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Grundlegendes

Im Dokument Zeit und Raum (Seite 57-173)

Der Widerstreit der Theorien setzt bei der Zeit nicht erst mit der Frage ein, ob das,. was uns als Zeit gegeben ist, ein Moment oder. ein einfacher Inhalt sei, sondern schon die Art und Weise, wie uns überhaupt Zeit bewußt wird, ist hier Problem. Unsere Aufgabe ist es demnach, zunächst die komplexen Erlebnisse zu beschreiben, in ·denen > Zeitliches c auftritt.

Ich sehe einen Hund Uber die Gasse laufen und erinnere mich an tl.as Pferderennen, das ich gestern gesehen. Das Pferderennen

und meine Wahmehmung dn,-von ist im jetzigen Augenblick nicht mehr wirklich, es ,muß in einer Vorstellung eich abspiegeln,

· um fttr mich jetzt gegenwärtig zu 8ein. :Aber auch die einzelnen Sprunge des Hundes sind nicht gleichzeitig wirklich, ·also auch die -Empfindungen, die sie in mir unmittelbar ausgelöst haben.

·Wenn ·ich :in .der 'l'at die •Bewegung« des Hundes ·»sehe«, wenn ieh ,den Eindruck einer Folge habe, so mUssen die Ge-sichtsbHder des Hundes aus den früheren Augenblicken in ge-wisser 'Weise i-n der Gegenwart· vorhanden sein. Diese Über-zeugung ist eine der wenigen, welche apodiktische Gewißheit in sich tragen. Wenn in meinem ,gegenw-ärtigen Bewußtsein ein schlechthin· vergangenes Erlebnis ·angetroffen wird, so k-ann nicht 'dieses Vergangene selbst jetzt in mir ·lebendig sein (denn dann wlirde etwas gegenwärtig sein,. ·was nicht gegenwärtig ist), - son-dern es muß· in mei~em gegenwärtigen Bewußtsein ein Bild des Vergangenen da sein.

Dies gilt von der· Wahrnehmung von Folgen und von der Er-innerung in gleicher Weise. Von solchem Zusammenhang ver-leitet, haben Fechner und Exner Erinnerung und Wahrnehmung von Folgen unter dem Namen »Gedächtnisbilder« zusammengefaßt, wenn sie auch das eine als primäres (Gedächtnis-nach-BBd) vom sekundären unterschieden. Aber diese beiden Bilder des Vergangenen sind einander nicht ähnlich: die Erinnerung tritt immer in einem ·gewissen Wettstreit mit der Wahrnehmung auf;

versenke ich mich in das· Erinnerungsbild, so verschwimmt mir die Außenwelt, und wenn ich meine Aufmerksamkeit auf diese wende, so entschwindet die reproduzierte Vergangenheit. Weiter: zwischen dem gestrigen Pferderennen, dessen ich mich eben er-innere, und dem jetzigen Augenblick bleibt eine Lticke; die Be-wegung des Hundes erlebe ich nber im stetigen Nacheinander.

Es ist also eine Uberaus unglückliche Ausdrucksweise, zwei so grundverschiedene Tatsachen mit dem gleichen Worte zn be-. zeichnen. Dadurch bleibt aber das Verdienst dieser beiden For-scher ungeschmälert, als erste auf die Wahrnehmung des Nach-einander als· die Grundlage der Zeitvorstellung hingewiesen zu haben. Wir gehen in eine nähere Untersuchung des Tatbestands ein.

Vergleichen wir 'diese Erscheinungen mit denen beim Raum.

Zur Verdeutlichung mag uns wieder das obige Beispiel dienen.

Ich sehe den Hund und die Gasse und ich stelle den ganzen

Schauplatz des Pferderennens vor: die Tribünen, die Tiere, die Menschenmenge. Der Ort des Pferderennens ist 3 km von meinem jetzigen Standort entfernt, ich stelle die Zwischenorte in keiner Weise vor I sondern hier im selben Raum wie den Hund und die Gasse stelle ich die räumlichen Beziehungen des Entfernten vor.

Daher der Wettstreit. Beides, das Wahrgenommene und das Vor-gestellte, sind Dinge im Raum, mein Bewußtsein dagegen ist ganz und gar nicht räumlich. In meiner Seele erscheinen Dinge außer mir, ohne daß dabei ein wirkliches Ding leibhaftig in meinem Bewußtsein wäre. Die Analogie springt in die Augen. Das Be-wußtsein, an und für sich genommen, ist ein unräumliches Ich, und alles· Seiende außer mir ist fUr mein Bewußtsein ein räum-liches Bild; das Bewußtsein, an und für sich genommen, ist dauer-lose Gegenwart, und alles Sein und Geschehen außer dieser ist für das Bewußtsein ein zeitlich ausgedehntes Bild. Das Bewußt-sein als solches ist weder räumlich noch zeitlich; alles Räumliche und Zeitliche ist I~halt des Bewußtseins. Das Räumliche, das ich wahrnehme, ist immer ein beschränktes, wie z. B. die Sterne am ffmmelsgewölbe, die ich in verhältnismäßig geringer Entfernung sehe, oder der Horizont, oder die Zimmer-. wand; ebenso ist das Zeitliche, das ich erfasse, ein beschrilZimmer-.nktes, das Ebenwirkliche von weniger Sekunden Dauer. Über diese Be-schränkung hinaus führt mich die Vorstellung (im J odlschen Sinne), sie bringt mir das Ferne und das Vergangene zum Be-wußtsein. Die räumlichen Beziehungen des Vorgestellten schaue ich im selben Raume an wie die des Wahrgenommenen;

den Schauplatz des Pferderennens, der (wie ich weiß) drei Meilen . weit entfernt ist, stelle ich nicht in dieser Entfernung von mir vor I sondern im selben Raume, in welchem ich den Hund, der Uber die Gasse läuft, wahrnehme. Die zeitlichen Beziehungen des Vorgestellten stelle ich in derselben Zeit vor, in der ich das Ebcnwirkliche erlebe; die Bewegungen des Pferdes stelle ich so vor, als gingen· sie eben jetzt vor sich, während ich den Hund über die Straße rennen sehe. Deshalb ist die Vorstellung eines Räumlichen immer in einem Wettstreit mit der sinnlichen Wahr-nehmung und die Vorstellung eines Vergangenen immer im Kampfe mit dem Erlebnis des Ebenwirklichen.

Ein anderes· ist ein Merkmal des Bewußtseins, ein anderes ist der Inhalt des Bewußtseins. Die Ichbewußtheit und die Jetzt.:.

bewußtheit sind Momente des Erlebens Uberhaupt; der Raum, die. Zeit sind Inhalte, Bilder im Bewußtsein. Das Bewußtsein, dessen Inhalt von hier bis zu den Sternen reicht, ist von gar keiner räumlichen Größe; und ebensowenig ist es, wenn es das EbenvergangeDe von 10 Sek. umfaßt, von irgendeiner zeitlichen Ausdehnung. Ich und Jetzt sind Eigenschaften des Aktes,

· des Subjektes. Raum und Zeit Inhalte, Objekte des Erlebnisses.

In d~ vorigen Abschnitten haben wir den Raum in der Wahr-nehm.ung untersucht, hier- wollen w:ir die Zeit im Erleben des Ebenwirkliehen behandeln. Beides sind Bilder: ob diesen Bil-dern letzten Endes außer mir und außer der Gegenwart ein wirk-licher Raum, eine wirkliche Zeit entspricht, sind Fragen, welche die Metaphysik zu beantworten hat. Wir beschä.ftigen uns hier . mit den Bildern; den Phänomenen, den Inhalten.

Ich nenne > Erlebnis des Ebenwirklichen, des Eben-vor-sieh-gehenden« jenen komplexen Bewußtseinsinhalt, der ein zeit-liches Geschehen umfaßt, wie z. B. die Wahrnehmu'ng einer Be-wegung, das Hören einer Melodie, und zwar wie er uns in· einem bestimmten Augenblick bewußt ist. Den Inhalt zerlege ich begrifflich in zwei Teile: erstens in das > J etzterlebnis «, d. i.

ein Erlebnis, dessen Inhalt das Jetzt ist,. das ich als jetzt wirk-lich erlebe; zweitens in d.a,s >Erlebnis des Ebenvergangenen«, z. B. die frUheren Töne der Melodie, die ich im jetzigen Augen-blick ni-0ht als jetzt wirklich, sondern als ebenvergangen er-lebe. Das >Jetzt« im Worte »Jetzterlebnis« bedeutet also einen Inhalt, eine Stelle des Inhalts »Zeit«, nicht das Moment der Jetzt-bewußtheit; denn dieses ist allen Erlebnissen in gleicher Weise gemein, dem Erlebnis des Ebenvergangenen, der Erinnerung, cler Erwartung. Alle Bewußtseinstatsachen sind jetzt bewußt, sonst wären sie überhaupt nicht bewußt; aber nicht alle Bewußtseins-tatsachen haben das Jetzt zum Inhalt, nicht alle werden als jetzt wirklich, als »seiend« erlebt. Die vorigen Töne der Melodie, das gestrige Pferderennen sind uns als vergangen, als »gewesen«

bewußt.

Diese Bezeichnungen habe ich bilden mUssen, um eine Ver-ständigung auf diesem Gebiet zu ermöglichen, und ich hoffe, daß sie glücklicher gewählt sind als der Ausdruck •primäres Gedächt-nisbild«. Die Zeit als Bild im Erlebnis des Ebenwirklichen nenne ich die >phänomenale Zeit,, die Zeit, die ich während des

wirklichen Spielens der Musik verfließend denke, die >reale Zeit«. Die reale Gegenwart werde ich als >Augenblicksgegen-wart« oder als »reales Jetzt« von der populii.ren >Gegen>Augenblicksgegen-wart«

im Sinne von unmittelbarer Vergangenheit als der »scheinbaren«

&cheiden'.

Man unterscheide:

lJ

Reale (Augenblicks-) Gegenwart = reales Jetzt= so-genannte > Zeit« des Aktes; ihr entspricht die Jetztbewußt-heit aller Erlebnisse. Die Reihe der realen Gegenwarten ist die » reale Zeit<.

2) Phänomenale Zeit, Erle.bnis des Eben wirklichen= »Zeit«

des Inhalts: diese zerlegt in

a) das phänomenale Jetzt, das Jetzterlebnis, der Endpunkt des jeweiligen >Ebenwirklichen«;

b) die phänomenale Vergangenheit, Erlebnis des Eben-vergangenen.

Haben wir einmal das Rllstzeug eindeutiger Bezeichnungen, so bat es mit der Beschreibung des vorliegenden Tatbestandes keine Sch·.vierigkeit. Wir erkennen bei der anschaulichen Betrachtung unseres Beispiels sofort die Unzulänglichkeit der Fechnerschen Auffassung, die das Erleben des Eben vergangenen mit dem Er-innern zusammenwirft. Denn unter einem Erinnerungsbild ver-steht man eine Vorstellung, die, obzwar als vergangen gedacht, als ein jetzt Ablaufendes vergegenwärtigt wird, so wie ich einen Bekannten in Amerika, wenngleich als fern gedacht, doch hier, flinf Schritte vor meinen Augen vorstelle. Dies trifft aber beim

•rngenannten primären Erinnerungsbild nicht zu. Die ver-klungenen Töne werden nicht etwa als jetzt wirklich vorgestellt, so daß der jetzt gehörte Ton mit den >primär erinnerten« ge-wissermaßen einen Akkord bildet. Sondern .wir erleben sie als ebenvergangen. W. Stern, ein Gegner der Fechnerschen Zeittheorie, führt in diesem Zusammenhang sehr scharfsinnig aus, daß die einzelnen Töne einer Melodie, die ich höre, wenn sie bloße Erinnerungsbilder wären, gewisser Temporalzeichen be-dürften, nach denen ich erst beurteilen könnte, welcher frtther und welcher spti.ter ist. Jedoch »die Selbstbeobachtung widersetzt sich der Zumutung absolut, alle Zeitauffassung· auf solche mittelbare IndizienschlUsse zurUckfUhren zu wollen« (S. 332). Und später (S. 339): >Angenommen«, daß >der zweite Ton y mit dem

'Erinnerungsbilde a; des ·ersten Tones x verglichen werde«, »wo!her wissen wir dann, daß x das Erinnernngsbild von x ist?« ( » Psy-chische 'Präsenzzeit«. Zeitsc-hrift für Psychologie. Bd. 13. 1897.)

Wir sehen: Das Erlebnis des Ebe·nvergang·enen is·t

gänz-·lfch verschieden von der ')Vorstellung« des Vergangen'en.

Wenn ich zwei Töne naeh·einander höre, so ist beim Er-klingen des zweiten der ·erste weder als eine Erinnerung noch

als: ein J etzterlebnis bewu'ßt, s-ondern als Erlebnis eines

'Ebenvergangenen. Das, was als Jetzterlebnis vergangen ist, ist nicht überhaupt aus meinem Bewußtsein verschwunden, wenn der nächste Ton erklingt, denn sonst könnte ich keine Melodie hören, sondern jedesmal nur einen einzigen Ton oder einen Akkord, und es wäre, wie Ehrenfels treffend sagt,· >der Schluß-eindruck aller Melodien mit gleichem Schlußton ein . gleicher«. (Über Gest~ltqualitäten.) Vielmehr ist das Erleben des · Ebenver-gangenen der Bewußtseinsinhalt, der sämtliche seelische Tatsachen umfaßt, die vor wenigen Sekunden als Jetzterlebnisse wirklich

· waren, aufgetragen auf einer eigenartigen stetigen Mannigfaltig-keit nach der ÖrdnÜng, in der sie als Jetzterleb_nisse in der realen

Zeit abgelaufen. ·

Nehmen wir an, es seien vier Töne in einem gewissen Rhyth-mus gesungen .worden, und stelle ich diese als Jetzterlebnisse nur in einem Augenblick wirklichen Empfindnngen mit T1 , T2 usw.

dar, so gibt mir die Reihe

T

1 • • T2 • • •

'1'

3 • T,

ein Schema des realen psychischen Geschehens, sofern ich nur auf die Jetzterlebnisse einer jeden realen Gegenwart achte. Beim Erklingen von T, ist T3 ebenso vergangen wi.e die Schmerzen einer Krankheit, die ich vor 20 Jahren durchgemacht. Erinnerungs-bilder, die ich beim Ertönen von T, vorstelle, werden als jetzt wi_rklich vorgestellt, wenn auch als vergangen gedacht, so daß also das Schema fUr gleichzeitige Reproduktionen lauten wurde:

T,

En Em,

welches Schema dem Röten der Melodie ganz und gn.r nicht ent-spricht. Stern sagt hierzu (S. 330): » Wir hören die vier Töne nicht auf einmal, haben aucb nicht während des vierten, dadurch, daß noch 1, 2 und 3 andauern, die ganze Gruppe im

Bewußt-sein ... , sondern >es zeigt sich .. ,< >d.em unbefangenen Be-obachter hier nichts ... als ein Uber eine kleine Zeitstrecke sich ausdehnendes Kontinuum, welches eben als solches den Inhalt des Bewußtseinsaktes ausmacht« (S. 328). In dem Augen-blick, da in der gegenständlichen Wirklichkeit der Ton T, ge-sungen wird, haben wir folgenden Inhalt in unserem Bewußtsein:

T4 wird als jetzt wirklich erlebt und im unmittelbaren Anschluß daran eine kontinuierliche Zeit, die Ebenvergangenheit, in welcher die in den frliheren realen Zeitpunkten als jetzt wirk-lich erlebten Inhalte eingeordnet sind, bezogen auf das gegen-wärtige Jetzterlebnis als den Blickpunkt des komplexen Erleb-nisses.

Im Bilde also:

reale Zeit:

Bewußtseinsinhalt im Augenblick >T4<: (t1 ••• t,. ... t3 ••• t4).

Der in der Klammer stehende Ausdruck ist der Bewußtseinsinhalt, der in einer einzigen realen Gegenwart, nämlich im Augenblick, wo T4

erklingt, wirklich ist. Als reale Tatsache ist er nicht zeitlich ausgedehnt, wohl aber wird der Inhalt t1 • • • t,. ... t3 ••• t, als in der Zeit ausgebreitet erlebt, d. b. ich erlebe den Ton t4 als ein jetzt Wirkliches, die Töne t3 - t2 - t1 als ein in gewisser Ordnung eben wirklich Gewesenes. Und zwar behalten die Töne t1 , t1 ,

ta

auch als Erlebnisse des Ebenvergangenen den Charakter der Empfindungen und wandeln sich nicht in Erinnerungsvorstel-lungen um, die ja bei aller Gleichheit der Intensität und Qualität

. doch einen von den Empfindungsinhalten spezifisch verschiedenen

Inha1t besitzen. Das Erlebnis des Ebenvergangenen ist von aller Reproduktion so unabhängig, daß vielmehr Reproduktionen selbst als ebenvergangen erlebt werden, wie sämtliche Bewußtseinsinhalte überhaupt; es werden also auch Gefühle, Strebungen, Urteile, die uns im vorigen Augenblick als jetzt wirklich bewußt waren, im jetzigen Augenblick als ebenvergangen erlebt.

Das Erlebnis des Ebenwirklichen ist das Bild des ebenver-gangenen realen psychischen Geschehens, es ist das Bild des Nacheinander meiner Zustände, auf einer Zeitstrecke aufge-tragen, deren vorderer Endpunkt das Jetzterlebnis bildet, deren hinteres Ende an der } eripherie des Bewußtseinsblickfeldes ver-dämmert, so wie das durch die seitlichen Netzhautstellen Gesehene.

Wiewohl Stern und mit" ihm Schumann (»Zur Psychologie der Zeitanschauung«. Zeitschrift fur Psychologie. 17. Bd.) die Unhaltbarkeit der so weit verbreiteten Fechner-Exnerschen Zeit-theorie nachwiesen und erkannten, daß wir im Erlebnis des Eben-wirklichen das Nacheinander als ein anschauliches Kontinuum er-leben, vermochten sie dennoch nicht, den Tatbestand im Sinne der eben vorgebrachten Ausführungen richtig zu beschreiben. Sie machten keinen Unterschied zwischen der realen Zeit des Aktes und der phänomenalen Zeit des Inhaltes und kamen so zu der . wundersamen Lehre, daß >das innerhalb einer gewissen Zeitstrecke sich abspielende psychische Geschehen unter Umständen einen einheitlichen zusammenhängenden Bewußtseins a kt bilden kann, unbeschadet der Ungleichzeitigkeit der einzelnen Teile« (Stern).

>Die Zeitstrecke, Uber welche sich ein solcher psychischer Akt zu erstrecken vermag«', nennt Stern >Seine Präsenzzeit«. Das heißt so viel; als daß das Bewußtsein selbst, als realer Akt, zeitlich ausgedehnt sei, und zwar, wie Stern annimmt, über etwa 2 bis 3 Sekunden. Ein streng momentaner Bewußtseinsakt ist nach Stern und Sch umann eine Unmöglichkeit. ,.Daß nur solche In-halte zu einem Bewußtseinsganzen geMren können, die zu irgend-einer Zeit gemeinsam vorbanden, simultan sind, daß also der in einem gewissen Moment durchs Seelenleben gelegte ideale Quer-schnitt alle zusammengehörigen Elemente enthalten müsse, ist ein Dogma ... « (Schnmann). Darauf ist zu erwidern: Daß das, was als zusammengehörig erlebt wird, gleichgtlltig, ob ich es als ein Ebenvergangenes oder Jetztwirkliches erlebe, in einem einzigen Augenblick in meinem Bewußtsein vorhanden sein muß, ist kein Dogma, sondern eine apodiktische Notwendig-keit.

Denn alles, was schlechthin vergangen ist - es mag vor 2000 Jahren oder vor 1/10 Sekunde wirklich gewesen sein - , ist unerbittlich dahin. Der Bewußtseinsakt, in welchem der Ton T1

Jetzterlebnis war, ist ebenso gewiß jetzt, da der Ton T, als ,seiend<

erlebt wird, völlig unwirklich, so gewiß im gegenwärtigen

Augen-. blick sämtliche Ereignisse des Jahres 2000 unwirklich sindAugen-. Wohl

aber kann von diesem vergangenen Erlebnis ein Bild im Inhalt unseres jetzigen Bewußtseinsaktes lebendig sein, und dies ist auch, wie uns die innere Erfahrung lehrt, tatsächlich der Fall: wir er-leben im Augenblick, da der Ton T4 als Jetzterlebnis bewußt ist,

den Ton T1 als einen ebenvergangenen, als einen Punkt auf der uns anschaulich gegebenen Zeitstrecke.

Stern und Schumann blieb diese so einleuchtende Auslegung des in Frage stehenden Tatbestandes verschlossen, da ihnen die Unterscheidung zwischen Akt und Inhalt nicht geläufig ist;

und doch ist sie gerade bei diesem Problem unerläßlich. Jede Bewußtseinstatsache hat zwei Seiten, eine reale und eine phäno-menale: jede ist einerseits ein Akt, andererseits ein Inhalt. Ich sehe eine Welt von Dingen; ob und was sie wirklich ist, kalln mir zum Problem werden; daß ich die Welt aber wahrnehme, daß ich den betreffenden Inhalt wirklich erlebe, d. i. der Akt der Wahrnehmung, ist eine Tatsache, die nicht geleugnet werden kann. Der Akt der Wahrnehmung ist Tatsache, · der Inhalt ist ein Bild. Unter Akt ist keine Tätigkeit zu verstehen, sondern das Erlebnis, insoweit es Realität ist. Akt (Subjekt) ist die ,Daß«-Seite des Erlebens, Inhalt (Objekt) die »Was«-Seite.

So umfaßt der Inhalt meiner Sinneswahrnehmung einen Raum von tausenden Kubikmetern Ausdehnung, ohne daß der Akt dieses Er-lebnisses auch nur einen einzigen mms groß wäre. Und genau ebenso spiegelt sich in meinem Bewußtseinsinhalt eine Zeitstrecke von einigen Sekunden Dauer, ohne daß deshalb mein Bewußtseins-akt die geringste zeitliche Ausdehnung hat. Wohl erstreckt sich mein individuelles Seelenleben Uber Jahre und Jahrzehnte, aber von diesem psychischen Geschehen ist jedesmal nur ein einziger Augenblick wirklich; diese reale Gegenwart (die in keiner Weise zeitlich ausgedehnt ist) hat gleichwohl einen zeitlichen Ablauf (nämlich das Ebenvergangene) zum Inhalt, und indem sich die reale Gegenwart ändert, ändert sich auch im gleichen Sinn der Inhalt der Ebenvergangenheit. bas Erlebnis des Ebenwirklicben ii:1t ein Bild des realen Zeitlichen, so wie die sinnliche Wahr-nehmung ein Bild der realen räumlichen Welt ist. Nur dadurch, daß das Zeitkontinuum Inhalt meines Bewußtseins ist, kann mir lirerhaupt ein Nacheinander zum Bewußtsein kommen. Denn durch die bloße Folge der realen Bewußtseinsakte wttrde ich nie erfahren, was Zeit ist.

Ich halte durch die vorigen Auseinandersetzungen für fest-gestellt: 1) daß der Bewußtseinsakt selbstverständlich keine zeit-liche Ausdehnung haben kann (Tatsache der Jetztbewußtheit), 2) daß gleichwohl Vergangenes als Inhalt (Bild) im Bewußtsein

anzutreffen ist, und zwar 3) entweder als ein Längstvergangenes durch eine eigentümliche, von dem unmittelbaren Ernsterlebnis verschiedene Bewußtseinstatsache, nämlich der Vorstellung, oder 4) als ein Ebenvergangenes, welches nicht wie das Längst-vergangene durch eine Umwandlung des .Ernsterlebnisses in eine Erinnerung, sondern durch ein Ausbreiten aller Bewußtseinsinhalte in einer stetigen Ordnungsmannigfaltigkeit (der Zeit) möglich wird.

An dem Ganzen eines solchen komplexen Erlebnisses soll im folgenden untersucht werden, was denn eigentlich die Zeit in ihm darstellt.

2) Die Zeit als einfacher Inhalt.

Die erste Frage der psychologischen Zeittheorie, die nämlich, auf welche Weise uns denn überhaupt Zeitliches im Bewußtsein gegeben ist, ist nunmehr beantwortet, und zwar in dem Sinne, daß in unserem jeweiligen Bewußtseinsinhalt nicht bloß d·as Jetzt-wirkliche als jetzt wirklich, sondern auch das unmittelbar Ver-gangene a.ls unmittelbar vergangen anschaulich erlebt wird. Nun hat uns die zweite Frage zu beschäftigen, was denn innerhalb dieses komplexen Erlebnisses die Zeit als solche bedeutet. Ist sie ein Moment der einfachen Inhalte oder selbst ein einfacher Inhalt?

Die Fragestellung ist die nämliche wie bei der Raumunter-suchung, und da die Analogie in die Augen fällt, kn.nn ich im vorhinein verraten, daß auch das Ergebnis das gleiche ist: ich darf mich also hier kürzer fassen und an dieser Stelle skizzieren, was ich oben breit ausgeführt habe.

Die Momentlehre nimmt ziemlich allgemein die Zeit als ein Moment eines einheitlichen Erlebnisses z. B. einer andauernden Empfindung, als ein Moment neben Qualität, Intensität und (bei der Empfindung) Extensität. F. Sch umann hat seiner Abhand-lung »Zur Psychologie der Zeitanschauung« (Zeitschr. f. Psych., Bd. 17) das Diktat einer Vorlesung von G. E. Müller vorangestellt.

Was dort in klarer und anschaulicher Weise ausgesprochen ist, wird in ähnlicher Weise von den meisten anderen Psychologen gelehrt, nur mit dem Unterschied, daß die Anhänger der Fecbner-Exnerschen Zeittheorie die Zeit fur ein Moment eines Inhalts, nämlich des primären Erinnerungsbildes, auffassen, während die Ver-fechter einer direkten Zeitwahrnehmung (Schumann, Stern usf.)

die Zeit für ein Moment des Erlebnis ak ts halten. Die Aus-führungen G. E. MUllers seien hier im Auszug wiedergegeben, um unserer Untersuchung als Ausgangspunkt zu dienen. M Ull er bespricht zuerst die. Modifikationen einer einfachen >Qualität«, worunter er nicht die >Beschaffenheit«, sondern die sinnliche Empfindung schlechthin versteht. Er läßt am Klang zuerst Tiefe (oder Höhe), Schwäche (oder Stärke) und Weichheit (oder Rauheit) unterscheiden und aus diesen Unterscheidungen die Allgemein-begriffe der Tonhöhe, der Intensität und der Klangfarbe ent-wickeln. >Diese Modifikationen ... sind ... in Wirklichkeit nichts an jenen einfachen Qualitäten (Empfindungsinhalten!) gesondert Wahrnehmbares und voneinander realiter Trennbares und sind ...

demgemäß nicht unpassend als nur für eine distinctio rationis bestehende Besonderheiten jener Qualitäten bezeichnet worden«

(S. 106). >In ganz entsprechender Weise ... entstehen nun auch durch die distinctio rationis die Begriffe der zeitlichen Kürze oder Länge eines einfachen Eindrucks ... >nnd ebenso die ~egriffe >des Vorher, des Nachher und der Gleichzeitigkeit, der baldigen und der späten Aufeinanderfolge«, >die sich auf die Zeitordnung der Erscheinungen beziehen« (S. 108). >Es sind aber diese einfachen, undefinierbaren Beziehungen der Gleichzeitigkeit, Sukzession, Nachbarschaft usw. ebensowenig von den Erschei-nungen, zwischen denen sie bestehen, trennbar und davon abgesondert vorstellbar, wie die einfachen, undefinierbaren Modi-fikationen der Tontiefe usw. abgesondert von einem Tone, dessen Tiefe, . . . sie sind, bestehen können.«

Wir haben hier die analoge Ansicht vor uns, die · wir be1m Raum angetroffen, nämlich: die Zeit ist untrennbar in den einfachen Inhalten, z. B. in dem qualitativ-intensiven Empfindungsinhalt gegeben; das, was wir aus dem einheit-lichen Geschehen als Zeit herausschälen, sind Beziehungen, die nur flir das Denken bestehen, ähnlich den Beziehungen der Intensitäten. Hierauf ist zu erwidern: die Tatsache, daß ich nicht imstande bin, die Zeit für sich ohne etwas, das sie erfüllt, zu er-le 'lt.n, steht fest, sagt aber nicht das geringste gegen die Einfach-heit und Unterscheidbarkeit des Inhalts >Zeit«. Denn ein Inhalt ist nur in einer lebendigen Bewußtseinseinheit, also nur im Zu-sammenhang mit anderen Inhalten möglich. Die Art und Weise 'lieses Zusammenhanges kann nun ein Isolieren dieses Inhalts

Im Dokument Zeit und Raum (Seite 57-173)