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Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht aus dem Blickwinkel der individuellen Arbeitsbeziehungen

IX. Herausforderungen für das Arbeitsrecht

Vielleicht liegt hier eine der Herausforderungen der nächsten Jahre für das Ar-beitsrecht, nicht nur in Deutschland. In welchem Teilgebiet des Arbeitsrechts könnte sie angefasst werden?

An sich wäre in Deutschland die Tarifautonomie zuständig. Ist aber die Tarifau-tonomie in der Lage, existenzsichernde Erträge aus abhängiger Arbeit im Nied-riglohnsektor zu gewährleisten? Die Frage ist für Deutschland zu verneinen. Es besteht ein beträchtliches und, soweit ersichtlich, nicht bestrittenes Funktionsde-fizit der Tarifautonomie im Niedriglohnsektor.30 In Dienstleistungsbereichen mit niedrigen Entgelten, in der Leiharbeit und in den sonstigen Bereichen niedriger Vergütung von Arbeit ist die auf Mitgliedschaft beruhende deutsche Tarifauto-nomie nicht präsent. Ob die in Deutschland von Mitgliederrückgang auf Seiten der Arbeitnehmer und Arbeitgeber gekennzeichnete Tarifautonomie in der ge-genwärtigen gesetzlichen Ausgestaltung in der Lage sein wird, die

30 Instruktiv Monopolkommission, 18. Hauptgutachten 2008/2009, BT-Drs. 17/2600, S. 236 ff.

rungen der Zukunft abseits ihrer starken Verankerung in einigen Bereichen der Wirtschaft (wie namentlich Metall und Chemie) und des öffentlichen Dienstes zu bewältigen, müsste man hinterfragen.

Weil in den Bereichen, die die Tarifautonomie nicht zu gestalten vermag, die niedrigen Entgelte liegen, ist auch in Deutschland eine Diskussion über arbeits-rechtliche Mindestlöhne entstanden. Dass das allgemeine Bürgerliche Recht die hier liegenden Herausforderungen mit seiner Grenzziehung bei sittenwidrigen, insbesondere wucherischen Löhnen (§ 138 BGB) nicht bewältigt, ist nicht zwei-felhaft. Einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn, wie er auch in Japan gilt, gibt es in der Europäischen Union in 20 der 27 Mitgliedstaaten. In Deutschland ist das Thema stärker emotional besetzt als in anderen Ländern. Im Jahr 2009 hat man als Kompromisslösung ein (in anderen Ländern nicht zu findendes) Modell „branchenbezogener“ Mindestlöhne eingeführt, das auf zwei verschie-denen Wegen in jeweils komplizierten Verfahren Tariflöhne erstrecken oder Mindestlöhne festsetzen kann. Das wird absehbar nur zu einem Flickenteppich unterschiedlich hoher Mindestlöhne führen, der längst nicht alle Bereiche er-fasst, in denen die niedrigen Entgelte liegen. Inzwischen arbeiten auch die Re-gierungsparteien an einen Gesetzentwurf für einen flächendeckenden Mindest-lohn. Das ist nicht nur deshalb längst überfällig, weil man fragen muss, ob nicht benötigte und ordnungsgemäß erbrachte Arbeit die Vergütung zu einem Stun-denlohn gebietet, der bei Ausschöpfung der Arbeitskraft die Existenz sichert. Es muss vielmehr durch das Arbeitsrecht ein stimmiges Verhältnis zwischen der Entlohnung im Niedriglohnsektor und dem gesellschaftstypischen Existenzmi-nimum hergestellt sein, welches die sozialrechtliche Grundsicherung abdeckt.

Das zeigt deutlich die in der deutschen arbeitsrechtlichen Diskussion bisher zu wenig berücksichtigte sozialrechtlich gebotene Aufstockung von niedrigen Ar-beitslöhnen und geringen Rentenansprüchen zur Sicherung des Existenzmini-mums. Wenn man das dargelegte Zusammenspiel von Arbeitsrecht und Sozial-recht berücksichtigt, ist ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn nichts anderes als das unverzichtbare Gegengewicht zur marktverzerrenden Kombilohnwirkung der sozialrechtlichen Absicherung des Existenzminimums. Kombilöhne setzen den Mindestlohn voraus. An dieser Stelle, im Arbeitsrecht, liegt die Lösung des soeben skizzierten Problems.

Kurz zusammengefasst: Das deutsche Bürgerliche Recht hatte nie im Sinn, den Vertragsparteien Vorschriften über die im Austauschverhältnis stehenden

Leis-tungsinhalte zu machen. Deshalb lässt auch das Recht der AGB-Kontrolle (§§ 305 bis 310 BGB), das seit 2002 auch im Arbeitsrecht gilt und seitdem Rechtsprechung und Rechtswissenschaft viel beschäftigt, Abreden über den un-mittelbaren Gegenstand der Hauptleistung (im Arbeitsverhältnis also Arbeits-leistung und Entgeltzahlung) kontrollfrei. Das Privatrecht geht aber selbstver-ständlich von der Vorstellung aus, dass die Einzelnen eigenverantwortlich die Existenz sichern. Für die eigenverantwortliche Existenzsicherung hat die Rechtsordnung einen geeigneten Rechtsrahmen zu gewährleisten. Was die Ar-beitsverhältnisse angeht, ist die Gewährleistung dieses Rechtsrahmens Aufgabe des Arbeitsrechts. Arbeitsleistung und Entgeltzahlung die Struktur zu geben, ist in Deutschland dabei traditionell Aufgabe der Tarifautonomie. Deren Funkti-onsdefizit im Niedriglohnbereich macht inzwischen jedoch eine gesetzliche Mindestlohnregelung unausweichlich, um der Privatautonomie zuwiderlaufende Marktverzerrungen durch die sozialrechtliche Absicherung des Existenzmini-mums zu verhindern. Ohnehin gebietet benötigte und ordnungsgemäß erbrachte Arbeit eine ordnungsgemäße und mehr als die nicht sittenwidrige Bezahlung.

X. Ausblick

1. Man wird sagen können, dass wesentliche Herausforderungen des Arbeitsver-hältnisrechts und seines Zusammenspiels mit dem Bürgerlichen Recht im Nied-riglohnbereich und im Bereich der neuen Beschäftigungsformen liegen, nicht nur in Deutschland. Gerade diesen Bereich betrafen ja auch die Arbeitsmarktre-formen der letzten 10 bis 20 Jahre, in Japan, in Deutschland und in vielen ande-ren Ländern. Das führt zu der Frage, mit welchem Modell der Arbeitsbeziehun-gen man auf Dauer, zumal in alternden Gesellschaften, gesellschaftliche Prospe-rität und wirtschaftlichen Erfolg erreichen könnte. Viel spricht dafür, dass ein Modell, welches Existenzsicherung auf privatrechtlicher Grundlage und soziale Vorsorge durch Versicherung verbindet, also das gewachsene Modell, das in Japan und Deutschland ja ähnlich ist, weitaus mehr Zukunftsperspektiven eröff-net als ein Modell mit preiswerter Arbeit, großem Niedriglohnsektor, viel atypi-scher Beschäftigung und versorgungsstaatlicher Unterstützung Vieler zu Lasten der nächsten Generation und der Mittelschicht.31

31 Näher zum hier vertretenen Standpunkt Waltermann, Abschied vom Normalarbeitsver-hältnis? Gutachten B für den 68. DJT 2010, S. 112 ff.

2. Wenn man im System voranschreiten möchte, gehören Gestaltungen im Ar-beitsrecht, die niedrige Erträge aus Arbeit begünstigen, auf den Prüfstand. Vor dem Hintergrund globaler Herausforderungen und der Alterung der Gesellschaft stellt eine Verbesserung der Ertragslage im Niedriglohnsektor Anforderungen über diesen Bereich hinaus. Dazu gehört, dass einfache Dienste, wenn man sie benötigt und nachfragt, eine geordnete Bezahlung finden. Das wird stets auf Leistungskraft und mit ihr verbundene Solidarität angewiesen bleiben. Man müsste erwirtschaften und erarbeiten, dass auch Leute sozusagen mitlaufen kön-nen.

3. Es geht nicht nur um volkswirtschaftliche und politische Fragen. Das zu be-wältigende Problem hat auch eine rechtliche Seite und erfordert die normative Betrachtung und Bewertung. Dabei geht es auch um die Konzeption der Rechts-ordnungen vor dem Hintergrund ihrer Wertmaßstäbe. Der Rechtsvergleich kann die zukunftsgerichtete Gestaltung des Arbeitsrechts dabei sehr fördern.

Tarifvertrag und Privatautonomie in Japan