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5 Einstimmung: Vorarbeiten zum Thema und Ausblick

6.1 Psychische Störungen und Verhaltensstörungen: Prävalenz und

6.1.1 Hintergrund

Psychische Störungen und Verhaltensstörungen von Kindern und Jugendlichen sind allgegenwärtig und mit einer hohen Krankheitslast verbunden. Ihre Public Health Rele-vanz wird bei der Betrachtung der damit verbundenen erheblichen Einschränkungen auf funktioneller und partizipativer Ebene deutlich, z. B. in schulischen Leistungen (Msall et al., 2003), der hohen Raten komorbider Störungen (Evans-Lacko et al., 2009)

und des Risikos bis in das Erwachsenenalter bestehen zu bleiben (Costello et al., 2011).

Die Erforschung der Krankheitslast stellt weltweit eine Herausforderung dar. Vor allem die Datenerfassung für epidemiologische Studien ist mit Schwierigkeiten verbunden (Belfer, 2008). Methodische Faktoren verursachen eine große Variabilität in den Er-gebnissen epidemiologischer Studien über psychische Störungen und Verhaltensstö-rungen bei Kindern und Jugendlichen. Zu diesen Faktoren gehören beispielsweise Probleme bezüglich der Falldefinition oder des Studiendesigns (Barkmann & Schulte-Markwort, 2010; Roberts et al., 1998). Außerdem deuten die teilweise unterschiedli-chen Ergebnisse epidemiologischer Studien auf begrenzte Beurteilerübereinstimmun-gen und Rater-spezifische Ergebnisse (Bettge et al., 2008). Vor dem Hintergrund, dass ICD-10 Diagnosen teilweise weder für Kinder und Jugendliche entwickelt oder validiert wurden, erscheint es problematisch, dass diese Diagnosen wie zum Beispiel für de-pressive Episoden, bei Kindern Anwendung finden. Außerdem spielen die festgelegten Schwellenwerte in Fragebogenerhebungen, die sogenannten cut-offs, eine Rolle bei der Trennung zwischen “normalen” und “auffälligen” Kindern und Jugendlichen. Das gleiche gilt für die Frage, ob die funktionelle Beeinträchtigung für die Anwesenheit einer Störung berücksichtigt wurde (Barkmann & Schulte-Markwort, 2010; Bettge et al., 2008; Costello et al., 2005; Ravens-Sieberer et al., 2008b). Die Strategie der Falldefini-tion ist ein besonders beachtenswerter methodischer Einflussfaktor, da die OperaFalldefini-tiona- Operationa-lisierung von psychischen Störungen und Verhaltensstörungen generell auf zwei ver-schiedenen Taxonomien basiert: Auf der einen Seite die statistische Taxonomie, die eine dimensionale Klassifikation psychischer Störungen und Verhaltensstörungen um-fasst und auf multivariaten Analysen basiert und auf der anderen Seite die klinische Taxonomie, die auf eine kategorische Konzeption aufgebaut ist. Die statistische oder auch verteilungsorientierte Falldefinition basiert auf den Werten von Skalen, die eine Vielzahl von Symptomen erfassen und häufig durch die Anwendung eines Fragebo-gens erhoben werden und so das Maß widerspiegeln, in dem Individuen eine Psycho-pathologie manifestieren. Schließlich unterscheiden sogenannte cut-off Werte zwi-schen positiven und negativen Screeningergebnissen und bilden einen Schwellenwert an, um falsch positive Ergebnisse zu verhindern.

Die klinische Taxonomie und Klassifikation nach ICD-10 Kriterien auf der Grundlage von aufgelisteten klinischen Symptomen wurde von der WHO entwickelt, um psychi-sche Störungen und Verhaltensstörungen zu definieren. Das ICD-10 Klassifikations-system ist eine üblicherweise und international angewandte diagnostische Leitlinie

(WHO, 1993). Ein Überblick über diese Taxonomien wurde auf interkultureller Ebene von Verhulst & Achenbach (1995) erstellt. Während kleine Unterschiede zwischen den Anteilen an Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen und Verhaltensstö-rungen gefunden wurden, konnte der Vergleich eine insgesamt gute Übereinstimmung beider Taxonomien zeigen. Quay et al. (1987) verglichen ebenfalls beide Strategien in ihrem Review über die Psychopathologie bei Kindern und betonten die Wichtigkeit, Taxonomien zu untersuchen und zu bilden (Quay et al., 1987; Verhulst & Achenbach, 1995). Die klinische und die statistische Taxonomie sind nicht in dem Ausmaß konver-gent, als dass sie einander ersetzen können. Beide Herangehensweisen werden benö-tigt und eine Kombination wird empfohlen, wenn eine Klassifikation von psychischen Störungen und Verhaltensstörungen vorgenommen wird (Kasius et al., 1997). Darüber hinaus haben beide Strategien Stärken und Schwächen:

Aufgrund des hohen Arbeits- und Zeitaufwands, den die Definition von psychischen Störungen und Verhaltensstörungen im Zusammenhang mit ihrer komplexen Erschei-nung und Wahrscheinlichkeit für Koerkrankungen mit sich bringt, erfordert die Definiti-on einen komplizierten diagnostischen Prozess und nur ein kleiner Anteil an Bevölke-rungsstudien zur Prävalenz nutzt deswegen die klinische Taxonomie unter Verwen-dung von ICD-10 Kriterien. In der Mehrheit dieser Studien werden Fragebögen einge-setzt, denn ihre Anwendung ist in großen Samples besser realisierbar (Barkmann &

Schulte-Markwort, 2010; Barkmann, 2003; Costello et al., 2005; Ravens-Sieberer et al., 2007).

Bisherige Forschungsarbeiten haben eine eingeschränkte Generalisierbarkeit von Screening-Instrumenten und der Falldefinition hervorgehoben, die sich auf cut-off-Werte begründet (Ravens-Sieberer et al., 2007) und damit den Bedarf an standardi-sierten klinischen Interviews für die Befundung von ICD- oder DSM-Diagnosen aufge-zeigt (Barkmann & Schulte-Markwort, 2010).

Auf internationaler Ebene bestehen einige Forschungsarbeiten, welche die Prävalenz von psychischen Störungen und Verhaltensstörungen von Kindern und Jugendlichen behandelt haben. So berichteten Roberts et al. (1998) von einem klaren Einfluss der verwendeten Methode zur Falldefinition auf die Prävalenzraten, nachdem sie 52 Stu-dien aus 20 Ländern überprüft hatten. Die Gesamtprävalenz für psychische Störungen und Verhaltensstörungen lag insgesamt bei 15,8%, bei 8% für Vorschulkinder, 12% für präadoleszente Kinder und 15% für Jugendliche. Die Mehrheit der Strategien zur Fall-definition konnte auf Interviews und Fragebögen in Anlehnung an die von Rutter entwi-ckelten Methoden zurückgeführt werden. Außerdem wurden häufig III und

DSM-III-R Kriterien verwendet, es berichtete jedoch keine Studie von Ergebnissen, die auf ICD-10 Kriterien beruhten (Roberts et al., 1998). Eine aktuellere Übersicht der häufigs-ten psychischen Störungen und Verhalhäufigs-tensstörungen der Autorengruppe um Costello (2011) bezog sich auf Studien, denen vielmehr psychiatrische Diagnosen als die vertei-lungsorientierte Definition von Fällen zugrunde lagen. Daraus ging hervor, dass bei 10,7% der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren eine Angststörung vorlag, De-pression bei 6,1% und eine der definierten Verhaltensstörungen wie die Störung des Sozialverhaltens, eine Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten oder eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung bei 3% bis 4%. Die meisten Stu-dien basierten dabei auf der Taxonomie der DSM-III-R oder DSM-IV, nur eine Studie ging auf die Definition von Fällen über ICD-10 Kriterien zurück (Costello et al., 2011).

Die aufgeführten Forschungsarbeiten umfassten bis dahin keine deutschen Studien, wurden jedoch 2010 von Barkmann & Schulte-Markwort in einer umfassenden Meta-Analyse systematisch untersucht. Die Ergebnisse konnten zeigen, dass emotionale Störungen und Verhaltensstörungen bei deutschen Kindern und Jugendlichen der in-ternationalen Studienlage entsprechen, während die Mehrheit ebenfalls auf der An-wendung von Fragebögen zur Erhebung der untersuchten Störungen gründete. Dem-entsprechend zeigt jedes sechste Kind oder Jugendliche Symptome von psychischen Störungen und Verhaltensstörungen (Barkmann & Schulte-Markwort, 2010).

Aus der großen bevölkerungsbasierten, nationalen deutschen BELLA-Studie gingen beachtliche Prävalenzraten auf der Basis von Elternurteilen hervor, denen ein hoher Einfluss auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten nachgewiesen werden konnte (Ravens-Sieberer et al., 2008a) und zugleich konnte von einem relativ niedrigen Behandlungsbedarf nach Ein-schätzung der Eltern berichtet werden (Ravens-Sieberer et al., 2008b). Fragebogener-hebungen ergaben, dass 20,9% der Kinder und Jugendlichen zwischen 7 und 17 Jah-ren Symptome allgemeiner psychischer Störungen und Verhaltensstörungen aufwei-sen. Dabei lagen bei 7,6% Störungen des Sozialverhaltens, bei 5,4% Depressionen und bei 10,0% Angststörungen vor (Ravens-Sieberer et al., 2007). Döpfner et al.

(2008) berichteten Prävalenzraten von ADHD und HD auf der Basis von sowohl DSM-IV als auch ICD-10 Kriterien durch die Zuordnung von Fragebogenkriterien zu den Di-agnosekriterien. Die Prävalenz für ADHD lag demzufolge nach DSM-IV Kriterien bei 5% und für die Hyperkinetische Störung nach ICD-10 Kriterien bei 1%. Diese Ergeb-nisse sind vergleichbar mit ErgebErgeb-nissen anderer, auch internationaler Studien (Döpfner

et al., 2008). Während die Mehrheit an Studien auf der Methodik von Fragebogenerhe-bungen beruht, gibt es insgesamt nur wenige auf der Basis von ICD-10 Kriterien.

Es wird deutlich, dass methodische Faktoren Einfluss auf epidemiologische Studiener-gebnisse nehmen. Insgesamt zeigen sich hohe Raten von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen und Verhaltensstörungen und es gibt einen deutlichen Mangel an Prävalenzraten auf der Basis von ICD-10 Kriterien. Morbiditätsschätzungen deuten auf einen hohen Einfluss auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität und ein geringes Bewusstsein für den entsprechenden Behandlungsbedarf. Aus einer interna-tionalen Studie geht hervor, dass nur ein kleiner Anteil von Kindern mit einschränken-den psychischen Störungen und Verhaltensstörungen eine Behandlung erhalten (Costello et al., 2005). Deutsche Untersuchungen geben an, dass etwa 50% der Be-troffenen mit psychischen Störungen und Verhaltensstörungen einen Behandlungsbe-darf haben, hingegen ein beachtlich kleiner Anteil an Kindern und Jugendlichen mit diesen Störungen tatsächlich eine entsprechende Versorgung erhält oder der Behand-lungsbedarf als solcher erkannt wird (Ravens-Sieberer et al., 2008b; Wittchen, 2000).

Die Studienlage zur tatsächlichen Inanspruchnahme der gesundheitlichen Versorgung ist noch dünn (Kamtsiuris et al., 2007a).

Es wird angenommen, dass die Anwesenheit einer einschränkenden Psychopathologie im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen steht und dass Inanspruchnahmeraten ein stellvertretendes Maß für die Anzahl von Kindern und Jugendlichen mit dem höchsten Behandlungsbedarf darstellen (Ford, 2008). Daher werden Diagnosedaten aus dem ambulanten Versorgungssetting benötigt, um die In-anspruchnahme der Versorgung widerzuspiegeln und die Diskussion über das Ausmaß des Bewusstseins über den Behandlungsbedarf von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen und Verhaltensstörungen einzuleiten.

Vor dem Hintergrund, dass die Methoden der Morbiditätsschätzungen im Bereich der psychischen Störungen und Verhaltensstörungen eingehend untersucht werden sollten und es einen Mangel an Informationen zu Raten auf der Basis von ICD-10 Kriterien aus nationalen repräsentativen Samples gibt, ergeben sich folgende Fragestellungen für diese Studie:

1. Wie viele Kinder und Jugendliche erfüllen die ICD-10 Kriterien der klinischen Definition von psychischen Störungen und Verhaltensstörungen in einem gro-ßen bevölkerungsbasierten Sample?

2. Unterscheiden sich die Ergebnisse von Analysen der statistischen Falldefinition auf der Basis des selben Sample?

3. Wie viele Kinder und Jugendliche erhalten ICD-10 kodierte Diagnosen im am-bulanten Versorgungssetting?