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H INWEISE AUF EINEN NEUEN T INNITUS -S UBTYP

Im Dokument Tinnitus und Kopfschmerz (Seite 107-110)

Die Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, dass Patienten mit Migräne ihren Tinnitus eher durch somatische Manöver beeinflussen können, vermehrt an Hyperakusis leiden und öfter eine psychiatrische Behandlung in Anspruch nehmen. Des Weiteren fällt auf, dass Patienten mit Tinnitus und Migräne auch gehäuft an somatischen Beschwerden wie Schwindel, Kiefergelenksbeschwerden, Nackenschmerzen und generellen Schmerzen leiden.

Dies lässt vermuten, dass Tinnitus verbunden mit Migräne möglicherweise einen extra Subtyp des chronischen Tinnitus darstellt. Um dieser Vermutung nachzugehen, muss man die jeweilige Pathophysiologie der beiden Symptome genauer betrachten.

Laut Limmroth et al. (2003) kann die Ätiologie der Migräne als komplexes Schmerzsyndrom dank neuer bildgebender Verfahren sowie molekularbiologischer und genetischer

Erkenntnisse der letzten Jahre inzwischen deutlich besser verstanden werden. Die Autoren fassten verschiedene Erkenntnisse hinsichtlich der Pathophysiologie der Migräne zusammen und folgerten, dass die Schmerzentstehung während einer Migräneattacke durch die

Aktivierung des Trigeminovaskulären Systems verursacht werde. Die hierdurch vermittelte Freisetzung vasoaktiver Peptide führe unter anderem zur intrakranialen Vasodilatation. Die Mechanismen, welche das Trigeminovaskulären System während einer Migräneattacke aktivieren, sind laut Autoren jedoch noch nicht ausreichend geklärt (Limmroth & Diener, 2003).

Ebersberger (2002) nennt als mögliche Ursachen einer Aktivierung des Trigeminovaskulären Systems Kälte und Hitze, mechanische und vor allem chemische Reize. Die im

Trigeminovaskulären System enthaltenen afferenten sensorischen perivaskulären Nerven sind

laut Autor für die in den Meningen ausgelöste neuronale Aktivität verantwortlich, welche über das Trigeminusganglion in den Nucleus caudatus des Trigeminuskerns im Hirnstamm weitergeleitet wird, wo schließlich die Umschaltung auf postsynaptische Neurone erfolgt (Ebersberger, 2002).

Mit der Frage, welche anatomischen Korrelate für die Entstehung des Tinnitus verantwortlich sind beschäftigt sich die Forschung schon seit vielen Jahren und diskutiert diesbezüglich unter anderem regelmäßig die Hirnnervenkerne des Stammhirns (Heymann & Köneke, 2009).

Heymann et al. (2009) berichten von einem "Hirnstamm-Irritations-Syndrom" bei welchem alle proprio- und nozizeptiven Afferenzen der Hirnnerven sowie des Rückenmarks im Hirnstamm "gesammelt" werden und bei Überschreiten eines Schwellenwerts das Auftreten verschiedenster Symptome resultiert. Afferenzen, die hierbei hinsichtlich der Genese des Tinnitus eine Rolle spielen, sind laut Autoren neben denen aus Schädelbasis, dem optischen System und der Halswirbelsäule vor allem auch die des N. trigeminus als Teil des kraniomandibulären Systems. Nach Aussage der Autoren haben verschiedene Studien belegt, dass es starke Verbindungen zwischen den spinalen Trigeminuskernen, den oberen drei Zervikalsegmenten und den Kochleariskernen gibt (Heymann & Köneke, 2009). Auch Biesinger et al. (2008) berichten von tierexperimentellen sowie humanen Studien, welche eine Verknüpfung des N. trigeminus mit dem hinteren Kochleariskern belegen (Biesinger et al., 2008), wobei dem hinteren Kochleariskern eine bedeutende Rolle sowohl in der Entstehung als auch in der Modulierung des Tinnitus zugeschrieben wird (Kaltenbach, 2006).

Als Ursachen eines trigeminal induzierten Tinnitus kommen demnach verschiedene Mechanismen in Frage. Zum einen könnte der Tinnitus durch einen chronischen Reizzustand oberhalb des Schwellenwertes im Hirnstamm entstehen, da hierdurch eine pathologisch gesteigerte Projektion auf die Strukturen des auditiven Systems erfolgen kann. Zum anderen könnten die Konvergenzreaktionen zwischen den Trigeminuskernen und dem hinteren

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Kochleariskern in diesem zu einer pathologischen Steigerung der exzitatorischen Stimulation führen (Heymann & Köneke, 2009).

Es finden sich also sowohl für die Migräne als auch für den Tinnitus in ihrer Pathophysiologie Ansätze einer dysfunktionalen Trigeminusaktivität.

In der italienische Studie von Volcy et al. (2005) werden drei Patienten mit Migräne vorgestellt, welche an einem Tinnitus niedriger Basisintensität leiden. Als mögliche Ursachen für einen deutlichen Anstieg der Tinnitusintensität während der Kopfschmerzattacken, werden von den Autoren neben einer zerebralen Übererregbarkeit ebenfalls eine komplexe trigeminoautonome zentrale Sensibilisierung diskutiert (Volcy et al., 2005).

Auch die weiteren somatischen Symptome, welche in der vorliegenden Studie im Zusammenhang des gemeinsamen Auftretens von Tinnitus und Migräne beschrieben werden, können in ihrer Genese in einen trigeminalen Kontext eingeordnet werden.

Die nichtauditiven, somatosensorischen tiefen Afferenzen, welche für die Modulation des Tinnitus durch somatische Manöver verantwortlich sind, stammen laut Simmons et al. (2008) aus dem Trigeminusbereich sowie aus dem Gebiet der oberen drei Zervikalsegmenten (Simmons et al., 2008). Der N. trigeminus stellt den wichtigsten Nerv dar, der für die Schmerzwahrnehmung und -verursachung in Kopf- und Gesichtsbereich verantwortlich ist.

Der Oberkiefer wird hierbei vom Ramus maxillaris, der Unterkiefer und die Kaumuskulatur vom Ramus mandibularis des N. trigeminus versorgt (Limmroth, 2006). Die zu den Kochleariskernen und den Mittelhirnstrukturen der Hörbahn ziehenden Afferenzen stammen größtenteils aus dem Kiefergelenk und der Kaumuskulatur, sowie aus den Gesichts- und Kopfmuskeln, wodurch auch in der Entstehung von Kiefergelenksbeschwerden eine trigeminale Komponente vorhanden ist (Heymann & Köneke, 2009).

Hinsichtlich der Ätiologie des Schwindels sind Konvergenzreaktionen zwischen

den Trigeminuskernen und dem Vestibulariskernkomplex nachgewiesen (Neuhuber, 2005).

Stellt die Kombination aus Tinnitus und Migräne tatsächlich ein Tinnitus-Subtyp dar, hat dies unter Umständen Konsequenzen bezüglich einer individuellen Behandlung dieser Patienten.

Laut Schecklmann et al. (2012) spielt die Identifikation von Tinnitus-Subtypen auf Grund der heterogenen Ätiologie und Erscheinung des Tinnitus, eine entscheidende Rolle bezüglich einer erfolgsversprechenden Therapie (Schecklmann et al., 2012). Allerdings bemerken Vielsmeier et al. (2012), dass noch nicht geklärt sei, welche Kriterien zur Bildung von Subtypen verwendet werden sollten, da bislang noch nicht völlig klar sei, wie ätiologische Faktoren, Komborbiditäten und das unterschiedliche Ansprechen auf verschiedene Therapieformen zusammenhängen und bezüglich der Subtypisierung des Tinnitus verwendet werden können (Vielsmeier et al., 2012).

Berichtet ein Patienten mit Tinnitus zusätzlich von Migräne und eventuell weiteren der oben beschriebenen somatischen Beschwerden, sollte der behandelnde Arzt auf jeden Fall an eine gegenseitige Beeinflussung der Symptome, eventuell auch an ein Zusammenspiel zervikaler, trigeminaler und kochleärer Strukturen denken. Gegebenenfalls ist eine ausführliche, interdisziplinäre Diagnostik zu empfehlen, welche neben der Basisdiagnostik auch orthopädische und zahnärztliche Untersuchungen beinhalten sollte.

Im Dokument Tinnitus und Kopfschmerz (Seite 107-110)