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2.1 Grundzüge des EZ-Systems der VN

Die Vereinten Nationen sind ein besonderer Akteur in der multilateralen Ent-wicklungspolitik. Ihnen werden eine Reihe von einzigartigen Qualitäten zugeschrieben: Durch ihre universelle Mitgliedschaft, ihr breites Mandat und ihre Reputation als neutraler Akteur ist die Weltorganisation mit einer beson-deren Legitimität und Glaubwürdigkeit ausgestattet. Entwicklungsländer und

Industrienationen können formal gleichberechtigt ihre Anliegen artikulieren.

Das macht die VN zu einem globalen Forum, in dem Ideen entwickelt, aus-getauscht, getestet und in weltweit gültige Normen und Standards übersetzt werden können. Als prägnantes Beispiel für von den VN gesetzte Normen und Standards gelten die Millenniumserklärung und die daraus abgeleiteten Millenniumsentwicklungsziele, die Beschlüsse der Weltkonferenzen für nachhaltige Entwicklung (2002) und für Entwicklungsfinanzierung (2002, 2008), aber auch Normen im Bereich des Menschen- und Arbeitsrechts oder der Geschlechtergerechtigkeit. Dem VN-System wird eine herausragende Bedeutung für Etablierung und Akzeptanz universeller Menschenrechtsnor-men zugeschrieben (Jolly / Emmerij / Weiss 2009).

Die VN-Organisationen decken ein breites operatives Aufgabenspektrum ab. Ihr Hauptauftrag liegt in der beratenden Unterstützung von Regierun-gen beim Aufbau einheimischer Kapazitäten. Sie engagieren sich auch dar-über hinaus entlang thematischer Schwerpunkte (z. B. HIV / Aids, repro-duktive Gesundheit) oder bestimmter Zielgruppen (z. B. Kinder, Flücht-linge) mit vielfältigen Aktivitäten. In den letzten Jahrzehnten hat die Bedeutung von Menschenrechten, guter Regierungsführung oder Umwelt-standards stark zugenommen. Auch an Schnittstellen zum Kernbereich der Entwicklungszusammenarbeit – wie z. B. bei der Anpassung an den globa-len Klimawandel oder in der Friedenskonsolidierung – sind die Vereinten Nationen aktiv. Als ein bevorzugter Partner für Entwicklungsländer mit nahezu weltweiter Präsenz können sie sich in sensiblen Politikfeldern und in „schwierigen“ Ländern engagieren. Die Unterstützung durch die Organisationen erfolgt ohne Konditionalitäten. Als Trumpf des VN-Systems gilt darüber hinaus die enge Abstimmung mit den Partnerländern.

Neben ihrer Funktion als Forum, Norm- und Standardsetzer und operati-vem Akteur sammeln, systematisieren und analysieren die VN Informatio-nen und Wissen zu entwicklungspolitischen Fragen. Nicht zuletzt auf die-ser Basis begleiten sie prüfend die Umsetzung der global vereinbarten Nor-men und Standards und werben für deren Einhaltung. Darüber hinaus bean-spruchen die VN die Rolle als Anwalt für die Interessen der Ärmsten der Armen und anderer benachteiligter Gruppen. Dies tun sie nicht zuletzt durch inhaltlich-konzeptionelle Beiträge zu globalen entwicklungspoliti-schen Diskursen, die um Alternativkonzepte bereichert werden. Zu den pro-minenteren Beispielen zählen die Studie des Kinderhilfswerks „Anpassung mit Menschlichem Gesicht“, die Arbeit des Entwicklungsfonds für die Frau

1 Fonds und Programme sind keine internationalen Organisationen im eigentlichen Sinne, da sie formal der Generalversammlung unterstellt sind. Der besseren Lesbarkeit halber wird im Folgenden der Überbegriff VN-Organisationen aber sowohl für Fonds und Programme als auch für Sonderorganisationen verwendet.

2 Der Begriff normativ steht hier und im Folgenden für Funktionen, die mit der Erarbeitung von Normen, Regeln und Standards zusammenhängen, die für alle VN-Mitglieder gültig sind.

zuGender Economics, die Studien der Internationalen Arbeitsorganisation zu den sozialen Auswirkungen der Globalisierung, und nicht zuletzt die Berichte zur Menschlichen Entwicklung des Entwicklungsprogramms (Jolly et al. 2004; Jolly / Emmerij / Weiss 2009).

Man könnte argumentieren, dass diese Vielfalt von Tätigkeiten und die Breite des Aufgabenspektrums eine komplexe Organisationsstruktur erfor-dern. Diese Vorgabe erfüllen die Vereinten Nationen über alle Maße. Auch wenn rund zwei Drittel der Ausgaben für operative Tätigkeiten von allein fünf Organisationen getätigt werden, sind insgesamt 33 Organisationen Mit-glied in derUnited Nations Development Group(UNDG), dem Koordinie-rungsforum für im EZ-Bereich tätige VN-Akteure. Zu den wichtigsten und bekanntesten Fonds und -Programmen zählen das VN-Entwicklungspro-gramm UNDP, der VN-Bevölkerungsfonds UNFPA, das VN-Kinderhilfs-werk UNICEF und das VN-Welternährungsprogramm WFP. Fonds und Pro-gramme sind, juristisch betrachtet, Nebenorgane der Generalversammlung und werden von der Generalversammlung durch die Wahl von zwischen-staatlichen Exekutivräten gesteuert, in denen Mitgliedsstaaten nach dem üblichen Regionalproporz vertreten sind.1 Ihre Hauptaufgabe liegt in der operativen Durchführung von entwicklungspolitischen Vorhaben, wenn-gleich viele mittlerweile auch normative Aufgaben übernommen haben.2 Entwicklungspolitisch wichtige Sonderorganisationen sind etwa die Weltge-sundheitsorganisation (WHO), die Ernährungs- und Landwirtschaftsorgani-sation (Food and Agriculture Organization– FAO) oder die Internationale Arbeitsorganisation (ILO). Die Weltbankgruppe besitzt einen Sonderstatus.

Sie ist Mitglied des VN-Systems, besitzt aber eigenständige

Governance-und Finanzierungsarrangements, die sich von denen der VN-EZ-Hauptakteure unterscheiden.3Die insgesamt fünfzehn VN-Sonderorganisa-tionen sind dem VN-System zugeordnete, ansonsten aber eigenständige internationale Organisationen. Sie haben eine eigene Mitgliedschaft, eigene Aufsichtsstrukturen und erheben Pflichtbeiträge. Im Gegensatz zu Fonds und Programmen sind sie nicht an Weisungen der Generalver-sammlung gebunden. Ursprünglich lagen die Hauptaufgaben der Sonder-organisationen – abgesehen von jenen der Weltbankgruppe – bei Analy-setätigkeiten und Norm- und Standardsetzung. Allerdings haben viele ihr Tätigkeitsspektrum um operative Aktivitäten erweitert. Die Gründung der Sonderorganisationen basierte auf funktionalistischen Prämissen. In der WHO sollten Gesundheitsexperten kooperieren, in der FAO sollten Land-wirtschaftsexperten zusammenarbeiten. Daher arbeiten viele Sonderorga-nisationen anders als die Fonds und Programme weiterhin sektor- und nicht länderbezogen.

Auch zwischenstaatliche Gremien nehmen sich normativer Fragen sozia-ler und wirtschaftlicher Entwicklung an: Die Generalversammlung ist Forum für globale Aushandlungsprozesse und übt, wie auch der Wirt-schafts- und Sozialrat (ECOSOC), Aufsichtspflicht und formale Koordi-nierungsaufgaben für die der VN-Familie zugehörigen Organisationen aus. Dem ECOSOC zugeordnet erarbeiten regionale und Fachkommissio-nen Studien zu entwicklungspolitischen Fragestellungen. Menschen-rechtsrat und Friedenskonsolidierungskommission haben zwar kein hauptsächlich entwicklungspolitisches Mandat, allerdings bestehen Über-lappungen mit entwicklungspolitischen Fragestellungen.

Die Hauptabteilung für Ökonomische und Soziale Angelegenheiten (DESA) im VN-Sekretariat unterstützt die Arbeit der zwischenstaatlichen Gremien nicht nur administrativ, sondern ist auch für die inhaltliche Zuar-beitung zuständig. Damit hat die Abteilung z. B. auch die Verantwortung für die inhaltliche Nachbereitung der Weltkonferenzen. Darüber hinaus leistet sie technische Hilfe.

3 Die Weltbankgruppe wird in dieser Studie nur am Rande betrachtet. Auch wenn Untersu-chungen über Reformoptionen bezüglich der zukünftigen Rolle der VN-EZ die Aktivitäten der Weltbank in den Blick nehmen müssen, richtet sich die interne Reformdebatte des VN-System stark am Aufbau, der Finanzierung und den Steuerungsgremien des VN-EZ-Systems aus. Hier nimmt die Weltbank eine Sonderrolle ein.

Die operative Entwicklungszusammenarbeit im Rahmen der VN finanziert sich vor allem über freiwillige Beiträge. Im Jahr 2008 gab das VN-System insgesamt 18,6 Mrd. US$ für operative Tätigkeiten, d. h. für Entwick-lungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe, aus (United Nations Secreta-riat 2010, 2). Das entspricht ungefähr einem Anteil von 15 % an der welt-weiten Official Development Assistance (ODA) (2008: 122,3 Mrd. US$).

Fonds und Sonder- Zwischenstaatliche Gremien Programme organisationen

Abbildung 1: Institutionelle Struktur des EZ-Systems der Vereinten Nationen

InstitutionenMerkmale

(mit Kommissionen u. a. zu nachhaltiger Entwicklung,

Quellen: Vatterodt (2007a); Fues (2010a)

Der EZ-Anteil belief sich dabei auf rund 63 % der Gesamtsumme, also auf ungefähr 11,7 Mrd. US$. (United Nations 2010: 25). Zwischen 1993 und 2008 sind die VN-Gesamtbeiträge für operative Aktivitäten jährlich um rund 5 % gestiegen. Diese Steigerungsrate ist deutlich höher als der jährliche Anstieg der weltweiten Gesamt-ODA, die durchschnittlich um 1,5 % pro Jahr im gleichen Zeitraum zugenommen hat (ohne Entschul-dung) (UN Secretariat 2010, 6).

Der Großteil der Mittel an das VN-System ist staatlichen Ursprungs und wird von westlichen Gebern beigetragen. Die Mitglieder des OECD/DAC kamen 2008 für 62 % der Zuwendungen für operative Tätigkeiten (insge-samt 22,2 Mrd. US$) auf. Die Beiträge von Nicht-OECD/DAC Ländern machten im gleichen Zeitraum 12 % dieser Gesamtsumme aus. Andere Akteure, wie der Globale Fond, Nichtregierungsorganisationen, Entwick-lungsbanken oder der Privatsektor, trugen 26 % bei. Herausragend war dabei der Beitrag der Europäischen Union, der immerhin sieben Prozent der Gesamtsumme umfasste (UN 2010a, 13).

Mehr als 50 % der Ausgaben für entwicklungspolitische operative Aus-gaben des VN-Systems flossen im Jahr 2008 in“Least Developed Coun-tries” (LDCs). Der geografische Schwerpunkt war dabei Afrika (UN 2010, 33). Gemessen am Verhältnis der Ausgaben für operative Aktivitä-ten zum Bruttonationaleinkommen waren VN-Organisationen am wich-tigsten in Ländern wie Liberia, Burundi, Afghanistan, Guinea-Bissau, oder der Demokratischen Republik Kongo. Ihre Ausgaben lagen dort im Umfang zwischen rund 6 und 24 % des jeweiligen Bruttonationalein-kommens. Gemessen an der absoluten Höhe der Mittel waren der Sudan, Afghanistan, die Palästinensischen Gebiete, die Demokratische Republik Kongo und Äthiopien Schwerpunktländer (UN 2010a, 35–36).

Das breite Tätigkeitsspektrum, die universelle Mitgliedschaft und die überaus komplexe Organisationsstruktur zeichnen die Vereinten Nationen einerseits aus. Diese Merkmale können aber andererseits unter Effektivi-täts- und Effizienzblickpunkten die größte Angriffsfläche bilden. Die fol-genden Abschnitte benennen die wichtigsten Probleme und den Reform-bedarf, die sich a) in Bezug auf die Rolle der VN in der globalen Ent-wicklungsarchitektur und b) in Bezug auf die VN-interne Entwicklungs-politik identifizieren lassen.