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Grundlagen (post)moderner Kunstphilosophie

I. Kulturkritik

Mag es vielleicht erstaunen, dass ein zumindest zur Hälfte Jean-Fran-çois Lyotard gewidmetes Buch über aktuelle Fragen der Ästhetik mit einem Kapitel über Kulturkritik beginnt, so ist dieses Erstaunen bereits die Rechtfertigung für eine solche Darstellung: Zwar weist eine große Zahl an Abhandlungen zur politischen Philosophie auf Jean-François Lyotards differenziertes Politikverständnis hin,1 in ästhetischen Debat-ten wird er jedoch häufig als Denker verstanden, der im Gegensatz zu kulturkritischen Autoren eine affirmative Haltung einnimmt, sodass die kritischen Aspekte seiner Kunsttheorie ungerechtfertigt stark in den Hintergrund treten. Diese Tendenz, die nicht nur die deutsche, son-dern auch die englischsprachige musikwissenschaftliche Literatur prägt,2 dürfte vornehmlich auf zwei Gründe zurückzuführen sein: Ers-tens darauf, dass Lyotard als Philosoph der Postmoderne schlechthin mit der Tendenz zu einer Haltung des »anything goes« in Verbindung gebracht wird; zweitens darauf, dass er selbst programmatisch und stel-lenweise polemisch Affirmation und Negativität gegenüberstellte, wie unter anderem in seinem für die Einschätzung seiner Haltung zu Ador-no wichtigen ArtikelAdorno come diavolowie auch im Klappentext zu Des dispositifs pulsionnels.

Um grundlegende Parallelen im Denken der beiden Philosophen sichtbar zu machen, ist es zunächst nötig, den Gegensatz zwischen

Kri-1 Neben den Arbeiten Olivier Dekens und Anne Elisabeth Sejtens, auf deren Darstel-lungen im Folgenden im Detail Bezug genommen wird, sind hier stellvertretend auch die von Chris Rojek und Bryan S. Turner sowie von Victor Taylor und Gregg Lambert he-rausgegebenen Sammelbände zu nennen: Dekens,Lyotard et la philosophie (du) politi-que, Sejten, »Politique négative«, Rojek und Turner (Hg.),The politics of Jean-François Lyotard, Taylor und Lambert (Hg.),Critical evaluations in cultural theory.

2 Zur gegensätzlichen Wahrnehmung von Adorno und Lyotard vor dem Hintergrund eines konstatierten Gegensatzes von modernem und postmodernem Denken in der eng-lischsprachgen Literatur siehe auch Kramer,Classical Music and Postmodern Knowled-ge, sowie Lochhead und Auner (Hg.),Postmodern Music/Postmodern Thought.

tik bzw. Negativität auf der einen und Affirmation auf der anderen Seite aufzubrechen. Kontrastiert man Lyotards Denken direkt mit dem Ador-nos, wird es möglich, eine differenzierte Analyse seines Standpunktes zu entwickeln und zu zeigen, dass er ebenfalls eine kritische Position vertritt. Dabei orientiert sich sein Kritikbegriff zum einen an der Frank-furter Schule, zum anderen entspricht seine konkrete Sichtweise der modernen Welt in wesentlichen Zügen der Perspektive, die Adorno und Horkheimer in derDialektik der Aufklärungentwickelten. Im Be-sonderen Aufsätze ausDes dispositifs pulsionnels(1973) verdeutlichen, dass die ambivalente Haltung zu Adorno in den frühen Schriften mit Lyotards Aufarbeitung seiner eigenen marxistischen Vergangenheit, seinem Engagement in der Gruppe Socialisme ou barbarie, korrespon-diert.3 Kann auch auf Lyotards Verhältnis zu Marx in diesem Rahmen nicht näher eingegangen werden, ist es dennoch wichtig festzuhalten, dass für ihn die persönlich erlebte praktische Niederlage des Marxismus der Grund für die drohende Melancholie ist,4 gegen die alle Denk-anstrengungen zu richten seien: eine Melancholie, die allerdings bereits Adorno wie kein anderer Denker des 20. Jahrhunderts erkannt habe.

Hauptquelle der Darstellung von Lyotards kulturkritischer Posi-tion, ergänzt von Aufsätzen aus Des dispositifs pulsionnelsund dem Essay zur Malerei Jacques Monorys, ist das Buch, dem Lyotard seine internationale Bekanntheit verdankt:La condition postmoderne. Es ist das erste, in dem Lyotard Ende der 1970er Jahre explizit eine Auseinan-dersetzung mit der Kritischen Theorie führt.5 Die Relation zu Adorno, dessen kritische Position im Folgenden anhand derDialektik der Auf-klärung,der Philosophie der neuen Musikund seiner Wagner-Mono-graphie dargestellt wird, stellt sich in dieser frühen Phase von Lyotards Denken als distanziert dar. Die von ihm angestrebte Abgrenzung vom modernen Denken intendiert einen Mittelweg zwischen notwendiger Kritik und einer prinzipiell positiven Haltung: Es gelte, sowohl der zu-nehmenden »Entzauberung der Welt« als auch »blinder Positivität« zu begegnen.6 Im Vorwort zu La condition postmoderne macht er klar, dass es ihm beim Versuch der Neusituierung des Denkens in Hinblick

3 Siehe dazu auch Reese-Schäfer,Lyotard zur Einführung, S. 13 f.

4 Zur Problematik von Marxismus und Melancholie bei Lyotard siehe auch Walder Pra-do, »La dette daffect«.

5 Darauf wies bereits Gérard Raulet hin: Raulet, »Konsens oder Dissens? Welches Mo-dell für die globale Kommunikation?«.

6 Vgl. Lyotard,La condition postmoderne, S. 8.

auf die Möglichkeit von Gerechtigkeit und Wahrheit um eine Proble-matik geht, die angesichts gesellschaftlicher und politischer Entwick-lung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Dringlichkeit ge-wonnen hat. Postmoderne soll, um der Situation in der postindustri-ellen Gesellschaft gewachsen zu sein, als Haltung etabliert werden, die es erlaubt, auf Probleme, die sich bereits in der Moderne zeigten, besser als früher zu reagieren. Auch aus dem Vorwort zuDes dispositifs pul-sionnelsgeht hervor, dass Lyotard Postmoderne als kritische Neuinter-pretation der modernen Welt verstanden wissen will:

68 resta en suspens sur le tranchant du rasoir. Par l’un des ses aces, l’ événe-ment donnait un sursis, il offrait même l’occasion d’une relance, au grand récit politique de l’émancipation. Il était moderne. […] Sous son autre ace, il échap-pait aux grandes narrations, il prenait vie d’une autre condition, qu’on a pu appeler postmoderne. Aux étudiants, aux artistes, aux écrivains et aux savants, le capitalisme développé ordonnait: Soyez intelligents, soyez ingénieux, vos idées sont ma marchandise d’avenir. Prescriptions que les intéresses négligè-rent tout à coup: consacrant leurs soins à l’imagination plutôt qu’au marché, ils s’exhortèrent à expérimenter sans limites.7

Zwei wichtige Aspekte sind an Lyotards Interpretation des Mai 68 her-vorzuheben: erstens die Bedeutung, die er der Praxis gegenüber der Theorie einräumt; zweitens die entscheidende Rolle, die die Kunst und das ihr inhärente Widerstandspotential gegen den Kapitalismus spielen.

Aufgrund der konkreten politischen Bedeutung des Beispiels wird deut-lich, dass die propagierte postmoderne Haltung letztlich vom Wider-stand gegen die Dominanz des Kapitalismus und die aus dieser resultie-renden Forderungen und Zwänge gekennzeichnet ist. Postmodern oder modern zu denken und zu handeln, ist Lyotard zufolge eine Alternative, die auf der bewussten Entscheidung beruht, die Herausforderungen der Zeit anzunehmen, Widerstand zu leisten und sich nicht den Forderun-gen der kapitalistischen Welt blind anzupassen. Widerstand etabliert sich in Form kreativen Engagements in umfassendem Sinn. Dabei ist die Musik, auf die er, wie gezeigt werden wird, immer wieder zu spre-chen kommt, seiner Auffassung nach Teil einer dem kapitalistisspre-chen System inkommensurablen kritischen Praxis.

Der Vergleich der Kultur- und Gesellschaftskritik beider Autoren geht von zwei expliziten Anknüpfungspunkten Lyotards an die Kriti-I. Kulturkritik

7 Lyotard, »Avertissement«, S. 17.

sche Theorie aus: erstens von seiner Bezugnahme auf deren Geschichts-und Gesellschaftsmodell Geschichts-und zweitens von seiner Kritik an einer kul-turpessimistischen Sichtweise, die Kritik als Theorie zu ihrem Pro-gramm erhebt. Die Gegenüberstellung wichtiger Aspekte ihrer Kritik an Gesellschaft und Denken in den ersten beiden Abschnitten zielt da-rauf ab, Lyotards kritische Grundhaltung darzustellen, die auf dem Fortwirken antikapitalistischen Denkens auch in seinen postmodernen Werken basiert.

Die Kontrastierung ihrer divergierenden Konzeptionen von Kritik im dritten Abschnitt hat zum Ziel, zu zeigen, dass Differenzen großteils auf den veränderten zeitgeschichtlichen Hintergrund zurückzuführen sind, der Lyotard zu einer Radikalisierung der Position Adornos bewog.

Diese diente ihm zwar in grundlegenden Fragen als Ausgangspunkt, sein Denken zielte jedoch nicht auf Theorie, sondern auf Subversion der Praxis durch narrative Vielfalt. Aber wie Adornos Kritik der Kultur-industrie zeigt, verbindet beide die Intention, totalitäre gesellschaftliche Tendenzen zu bekämpfen.

Die historische Distanz sowie die divergierenden Auffassungen von Kritik bedingen ihre unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen der Kunst, die im vierten Abschnitt miteinander konfrontiert werden.

Adornos Analyse musikgeschichtlicher Entwicklungen aus dem Geist derDialektik der Aufklärunghebt das versöhnende Potential der Kunst hervor. Lyotards provokanter Kommentar zu DuchampsŒuvre stellt dagegen die Unmöglichkeit von Versöhnung ins Zentrum. Nichtsdesto-trotz zeigt der Vergleich, dass beide dieselbe Intention verfolgen: der vom Kapitalismus gestützten Wiederholung des Gleichen und dem Ni-hilismus entgegenzuwirken. Vor diesem Hintergrund verstehen beide Philosophie als Kunstkritik, und ihr Denken nimmt auf konkrete Wer-ke Bezug. Der Kunst ihrer Zeit schreiben sie die Aufgabe zu, der zuneh-menden Ökonomisierung aller Lebensbereiche in der modernen bzw.

postmodernen Welt Widerstand zu leisten. Für beide kommt der Musik dabei insofern eine exemplarische Rolle zu, als beide die subjektive Zeit-erfahrung, die die Einzigartigkeit des Augenblicks betont, als ein wich-tiges Spezifikum von Kunst betrachten.

Kritik am Gesellschaftssystem 1.1 Die Dialektik der Aufklärung

Adornos gesellschafts- und kulturkritische Perspektive ist in wesent-lichen Zügen bereits in der Dialektik der Aufklärung dargelegt. Die gemeinsam mit Horkheimer erarbeitete geschichtsphilosophische Per-spektive, die der deutschen Soziologie eine vom Positivismus angelsäch-sischer Prägung verschiedene Orientierung verleihen sollte, trug zur Distanz zwischen Habermas und der ersten Generation der Frankfurter Schule bei und bildet nach wie vor einen beliebten Angriffspunkt.8 Was den Vergleich von Adorno und Lyotard betrifft, ist es allerdings genau diese Perspektive, die die Grundlage für die Annäherung von Lyotards Denken an Adornos Kunstphilosophie bildet. Die Auffassung, dass die negative Entwicklung der Gesellschaft, die Adorno und Horkheimer bereits in den 1940er Jahren beobachteten, im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts ungeahnte Ausmaße annahm, wie Adorno in seiner Vorbemerkung zur Ausgabe von 1969 hervorhob, prägte seine Philoso-phie entscheidend und gab seiner Ästhetik ein politische Wendung, die zusammenfassend als totalitätskritisch charakterisiert werden kann.

Wie bereits Hauke Brunkhorst festgestellt hat,9 stellt diese Sichtweise auch eine der wichtigsten Parallelen zwischen Lyotards und Adornos Denken dar. Bei Adorno ist Gesellschaftskritik von Anfang an Rationa-litätskritik: an einem Denken, das sich als zunehmendes Streben nach Macht und absoluter Herrschaft entpuppt, wie Horkheimer und Ador-no den Prozess der Aufklärung interpretierten.10 Eine für Adorno ent-scheidende These ist, dass im Zuge der Aufklärung der zivilisierte Mensch zunehmend in Konflikt mit der Natur gerät. Wie Adornos und Horkheimers Lesart der Odyssee verdeutlicht, richtet sich das Herrschaftsstreben des modernen Helden dabei sowohl gegen die äuße-Kritik am Gesellschaftssystem

8 Im Anschluss an HabermasKritik an Adorno hat beispielsweise Albrecht Wellmer eine Lektüre derÄsthetischen Theorievorgeschlagen, die den utopischen Versöhnungs-gedanken zugunsten der Forderung nach einer Annäherung der Kunst an Lebenspraxis, somit nach Kommunikation, relativiert und dadurch Adorno Habermas, Jauss und Bür-ger aneinander annähert. Vgl. Wellmer,Dialektik von Moderne und Postmoderne.

9 Vgl. Brunkhorst,Adorno and Critical Theory, S. 86 f. Generell betont Brunkhorst je-doch die Distanz zwischen Lyotards postmodernem Denken und Adornos materialisti-scher Philosophie.

10 Vgl. Adorno, Horkheimer,Dialektik der Aufklärung, S. 20.

re als auch gegen die innere Natur. Nicht zuletzt aufgrund dieser Unter-drückung der Natur gehe Aufklärung mit Regression einher und mün-de daher wiemün-der in mün-denselben mythischen Kreislauf, mün-dem mün-der Mensch mit Hilfe der Rationalität zu entrinnen versuche. Die Gesetzlichkeit der Wiederholung sei das mythische Prinzip, dem auch die aufgeklärte Ge-sellschaft folge.11

Dennoch ist es Adornos Anliegen, eine wie auch immer geartete utopische Perspektive zu entwerfen, wie der Ausweglosigkeit Parole zu bieten wäre. Gerd Kimmerle hat in diesem Zusammenhang von einer

»manichäischen Antithetik von Tod und Versöhnung«12 bei Hork-heimer und Adorno gesprochen: »Sie schildern die mythische Welt als fremde, versteinerte, stumme, leblose, trügerische, vergangenheits-beherrschte, zukunftslose und todesverfallene Welt des Scheins. Ihnen zufolge ist das Mythische das vollendete Negative, das zeitwendend in sich umschlagen muss, um die Sehnsucht nach vormythischen Ur-zuständen in nachmythischer Zeit zu erfüllen.«13

Wird die Wiederkehr des Gleichen mit der Ausweglosigkeit des Todes assoziiert, ist es nicht verwunderlich, dass Adorno die Zeitauffas-sung als wesentlichen Aspekt einer Erneuerung des Denkens prokla-mieren und damit der Musik einen über persönliche Vorliebe hinaus-gehenden Rang zukommen lassen wird. Denn die Musik ermöglicht eine Gestaltung der Zeit, die auf mögliche Alternativen zur Wieder-holung des Gleichen verweist. Konsequenterweise wird durch den Ge-danken, dass die mythische Wiederkehr des Gleichen zu überwinden wäre, auch seine Musikkritik motiviert. Als besonders problematisch sieht Adorno Wagners Konzeption des Mythos an, weil sie der Wieder-holung des Gleichen eben nicht zu entkommen vermag.14 Damit ist der springende Punkt berührt, an dem Adorno seine Gesellschaftskritik als Musikkritik festmachen wird: die Ordnung der Zeit.15 In der Idee des

11 Vgl. ebd., S. 28.

12 Kimmerle,Verwerfungen,S. 31.

13 Ebd., S. 31.

14 Siehe dazu auch Klein, Solidarität mit Metaphysik. Auf Verbindungen zwischen Wagner, Adorno und Horkheimer hinsichtlich ihrer Auffassung vom Mythos hat auch schon Robert Witkin hingewiesen. Vgl. Witkin,Adorno on Music, S. 71: »Thestory told by Adorno and Horkheimer of the Enlightenment has some structural resonances with that told by Wagner in his giant music-dramathe cycle of four operas known as The Ring«.

15 Siehe dazu auch Klein, »Thesen zum Verhältnis von Musik und Zeit«.

Gesamtkunstwerks sowie der »Kunst des Übergangs« vermeint er die Idee eines lückenlosen Schicksalszusammenhangs erkennen zu kön-nen.16 Durch diese Affirmation des Wiederholungsprinzips werde Wagners Musik selbst nicht nur Abbild der Tauschgesellschaft, sondern sogar zu deren Produkt, beuge »sich dem Rechtssatz, daß Spannung und Lösung im ganzen sich entsprechen müssen«.17Das Tauschprinzip infiltriere auch die Struktur, wobei im Besonderen die Individualität des Details verloren gehe: »Alles musikalische Sein ist bei ihm ein Sein für anderes.«18Grundlage für diese Entwicklung sei die Tonalität mit ihrem System von Dissonanz und Konsonanz, Spannung und Auflösung.

Wagner verwirkliche eine Balance, die restlos aufgehe, erklärt Adorno, Schönberg zitierend:

Every tone which is added to a beginning tone makes the meaning of that tone doubtful. If, for instance, G follows after C, the ear may not be sure whether this expresses C major or G major, or even F major or E minor; and the addi-tion of other tones may or may not clarify this problem. In this manner there is produced a state of unrest, of imbalance which grows throughout most of the piece, and is enforced further by similar functions of the rhythm. The method by which this balance is restored seems to me the real idea of the composition.19

Als vollkommene Balance werde Wagners Musik zum Zeichen der Wie-derkehr des Gleichen. »In der Herstellung der›Balance‹geht der Saldo des Schicksals auf; alles Geschehene wird widerrufen, und die ästheti-sche Rechtsordnung ist die Restitution des Urzustandes.«20 Die von Adorno gewählte Terminologie verrät seine kapitalismuskritische Per-spektive, die er später ganz klar macht, wenn er vom »Primat des Tau-sches über Organisation und inneren Verlauf des Kunstwerks« spricht, das seiner Ansicht nach bei Wagner zum »Inbegriff des gesamtgesell-schaftlichen Tauschvorgangs« wird.21

Kritik am Gesellschaftssystem

16 Adorno,Die musikalischen Monographien, S. 112 f.: »Auf der archaischen Idee des Schicksals beruht der lückenlose Immanenzzusammenhang im Gesamtkunstwerk eben-so wie wahrscheinlich jenes musikalische Formprinzip derKunst des Übergangs, der universalen Vermittlung.«

17 Ebd.

18 Ebd.

19 Ebd., S. 113.

20 Ebd., S. 112 f.

21 Ebd., S. 113 f.

Indem Wagners Konzeption die Wiederkunft des Gleichen als na-turgegeben affirmiere, widersetze sie sich dem Gedanken einer Ver-änderlichkeit der Welt und damit dem Neuen: »Sein Bild vom allgemein Menschlichen erheischt den Abbau des vermeintlich Relativen zuguns-ten der Idee der Invarianz des Menschen.«22 Diese Invarianz spiegle bereits der Rekurs auf mythische Inhalte: »Durch die Regression auf die Mythen ruft sich in Wagner die bürgerliche Gesellschaft selber beim Namen: alle neuen Ereignisse im musikalischen Fortgang messen den vorhergehenden sich an, und indem sie diese tilgen, wird stets auch das Neue getilgt.«23 Wichtiger für Adorno ist jedoch der Niederschlag des Wiederholungsprinzips in der zeitlichen Organisation von Wagners Musik, der die Entwicklung fehle.24 Die symphonische Form à la Beet-hoven sei dagegen die antimythische und damit das Bild der Hoffnung, wie Adorno in Anspielung aufFidelioerläutert.25Das Prinzip der Ent-wicklung ist für Adorno dem der Beherrschung entgegengesetzt: »Bei Wagner aber wird unversöhnlich Natur beherrscht, und darum hat ihr eigenes Verdikt das letzte Wort.«26 Entwicklung biete Raum für die Zukunft, für das Neue, das Unvorhersehbare. Damit sei sie im Gegen-satz zu Wagners Dramen zum Einspruch gegen den Tod fähig, letzte Intention der Kritik am Mythos:

Auf Wagners musikalischem Theater ist die Figur des Orpheus unvorstellbar, so wie in seiner Nibelungenversion kein Raum bleibt für Volker, während die Szene des Epos, in der der Spielmann die Burgunden in den Schlaf ihrer letz-ten Nacht geigt, mehr als jede andere Musik hätte entbinden müssen. Die wahre Idee der Oper, die des Trostes, vor dem die Pforten der Unterwelt sich öffnen, ist verlorengegangen.27

Kritik, wie sie Adorno anstrebt, ist mit der Wiederholbarkeit von Kult-handlungen unvereinbar: »Gerade indem die Opern durch›Weihe‹aus der Spannung herausgelöst werden und sich als wiederholbare Kult-handlungen gebärden, überantworten sie sich der reinen Immanenz ihres Ablaufs und merzen aus, was anders wäre, die Freiheit.«28

22 Ebd., S. 110.

23 Ebd., S. 113 f.

24 Vgl. ebd., S. 111.

25 Vgl. ebd., S. 119.

26 Ebd.

27 Ebd., S. 118.

28 Ebd., S. 119.

Die Problematik einer Zeitgestaltung, die die Wiederholung des Gleichen impliziert, korrespondiert für die Autoren der Dialektik der Aufklärung mit der zunehmenden Problematik von Subjektivität in der Moderne, wobei die gesellschaftliche Entwicklungsperspektive, die sie zeichnen, pessimistisch ist. Wie sich das Herrschaftsprinzip im Laufe der Zeit potenzierte, nahmen die Ohnmacht des Einzelnen und die Un-gerechtigkeit der Gesellschaftsordnung zu. Die Unterschiede zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen, die Unterdrückung und Nivellierung des Individuums wuchsen mit zunehmender Macht der instrumentali-sierten Vernunft in der ziviliinstrumentali-sierten Gesellschaft.29 Auch in Adornos Wagner-Monographie findet sich diese Thematik. Wagner gehört für Adorno »zu einer Generation, der erstmals in einer durch und durch vergesellschafteten Welt die Unmöglichkeit aufging, individuell zu wenden, was über den Köpfen der Menschen sich vollzieht.« Deshalb spreche »sein losgelassener Individualismus übers Individuum und des-sen Ordnung das Todesurteil«30. Die Verlorenheit des Individuums zei-ge sich bei Wagner in dessen mythischer Stummheit. Am Ausdruck von Wagners Figuren, die keine Subjekte mehr sind,31 bemerkt Adorno eine schwerwiegende Veränderung: Statt Beseelung sei dieser vielmehr Nachahmung von Ausdruck, also Ausdruck zweiten Grades.32

Adorno kritisiert hier den affirmativen Gestus von Wagners Mu-sik, die sich insofern der Realität angleiche, als in ihr die Nichtigkeit des Einzelnen im unabänderlichen Kreislauf der Geschehnisse, die im Sinne von Naturgesetzen mit zwingender Notwendigkeit ablaufen, deutlich werde. Sie stemple damit wie die Realität Freiheit als bloße Illusion ab;

das Individuum gebe jeglichen Widerstand auf. Wie auch Robert Wit-Kritik am Gesellschaftssystem

29 Vgl. Adorno, Horkheimer,Dialektik der Aufklärung, S. 37.

30 Adorno,Die musikalischen Monographien, S. 114.

31 Ebd., S. 118: »Der Komponist entlastet gleichsam seine Figuren von der Verpflich-tung, selbst Subjekte, selbst eigentlich beseelt zu sein: sie singen nicht, sondern rezitieren ihre Rollen. Zappelnde Marionetten in der Hand des Weltgeist-Regisseurs, der sie tech-nologisch verwaltet, nähern sie sich dem gegenständlich Unbeseelten des Nibelungenlie-des, wo der geleitende Gestus des Erzählers gegenüber den dargestellten Menschen den Vordergrund behauptet.«

32 Ebd.: »Ausdruck und Beseeltheit sind wohl überhaupt nicht vom selben Schlag, und manchmal scheint es, als wolle der sich selbst setzende, in sich reflektierte Ausdruck

32 Ebd.: »Ausdruck und Beseeltheit sind wohl überhaupt nicht vom selben Schlag, und manchmal scheint es, als wolle der sich selbst setzende, in sich reflektierte Ausdruck