-schaften" (Melucci 1992; Wenger 1998) auszugehen ist, entsteht die Anfor-derung der Vermittlung und des Vereinbarens.

„..multimembership is not just a matter of personal identity. The work of reconciliation is a profoundly social kind of work. Through the creation of the person, it is constantly creating bridges - or at least potential bridges - across the landscape of practice. And yet, the work of reconciliation can easily remain invisible because it may not be perceived as part of the enterprise of any C o m m u n i t y of practice" (Wenger 1 9 9 8 : 1 6 1 ) .8 8

Diese unsichtbar bleibende Vereinbarkeitsarbeit will ich hier im Kontext von Individualisierung verstehen: Sie findet statt unter individualisierten Bedin-gungen, als Aufgabe, die gesellschaftlich kaum gesehen wird (außer in pro-minenten Beispielen wie der „Vereinbarkeit von Familie im B e r u f ) , ge-schweige denn, dass es für sie Anerkennung in Form einer strukturellen Er-möglichung g i b t8 9. Hier wird der Arbeits-Aspekt der Identitätsarbeit greif-bar: das Vereinbaren ist eine aktive Vermittlungsleistung, oft gegen Wider-stände und über Hürden hinweg - denn die unterschiedlichen Welten und Zusammenhänge, in die die jungen Frauen und Männer involviert sind, fol-gen zumeist unterschiedlichen Logiken. Sie zu vermitteln heißt nicht, sie

Diese unsichtbar bleibende Vereinbarkeitsarbeit will ich hier im Kontext von Individualisierung verstehen: Sie findet statt unter individualisierten Bedin-gungen, als Aufgabe, die gesellschaftlich kaum gesehen wird (außer in pro-minenten Beispielen wie der „Vereinbarkeit von Familie im B e r u f ) , ge-schweige denn, dass es für sie Anerkennung in Form einer strukturellen Er-möglichung g i b t8 9. Hier wird der Arbeits-Aspekt der Identitätsarbeit greif-bar: das Vereinbaren ist eine aktive Vermittlungsleistung, oft gegen Wider-stände und über Hürden hinweg - denn die unterschiedlichen Welten und Zusammenhänge, in die die jungen Frauen und Männer involviert sind, fol-gen zumeist unterschiedlichen Logiken. Sie zu vermitteln heißt nicht, sie