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Gleichursprüngliches Reset: Zur Zeitlosigkeit der Rastergrafik

Franz Kafka

5.4.2. Gleichursprüngliches Reset: Zur Zeitlosigkeit der Rastergrafik

Strukturwissenschaftliche Zugänge, die auf disperse Gegebenheiten mit demselben For­

malismus zugreifen und denen auch die vorliegende Arbeit nahesteht, tun gut daran, die Vergleichbarkeit ihrer Phänomene am Gegenstand nachzuweisen. Im Falle der gleichwer­

tigen Anwendbarkeit des Entropiekalküls auf physikalische Systeme und digitale Codes, um die es hier geht, kann solch ein prägnanter Nachweis im Bereich der digitalen Bild­

verarbeitung gefunden werden. So ist ein sehr verbreitetes Werkzeug zur deskriptiven Statistik und Analyse digitaler Bilder das sogenannte Histogramm. Beim Histogramm han­

delt es sich um die „Häufigkeitsverteilung der Grauwerte eines Bildes, aufgetragen gegen den Grauwert selbst“.282 Die häufigste Darstellungsform hierfür ist das Balkendiagramm (Abb. 6):

Abb. 6: 8-Bit-Grauwertbild (links) mit zugehörigem Histogramm (rechts), das die Häufigkeits­

verteilung der 256 Intensitätswerte anzeigt

Im obigen Fall besteht das Histogramm aus 251 ‚Kammern‛ (bins), auf die 1 920 000 Bildpunkte in unterschiedlicher Häufigkeit verteilt sind. Wie schon in Boltzmanns Entro­

piekalkül, da er Teilchen als ununterscheidbar voraussetzt, nur Aussagen über das Vor­

kommen innerhalb eines Volumenelementes, nicht aber über die tatsächliche Raumkoor­

dinate eines Partikels gemacht werden, liefern auch Histogramme also „keine Informa­

tionen über die örtliche Anordnung der Grauwerte in einer Bildmatrix“283.

Auf Grundlage des Histogramms lässt sich nun die Entropie des Bildes berechnen – eine Rechenoperation, die über eine bloß formale Analogie zum physikalischen Zugang weit hinausgeht: In der physikalischen Entropieberechnung nach Boltzmann wird die Wahrscheinlichkeit erfasst, mit der sich ein Molekül in einer beliebigen imaginären ‚Zelle‛

282 Erhardt 2008, 102.

283 Neumann 2005, 29 – Hervorhebung M. W.

des Volumens befindet. Im auf digitale Bilder gewendeten Entropiekalkül nach Shannon wird erfasst, mit welcher Wahrscheinlichkeit pi ein Pixel in einer beliebigen ‚Kammer‛ ih­

res jeweiligen Histogramms anzutreffen ist.284 Lev Manovich hat die Bedeutung der dar­

aus gewonnenen Werte sehr konzise benannt: „Entropy describes the degree of uncer­

tainty in the data – that is, how difficult or how easy it is to predict the unknown data va­

lues given the values we already know. If an image consists of a few monochrome areas, its entropy will be low.“285 Allein, so gestalttheoretisch ähnlich die ‚Zellen‛ und ‚Kam­

mern‛ von physikalischen Volumina und Histogrammen, so verschieden ist die jeweilige Zeitstruktur von Molekülpopulationen und Helligkeitswerten. Zunächst ändern Licht­

wertmessungen an digitalen Bildern nichts an deren innerer Organisation, während sich durch Messungen an physikalischen Systemen notwendig „ein unstetiger, akausaler, irre­

versibler, stochastischer Übergang“286 und damit eine Entropieerhöhung vollzieht. Vor allem aber ist mit der Übertragung des Entropiekalküls auf Pixelintensitäten der formale Boden dafür bereitet, die angesprochene Code-Stabilität nicht erst im Prozess des digitalen Kopiervorgangs anheben zu sehen.

In einem digital gerasterten Bild entwickelt sich die Verteilung der Pixel mit der Zeit nicht zu einem Zustand maximaler Unordnung, sodass beispielsweise die in Abb. 6 aufge­

führte 8-Bit-Grafik mit der Zeit automatisch sämtliche 256 Grauwerte annehmen würde.

Dies wäre eine auf die digitale Bildverarbeitung gewendete, zum Maximum hinstrebende Entropiezunahme gemäß dem Zweiten Hauptsatz. Gleichzeitig wird das Bild aber auch nicht zu einer ‚negativ entropischen‛ Anordnung hintendieren, sodass alle Bildpunkte ir­

gendwann denselben Farbton aufweisen würden – ganz so, als hätte sich Maxwells Dä­

mon in den Rasterbildschirm eingenistet. Stattdessen ist davon auszugehen, dass das Bild über sehr lange Zeit hinweg bei jedem Reset in der exakt selben Anordnung, quasi gleichursprünglich,287 in den Bildschirmspeicher geladen wird, sodass auch hier wieder gilt:

284 Eine Open Source-Anwendung, die solche Entropieberechnungen durchführt, ist das seitens der Software Studies Initiative (San Diego/New York) entwickelte und unter http://culturemaps.net/softwares/

qtip-qtimageextractor bereitgestellte Tool QTIP Image Extractor. Siehe auch die dazugehörige Dokumentati­

on, in der die Berechnung wie folgt erklärt wird: „The formula is -sum(p*log2(p)), with p the value of each histogram bin.“ (http://culturemaps.net/software/read-me-for-qtip, abgerufen am 10. Februar 2014)

285 Manovich 2012, 266.

286 Kanitscheider 1996, 101.

287 Wolfgang Ernst entwickelt diesen Begriff insbesondere als gegenläufiges Modell zu auf historischer Relati­

vität pochender Geschichtsschreibung und damit zur Akzentuierung epistemischer Invarianzen (siehe Ernst 2013, 429). Wenn im selben Kapitel jedoch von Medien als „symbolisch informierte[n] Wesen“ die Rede ist, die „in der logischen Zeit, d. h. in einem von Materie und Energie enthobenen Feld [operieren]“

(ebd., 423), berührt der Begriff der Gleichursprünglichkeit unmittelbar das hier vorgebracht Argument. Mit Blick auf Weizsäckers Deutung des Zweiten Hauptsatzes als ‚Geschichtlichkeit der Natur‛ und dem hier ver­

∆H=0 (5.IV)

Demgegenüber wäre bei einer analogen Fotografie unverzüglich, wenn auch nicht unmit­

telbar für den Beobachter sichtbar, eine Entropieänderung auf Pigmentebene zu ver­

zeichnen. So bildet sich kurioserweise der Modus, in dem Analog- und Digitalmedien ihre Daten gewinnen, auf ihre eigene Existenz in der Zeit ab – vergleichbar mit der Struk­

tur einer mise en abyme. Analogmedien operieren in einem kontinuierlichen Wertebereich;

gleichzeitig entspricht die Verfallskurve ihrer Speicherinhalte dem vollständigen Differential der Entropiedifferenzen in Abhängigkeit vom Parameter t.288 Dagegen arbeiten zeitge­

nössische Digitalmedien, also Computer, nicht bloß in diskreten Schritten, sondern zu­

gleich binär – ein Wirken, das isomorph zu ihrem realweltlichen Funktionieren steht:

Die „Zerfallskurve“ digitaler Daten unterscheidet sich stark vom Zerfall analoger Daten (z.B. Fotografien). Analoge Daten zeigen eine kontinuierliche Qualitätsverschlechterung, die durch optimale Lagerung nicht aufgehalten, sondern nur verlangsamt werden kann [...]289

– analog zur Bestimmung von ‚Leben‛ als Todesaufschub in Biophysik und Kybernetik.

Digital gespeicherte Information [dagegen] ist entweder lesbar und damit ohne Qualitätsverlust ver­

fügbar, oder die Information ist unlesbar und damit „vollständig zerfallen“. Ein gradueller Qualitäts­

verlust ist bei digital gespeicherter Information nicht möglich.290

Bei Schrödinger, Wiener (und noch vor ihnen Heidegger) war das nicht ein Noch-nicht-stillstehen, der Aufschub des Todes als sich nicht mehr ändernder Entropie. In der Frage nach der Auslesbarkeit von Code-Texturen ist das Noch-nicht ein Noch-nicht-bewegt­

sein, der Aufschub einer derart schwankenden Trägermedienentropie, dass sie den Zu­

gang zum Code, hier zum digitalen Bild, selbst versperrt.

Im biophysikalischen und kybernetischen Lebensdiskurs fanden sich mit den dissipati­

ven Strukturen von Enzymen oder Rundfunksignalen solche Ordnungsschemata in den Sog des Zweiten Hauptsatzes eingelassen, die mit ihm notwendig dieselbe Zeitstruktur teil­

ten. Dagegen vollziehen digitale Codes an ihren materiellen Trägern das, was in Batesons und Watzlawicks Kommunikationstheorien Interpunktion heißt.291 Auch noch dann, wenn formale Maschinen, die einst „bloß auf dem Papier“292 standen, zu ihrer realweltlichen Implementierung finden, ist die Rede von ihnen als symbolischen Maschinen deshalb legitim.

suchten Nachweis, dass dieser Satz im Digitalen nicht gilt, lassen sich beide Ebenen – Historiographie versus Gleichursprünglichkeit sowie physikalische versus symbolische Maschinen – womöglich ohnehin zusammenden­

ken.

288 Zur thermodynamischen Definiertheit der Entropie durch ihr vollständiges oder totales Differential siehe Lü­

decke/Lüdecke 2000, 131.

289 Gschwind 2006, 168f. – Hervorhebung M. W.

290 Ebd., 169 – Hervorhebung M. W.

291 Siehe Watzlawick/Beavin/Jackson 91996, 60f.

292 Krämer 1988, 2.

Dieses Paradox verbindet sämtliche Medien, die auf der analytischen Trennung zwischen physikalischem Träger und symbolischem Material beruhen: Bücher wie DVDs, Tele­

graphen wie Computer sind zwar auf Ebene ihrer physikalischen Hardware zweifelsohne von der Zerstörung qua Entropiezunahme bedroht. Ihre Informationsentropie jedoch bleibt solange stabil, „as long as the operation of each component produces only fluc­

tuations within its preassigned tolerance limits.“293 Bücher, nicht aber Buchstaben, Bilder auf Leinwand, nicht aber Bildpunkte können den Wärmetod sterben. Ebenso wenig ist aus ihnen freie Energie zu gewinnen. Dies mag als physikalische Wendung von Gada­

mers Diktum fungieren, dass ein entvokalisierter Signifikant „in seinem Sein von nichts ab[hängt]“.294