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Grenzüberschreitende Ansätze im Werk und deren Problematik

2. Einführung zur künstlerischen Entwicklung von Gerhard Rühm

2.3. Grenzüberschreitende Ansätze im Werk und deren Problematik

Im Œuvre von Gerhard Rühm lassen sich zahlreiche grenzüberschreitende Ansätze fest-stellen. Werkgruppen, die ausschließlich eine klassische Kunstgattung vertreten, bilden hier eher die Ausnahme. Entsprechend seines künstlerischen Werdegangs, der sich aus-gehend von der Musik hin zur Literatur und der Bildenden Kunst weiterentwickelte, sind die Werkübergänge fließend und verbinden sich überdies häufig in den Kunstspar-ten des Hörspiels, Theaters und des Experimentalfilms. Bereits die Werkstruktur des Gesamtœuvres weist eine alle Kunstgattungen übergreifende Herangehensweise auf.

Wer das Œuvre Gerhard Rühms näher betrachtet, wird mit Werkgruppen wie visuelle musik, auditive poesie oder visuelle poesie konfrontiert. Dem untergliedern sich zusätz-lich ähnzusätz-lich geartete hybride Bezeichnungen wie beispielsweise ton-dichtungen, brief-bilder oder bild-gedichte.101 Beim näheren Betrachten stellt sich Frage, ob es sich nun dabei um ein musikalisches, literarisches oder bildnerisches Werk handelt. Was ist das ausschlaggebende Kriterium für eine kunsthistorische Zuordnung derartiger Werke?

Wir haben es hier nicht nur mit einzelnen gattungsübergreifenden Arbeiten zu tun, son-dern auch mit ganzen Werkgruppen, die gattungsübergreifend angelegt sind. Sie zeich-nen sich unter anderem dadurch aus, dass sie häufig sowohl dem bildnerischen, literari-schen als auch musikaliliterari-schen Œuvre zugeordnet werden können. Ein weiterer grenz-überschreitender Aspekt in Gerhard Rühms Œuvre liegt in den Themen seiner Werke.

Zahlreichen Arbeiten liegen die gleichen Themenbereiche zugrunde: von daher kann man sagen, dass sie sich konstant durchs gesamte Werk ziehen und somit ebenfalls ei-nen weiteren werkübergreifenden Aspekt bilden.

Ein Ausgangspunkt für diese grenzüberschreitende Herangehensweise in seinem künst-lerischen Schaffen war bei Gerhard Rühm eine grundsätzliche Verweigerung pauschaler Kategorisierungen. Anstatt sich den vorgegebenen Einteilungen der Künste anzupassen, stellte er sie vielmehr infrage und setzte sich stattdessen intensiv mit den unterschiedli-chen Dimensionen von Kunst, Musik und Literatur auseinander. Seine analytisch-konstruktivistische Perspektive102 im Umgang mit dem Material führte ihn zu einer

101 In Anlehnung an die von Gerhard Rühm bevorzugte Kleinschreibung werden Werkgruppen und Werk-titel im Folgenden vorwiegend in Kleinschrift ausgeschrieben. In nur wenigen Ausnahmen verwendete Gerhard Rühm die Groß- und Kleinschreibung. Diese werden dann entsprechend übernommen.

102 Vgl. Scholz 1989: 235–246

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grundsätzlichen Unterscheidung zwischen geschriebener und gesprochener Sprache.

Während das geschriebene Wort oder der einzelne Buchstabe durch die Wahl der Typo-graphie, Farbe und Größe sowie durch seine Anordnung auf der Fläche einen bildneri-schen Aspekt erhält, ist das gesprochene Wort stets auch von musikalibildneri-schen Parametern wie Tempo, Klangfarbe, Tonhöhe und Tondauer beeinflusst. Mit dieser Unterscheidung werden die Übergänge von Text zur Bildenden Kunst sowie zur Musik sichtbar. Es sind genau diese Zwischenbereiche, denen Gerhard Rühm besondere Aufmerksamkeit wid-met.

Wie bereits einführend erläutert, werden die fließenden Übergänge zwischen den klassi-schen Kunstgattungen Musik, Literatur und Bildende Kunst bereits durch eigens von Gerhard Rühm entwickelte Werkgruppenbezeichnungen im Gesamtœuvre sichtbar. Ein umfassender Einblick in das grenzüberschreitende Œuvre sowie ein guter Überblick über dessen großen Umfang ist in den gesammelten werke, die seit dem Jahr 2005 in mehreren Bändern veröffentlicht werden, zu finden.103 Die gesammelten werke sichern das Œuvre für die Nachwelt und beugen möglichen Fälschungen vor. Trotz des enor-men Umfangs dieser Reihe und dem Anspruch auf Vollständigkeit, lassen sich mit dem Format einer Buchpublikation die vielen Querverbindungen zwischen den einzelnen Werkbereichen leider nur bedingt sichtbar machen. Dabei sind gerade die grenzüber-schreitenden Aspekte ein besonderes Kennzeichen im künstlerischen Schaffen von Gerhard Rühm. Bei einem im Frühjahr 2005 gestarteten Forschungsprojekt104 zu Leben und Werk von Gerhard Rühm lag deshalb das Interesse insbesondere in der Herausar-beitung und Vermittlung der vielen Querbezüge innerhalb des Œuvres. Als Format wurde das Medium einer Multimedia-Edition gewählt. Diese Technologie kann zwar nur im virtuellen Raum wahrgenommen werden, dafür ermöglicht sie aber zusätzlich

103 Seit dem Jahr 2005 erarbeitet Gerhard Rühm gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin, der Musikwis-senschaftlerin Monika Lichtenfeld und dem Literaturwissenschaftler Michael Fisch ein umfassendes Werkverzeichnis. Unter dem Titel gesammelte werke ist dieses Projekt auf insgesamt zehn Bände, beste-hend aus vierzehn Einzelbänden, angelegt. Zunächst vom Berliner Parthas Verlag betreut, wird die Veröf-fentlichung seit 2010 vom Verlag Matthes & Seitz, Berlin, fortgeführt. Die Einteilung der Bände orien-tiert sich nach den verschiedenen Schaffensbereichen des Künstlers (Bd. 1 gedichte; Bd. 2.1. visuelle poesie; Bd. 2.2. visuelle musik; Bd. 3.1. auditive poesie, u.s.w.).

104 Eine Kooperation des Studienzentrums für Künstlerpublikationen in der Weserburg | Museum für moderne Kunst, Bremen, gemeinsam mit dem wissenschaftlichen Zentrum für Digitale Archivierung und Multimedia Editionen deutschsprachiger Gegenwartsliteratur (DAME), dem Zentrum für Multimedia in der Lehre (ZMML) und dem Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik der Universität Bremen, unter der Leitung von Dr. Anne Thurmann-Jajes und Prof. Dr. Maria Peters.

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zur klassischen Abbildungsfunktion die gleichzeitige Bereitstellung von Text-, Bild- und Audiodateien, was für die Erschließung des Werks von Gerhard Rühm von großem Vorteil ist. Diese unterschiedlichen Modelle, das vielseitige Schaffen des Künstlers sichtbar zu machen, verweisen indirekt auf eine Problemlage, die sich aus der Rezeption seines Œuvres ergibt. Während eine Buchpublikation nicht ausreicht, um das Werk in seiner vollen Bandbreite mehrdimensional erfahrbar zu machen, vermag die Multimedia Edition nicht, den enormen Umfang haptisch sichtbar zu machen. Ferner stellt sich die Frage nach dem Titel und der Zuordnung der gesammelten werke in öffentlichen Institu-tionen. Während der gewählte Titel gesammelte werke statt ‚Werkverzeichnis’ nur kon-sequent ist, da sich darunter alle Kunstgattungen objektiv subsumieren lassen, unterliegt die Zuordnung einer kaum zu lösenden Problematik. Obwohl die gesammelten werke sowohl literarische, bildnerische und musikalische Arbeiten als auch Theatertexte bein-halten, werden sie an den Universitätsbibliotheken dem Fachbereich der Germanisten zugeordnet. Selbstverständlich wäre es ineffizient, die gesammelten werke mehrfach, also in allen relevanten Fachbereichen einer Bibliothek zu präsentieren. Eine Suchan-frage in der Onlinedatenbank der Bibliothek genügt, um diese Veröffentlichung ausfin-dig zu machen. Dennoch wird mit dieser Zuordnung der Musiker und Bildende Künstler Gerhard Rühm auf sein literarisches Schaffen reduziert und indirekt – aufgrund institu-tionell begründeter Strukturen – aus den Fachbereichen der Kunst-, Musik- und Thea-terwissenschaften ausgeklammert. Dieser Umstand macht beispielhaft deutlich, wie es bereits anhand von strukturell bedingten Vorgaben zu einer Fragmentierung des Œuvres kommt. Natürlich legt es die Beschaffenheit des Werkes geradezu darauf an, solcherlei starre Kategorisierungen sichtbar zu machen und bestenfalls auch aufzubrechen. Gewis-sermaßen kommt dem Werk damit auch ein Stück revolutionären Charakters zu. Über-bewerten sollte man diesen Aspekt allerdings nicht. Denn letztlich geht es Gerhard Rühm stets darum, mit seinen Arbeiten die Sinneswahrnehmung der Menschen zu er-weitern. Genau aus diesem Kontext heraus entziehen sich viele Werkgruppen des Künstlers bereits aufgrund ihrer Konstitution einer altbewährten und eindeutigen Zu-ordnung nach Kunstgattungen. Als kleines Beispiel sei an dieser Stelle auf die Arbeiten der visuellen musik, die der Bildenden Kunst zugerechnet werden, und auf die ton-dichtungen aus dem musikalischen Œuvre verwiesen. Die Betrachtung der Arbeiten der visuellen musik findet zwar auf der Fläche (Notenpapier) statt, sie soll jedoch zum

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ren „mit dem inneren Ohr“105 anregen (Abb. 4). Diese Werkgruppe stellt somit eine direkte Verbindung zwischen den Gattungen der Bildenden Kunst und der Musik her.

Die ton-dichtungen lösen wiederum bei der akustischen Wahrnehmung eine zeichne-risch-gestische Vorstellung aus, da sie auf einer Transformationsmethode basieren, in der jedem Buchstaben ein Ton zugeordnet wird.106 Der Rezipient erfährt lediglich die Herstellungsmethode und den Titel des Werkes. Seine Assoziationen überführen das musikalische Werk in eine literarisch bildnerische Dimension. Es gibt zahlreiche weite-re Werkgruppen im Œuvweite-re von Gerhard Rühm, bei denen starweite-re Kategorisierungen nicht standhalten (zum Beispiel die Werkgruppen der schriftzeichnungen, lesebilder / bildge-dichte oder der tastzeichnungen). Es ist nur folgerichtig, dass auch die einzelnen Werke des Künstlers intermedial, also die Gattungsgrenzen überschreitend, angelegt sind. In seinem Œuvre finden sich einerseits zahlreiche Werke, die in mehreren Ausprägungen – zum Beispiel als Hörspiel, Theaterstück und Experimentalfilm – existieren107, anderer-seits lassen viele Arbeiten Mehrfachzuordnungen zu. Sie enthalten sowohl eine literari-sche als auch bildneriliterari-sche oder eine musikaliliterari-sche Dimension.108 Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass die intermedialen Aspekte sowohl in der Werkstruktur, in den un-terschiedlichen Werkgruppen als auch in einzelnen Arbeiten des Künstlers sowie in werkübergreifenden Themen präsent sind.

Für eine Analyse der medienüberschreitenden beziehungsweise intermedialen Aspekte im Werk von Gerhard Rühm bedarf es zunächst einer allgemeinen Klärung dieses Ter-minus. Das Schlagwort Intermedialität kursiert mittlerweile in zahlreichen Wissen-schaftszweigen und wird inflationär verwendet. Eine allen Wissenschaften einverneh-mend verbindliche Intermedialitätstheorie liegt bislang nicht vor. Bei der Wahl einer geeigneten Herangehensweise kommt es immer auf die Perspektive der Untersuchung an sowie auf die zu untersuchenden Eigenschaften des Forschungsgegenstands. In der vorliegenden Arbeit wurde bislang keine Differenzierung des Intermedialitätsbegriffs vorgenommen. Gesprochen wurde hier lediglich von Intermedialität als einem

105 Rühm 2006: 649–650

106 Vgl. Rühm 1990: 2

107 So zum Beispiel das Hörspiel Ophelia und die Wörter aus dem Jahre 1969.

108 Dies trifft auf eine Reihe von Typocollagen bzw. Textbildern zu. Aus literarischer Perspektive spricht Rühm unter dem Oberbegriff Visuelle Texte von Textbildern. Als bildnerische Arbeit benennt er die glei-chen Werke unter dem Oberbegriff Visuelle Poesie als Typocollagen, wobei es hier zu einer weiteren Differenzierung kommt mit den so genannten Fototypocollagen. Vgl. Rühm 1970a sowie Rühm 1996

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men, das in medien- und grenzüberschreitenden Werken in Erscheinung tritt. Weder wurde geklärt, was Intermedialität genau bedeutet, noch in welchen Eigenschaften sie auftritt. In den folgenden Kapiteln werden eine historische Einordnung dieses Terminus sowie theoretische Rahmenbedingungen für eine Begriffsbestimmung von Intermediali-ät vorgestellt. Darauf aufbauend werden anschließend intermediale Bezüge im Werk von Gerhard Rühm unter Zuhilfenahme der von Irina O. Rajewsky entwickelten Inter-medialitätstheorie untersucht und anhand von umfassenden Werkbeispielen vorgestellt.

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„Übrigens hat Simonides recht, wenn er die Malerei eine stumme Dichtkunst, die Dichtkunst aber eine redende Malerei nennt.“

(Plutarch) 3. Theoretische Rahmenbedingungen zur Begriffsbestimmung von Intermedialität