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zu erhalten gilt als die aktuelle, gesellschaftlich breit abgestützte und in der Restaurierungsethik universell

Im Dokument Fragile Werte (Seite 87-104)

verbriefte Maxime. Sie löste die Wahrheitssuche des 19. Jahrhunderts ab, die über die Entwicklung der wis-senschaftlich orientierten Konservierung und Restaurie-rung bis in die 1980er-Jahre prägend war. Die Maxime der Bewahrung der materiellen Authentizität und eben-so die vorab thematisierten maltechnischen Entwick-lungen des 20. Jahrhunderts sind bedeutsam für die Neubewertung der Fragilität. Der Wandel der Restau-rierungsauffassungen und ihr Potenzial für ideologisch geprägte Haltungen, die immer wieder aufs Neue ver-worfen und entwickelt wurden, sind nicht nur diskursiv dokumentiert, sondern hinterliessen ihre Spuren am materiellen Kunstwerk selbst. Die zahlreich dokumen-tierten Ikonoklasmus-Vorwürfe liegen als logische Kon-sequenz auf der Hand.

Altersspuren zwischen Wahrheit und Lüge

Mit der Essaysammlung The Seven Lamps of Architecture,1 erstmals erschienen 1849, verfasste John Ruskin die wohl schärfste

1 Ruskin 1849.

je publizierte Kritik an der komplettierenden und interpretieren- 87 den Restaurierung.

Seine kritische Haltung, die er hauptsächlich im Kontext der Erhaltung von Bauwerken entwickelte, manifestierte sich zudem in seinem Engagement für das gemeinsam mit William Morris ini-tiierte Anti-Restauration Movement.2 Ruskin verurteilte die Restau-rierungspraxis der Zeit als Lüge, Fälschung und Zerstörung:

„Die sogenannte Restaurierung ist die schlimmste Art der Zerstörung von Bauwerken.“ 3

In seiner Schrift, die 1900 mit dem Titel Die sieben Leuchter der Architektur ins Deutsche übersetzt wurde, entwickelte Ruskin eine ethisch-ästhetische Position zur Erhaltung von Baudenkmälern.

In allen Bereichen, von der handwerklichen Ausführung bis zur Architektur und von der Restaurierung bis zu den Entschei-dungsträgern, stellte Ruskin den Verlust an Wahrheit und Wahr-haftigkeit fest, dem er entschieden entgegentrat:

„Es ist die glitzernde und sanft ausgesprochene Lüge;

die freundliche Ungenauigkeit; der einschmeichelnde Trugschluss; die patriotische Lüge des Historikers; die vorsorg liche Lüge des Staatsmannes; die eifernde Lüge des Parteipolitikers; die barmherzige Lüge des Freundes und die leichtfertige Lüge jedes Menschen gegen sich selbst, die den schwarzen geheimnisvollen Trauerflor über die Mensch-heit breiten. Jedem, der ein Loch in diesen Schleier reisst, sind wir dankbar, wie wir dem danken, der einen Brunnen in der Wüste gräbt. Wohl uns, dass noch der Durst nach Wahrheit uns geblieben, nachdem wir eigenwillig uns von ihren Quellen abgewandt haben.“ 4

Die hier zitierte erste deutsche Übersetzung von Ruskins Werk war nicht in erster Linie denkmalpflegerisch motiviert. Im Vorwort lobte der Übersetzer Wilhelm Schölermann Ruskins Red-lichkeit, die er auch rücksichtslos gegen sich selbst gerichtet habe.

Die Fülle an überraschenden und erhellenden Gedanken, so

Schö-2 Gemeinsam mit William Morris gründete Ruskin die „Society for the Protection of Ancient Buildings“ („SPAB The Manifesto – conservation principles, philosophical basis, William Morris in 1877“ o. J.).

3 Ruskin 1900, 363.

4 „7. Leuchter der Wahrheit, Lehrspruch, Schuld und Schaden der wohlgemeinten Lüge.“ In der englischen Originalausgabe heisst es: „But it is the glistering and softly spoken lie; the amiable fallacy; the patriotic lie of the historian, the provident lie of the politician, the zealous lie of the partisan, the merciful lie of the friend, and the careless lie of each man to himself, that cast that black mystery over humanity, through which any man who pierces, we thank as we would thank one who dug a well in a desert;

happy in that the thirst for truth still remains with us, even when we have wilfully left the fountains of it.“ (Ruskin 1849, 26)

88 lermann, sollte die deutschen Architekten in ihrer eigenen schöpfe-rischen Tätigkeit inspirieren. Die aktuelle Rezeption hebt Ruskins Begriff „Voicefulness“ hervor. Er transportiere, so Mansfield Kirby Talley Jr.5, treffend seine Überzeugung, dass die Altersspuren eines historischen Bauwerks neue Werteebenen generierten und die In-formationsfülle steigerten. Die erfahrbare Geschichte sei der ei-gentliche kulturelle Wert der historischen Bauwerke. Die Spuren der Zeit liessen sich, so Ruskin, nur über den allmählichen, sicht-baren Zerfall des Materials erfahren und ablesen. Diese damals in ihrer Radikalität neue Sichtweise gilt bis heute als ausserordent-lich, scharfsinnig und wegweisend und findet erst mit dem Alters-wert von Alois Riegl eine begriffliche Systematik.6

In der Publikation Modern Painters, erstmals erschienen 1843, thematisierte Ruskin den Wahrheitsbegriff weniger im Kon-text der Erhaltung, sondern entwarf in einem komplexen mehr-stufigen Verfahren vielmehr Kriterien für die Wahrnehmung und Bewertung der Qualität der Malerei. 1846 ergänzte Ruskin die Aus-gabe mit einer überraschend kritischen Haltung zu William Tur-ner, dessen Malerei er sonst in den höchsten Tönen lobte. Interes-santerweise bezog er seine Kritik auf Turners Maltechnik. Anlass waren Materialveränderungen wie Risse und Trübungen, die Rus-kin an Werken des Künstlers wenige Tage nach deren Fertigstel-lung festgestellt hatte. Er monierte die technische Ausführung des Künstlers und betonte, diese fehlerhafte malerische Umsetzung wäre der Qualität der Werke abträglich.7 Ruskin verknüpfte die Wertschätzung von Kunst allgemein mit Werten wie solide hand-werkliche Ausführung und auf Haltbarkeit ausgerichtete Material-wahl.8 Künstlerische Produktionsverfahren, bei denen bewusst das eingeübte Handwerk zugunsten vermehrt experimenteller Techniken verworfen und Materialveränderungen toleriert wur-den, galten für den Modernisierungsgegner als nachlässig und dementsprechend verwerflich. Diese Haltung deckt sich mit sei-nem Plädoyer gegen künstlich und maschinell hergestellte Arte-fakte, die er als unehrlich bezeichnete. Der Wert eines Kunstwerks liegt nach Ruskin nicht im Materialwert, sondern in der Zeit, die der Handwerker und Künstler für seine Herstellung aufbringt. Sei-ne These ist selbstverständlich im Kontext des zeitgenössischen Kunstdiskurses zu verstehen und zu interpretieren. Dennoch lässt die Kompromisslosigkeit eine Präzisierung und Eingrenzung seiner Einschätzung der zerfallsbedingten sichtbaren Materialmutationen

5 Talley Jr. 1996, 9f; 18–21.

6 Riegl 1996.

7 Ruskin 1903, 134f.; Bomford/Leonard/Getty Conservation Institute 2004, 24.

8 Ruskin 1996, 108.

zu. Verwitterten Oberflächen deutete er als Ausdruck von Schön- 89 heit und Vollkommenheit, gereinigte hingegen empfand er als stumpf und nichtssagend, denn genau die Schichtstärke des Mate-rials, die bei Restaurierungen entfernt worden sei, sei Träger der künstlerischen Qualität. Ruskin ging sogar so weit, den guten Steinbildhauern zu unterstellen, sie würden den Stil in Abhängig-keit des Materials den spezifischen zukünftigen Verwitterungser-scheinungen anpassen.9

Im Kontext der historischen Verankerung des Begriffs der Fragilität scheint es wesentlich, dass Ruskin das Prozesshafte der Materialdegradation am Beispiel des relativ stabilen minerali-schen Materials Stein bejahte. Materialmutationen, die auf künst-lerisch motiviertes Experimentieren zurückzuführen sind, ein-schliesslich der erst im 20. Jahrhundert relevanten intendierten Materialveränderungen, verwarf Ruskin.

Kunstwerke „im vollen Reichtum ihrer Authentizität“

Die Ablehnung von maltechnisch bedingten Materialverän-derungen bei Gemälden, wie sie Ruskin bei William Turner kriti-siert hat, verändert sich im Laufe des 20. Jahrhunderts hin zur Wertschätzung der individuellen maltechnischen Ausdruckswei-sen der Künstler als Zeichen für Authentizität. Die Dokumentation eines sorgfältig bedachten Konzepts zur Konservierung und Res-taurierung eines Gemäldes von Edouard Manet (Abb. 7.8) aus dem Jahr 1934 zeigt diesen Wandel und die einhergehende Verunsiche-rung der Entscheidungsträger für die restauratorischen Massnah-men eindrücklich auf.

„I was very pleased to hear that the ,Bar‘ is proceeding so satisfactorily and hope you will overcome the difficulty of impure chemicals […]“ 10,

schrieb der englische Kunsthändler Percy Moore Turner dem Londoner Restaurator Stanley Kennedy North 1931. Die Kon-servierung und Restaurierung des Gemäldes Un Bar aux Folies Bergère11 von Edouard Manet aus der Sammlung von Samuel Cour-tauld ist in einem 21-seitigen Bericht dokumentiert. Anlass dafür war die Entdeckung des Kunsthändlers Turner 1931, dass das Ge-mälde in einem alarmierend schlechten Zustand war.

9 Ruskin 1849, 161.

10 Transkribierter Brief von Percy Moore Turner (1905–1952), Kunsthändler und Berater von Samuel Courtauld, an Kennedy North (1887–1942), Künstler und Gemälderestau-rator in London, vom 06.06.1932 (Turner 1934, 12).

11 96,0 x 130 cm, 1882, The Courtauld Gallery, London. (Abb. 7.8.)

90

„So frail and precarious was its condition, that even the transport of the picture across London was fraught with grave peril.“ 12

Mitverantwortlich für den fragilen Zustand des Gemäldes seien maltechnische Besonderheiten, bestätigte der als Experte beigezogen Stanley Kennedy North. Das Gewebe sei von schlech-ter Qualität, zu fein und stark degradiert.13 Zudem verursache eine Krapplackschicht auf der dünnen Grundierung die mangelnde Haftung und die gegenwärtigen Farbablösungen – also technische Probleme, die North mit der Formulierung „difficulty of impure chemicals“ subsumierte. „I think we all agree that in a large mea-sure we are in unchartered seas“,14 kommentierte Turner die neue Herausforderung. Zur Entscheidungsfindung der geeigneten Mass-nahme holte Percy Moore Turner Rat in der gesamten Londoner Fachwelt. Die hohe Wertschätzung des Gemäldes mag der Auslö-ser für diese exemplarische Vorgehensweise gewesen sein. „I have inspected this picture which is of first rate importance in the his-tory of modern painting“,15 schreibt James B. Manson, damaliger Direktor der Tate Britain (1930–1938), in seinem Bericht. Alle Be-teiligten waren darauf bedacht, die materialtechnischen Probleme nachhaltig zu beheben, ohne Manets Malweise und seine künstle-rische Intention zu beeinträchtigen. Percy Moore Turner fasste das Ziel der Massnahme wie folgt zusammen: Die Malschicht und das Gewebe würden mit einer dünnen Wachsmatrix umschlossen und so vor Feuchtigkeit, vor schädlichen Gasen und Schädlingen aller Art geschützt.16 In seinen Worten hallt noch die im 18. Jahrhundert begründete Haltung nach, eine gelungene Restaurierung solle das Kunstwerk vor der Vergänglichkeit schützen und quasi mumifizie-ren.17 Aus restauratorischer Perspektive stand die materielle Au-thentizität noch nicht im Vordergrund. Sonst hätte man eine Im-prägnierung eines Gemäldes mit Wachs vermieden. Zu gross ist dabei die Gefahr, unerwünschte Farbsättigungen, Verdunkelungen sowie nachträgliche Verschmutzungen und Trübungen zu riskie-ren. Die Begründung der Experten für die Wahl einer Wachsfesti-gung und Wachsdoublierung – sie sahen darin eine Alternative zu wässrigen Klebemitteln, die sie in diesem spezifischen Fall wegen des hohen Feuchtigkeitseintrags als kontraproduktiv bewerteten – galt für die Zeit als fortschrittlich, da sie individuell auf die

Prob-12 Turner 1934, 21.

13 Ebd., 1f.

14 Ebd., 10.

15 Transkribierter Brief von James B. Manson an Kennedy North vom 4. Mai 1932, ebd., 5.

16 Ebd., 21.

17 Talley Jr. 1998; Massing 1998.

lematik abgestimmt werden konnte. Grosse Bedeutung hingegen 91

mass man der Bewahrung der künstlerischen Authentizität bei:

„Not a particle of the impasto has been lost, the original paint film is entirely intact, the cracks have been closed and there has been no re-painting whatsoever. The picture today presents the paint of Manet (and none other) in all its pristine freshness and brilliance, as when it first left his easel.“ 18

Percy Moore Turner entschärfte vorsorglich jeglichen Ver-dacht auf komplettierende Übermalung durch den Restaurator und betonte, dass keine fremde Hand die Malerei Manets verän-dert habe. Der formulierte Anspruch der Bewahrung der originalen Bildwirkung entspricht einer fortschrittlichen Haltung der Zeit, die sich von komplettierenden Ergänzungen distanziert. Gleicher-massen hat sie sich in den ersten internationalen Empfehlungen für Museumsrestauratoren niedergeschlagen.

Das Manuel de la conservation et de la restauration des peintu-res, 1939 herausgegeben vom Office internationale des musées,19 nennt drei zentrale Faktoren, die bei der Konzeption einer Restau-rierungsmassnahme bedacht werden sollen:

„[…] trois facteurs essentiels jouent leur rôle dans ce domaine:

l’importance de l’œuvre, le lieu même de la détérioration dans le sujet, et le doigté du restaurateur“ 20.

An dem Zitat wird die grosse Rolle deutlich, die die Bedeu-tung des Kunstwerks spielt. Die Frage nach der Lokalisierung des Schadens verweist darauf, dass eine Beschädigung im Hintergrund anders bewertet würde als in einem zentralen Bildteil, etwa im Ge-sicht einer Porträtierten. Dies hat offenbar Konsequenzen hin-sichtlich des Anspruchs an die Ausführung und bestätigt, wie hoch die Bewahrung der künstlerischen Authentizität – zumindest in den zentralen Bildteilen – gewichtet wurde. Die materielle Authen-tizität wird noch nicht explizit thematisiert. Verwiesen wird weiter auf die duale Rolle eines Gemäldes im Museum, das sowohl eine wissenschaftliche wie auch eine soziale Funktion innehabe. Die Wissenschaft, insbesondere die Kunstgeschichte, sei interessiert am dokumentarischen Charakter des Kunstwerks, das breite Pub-likum hingegen konzentriere sich auf die ästhetischen Qualitäten,

18 Turner 1934, 21.

19 Das Office internationale des musées OIM/International museum office war die erste internationale Museumsvereinigung 1926–1946 („UNESCO Records of the Office international des musées [OIM]“ 2011).

20 Office International des Musées 1939, 17. Für die fachliche Redaktion zeichnet eine namhafte internationale Expertengruppe bestehend aus Museumsdirektoren, Professoren und Restauratoren verantwortlich.

92 es möchte ein intaktes Gemälde sehen, ohne dabei von materiellen Defekten abgelenkt zu werden. Im Vordergrund stand jedenfalls die künstlerische Bedeutung. Die Reversibilität von Retuschen wird gefordert und Übermalungen auf das Original explizit abge-lehnt.21

Die praktischen Anleitungen des Manuels gewichteten in hohem Masse die präventive und naturwissenschaftlich orientier-te Konservierung. Die Betonung des dokumentarischen Charak-ters, die wissenschaftliche Herangehensweise und die Gewichtung der präventiven Konservierung sind in ihrer Deutlichkeit neu und veranschaulichen den Paradigmenwechsel hin zur naturwissen-schaftlich basierten Konservierung und Restaurierung. Die Bedeu-tung der materiellen Authentizität als Evidenz- und Nachweisma-terial für die Wissenschaft nimmt zu. In der Nachkriegszeit führten Cesare Brandis22 theoretische Grundlagen zu einer weiteren Ver-dichtung und Präzisierung der Vorgabe, die duale Wertigkeit des Kunstwerks vor der Konservierung und Restaurierung methodisch aufzubereiten.

Empfehlungen im Umgang mit materiellen Altersspuren fin-den sich im Manuel im Kontext der Craquelés.

„En règle générale, les craquelures doivent être tenues pour un phénomène naturel des peintures anciennes, et comme souvent elles ne nuisent que très peu à l’aspect général, on ne devrait rien entreprendre pour les ,restaurer‘.“ 23

Craquelés nehmen also eine besondere Funktion ein, da die Form ihrer Ausbildung eng mit der Maltechnik verbunden ist und sie auf diese Weise eine wissenschaftliche Bedeutung erlangen. Ge-nerell aber werden Altersspuren toleriert, so lange sie ästhetisch nicht störend wirken, eine besondere Bedeutung wird ihnen nicht zuteil. Diese Einschätzung verändert sich im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erneut und lässt sich anhand der pro-minenten Einbindung der Authentizität und insbesondere anhand ihrer begrifflichen Ausweitung besonders in offiziellen Grundla-genpapieren gut darlegen.

Das zunehmend positiv bewertete Konzept der Bewahrung der Authentizität und seine Verknüpfung mit der Erhaltung mate-rieller Relikte fand mit der Charta von Venedig 1964 erstmals Ein-gang in ein internationales Richtlinienpapier, mit der Konsequenz,

21 Ebd., 15–17.

22 Brandi 1977.

23 Office International des Musées 1939, 58, 167–173.

dass die materielle Authentizität in der Folge deutlich höher ge- 93 wichtet wurde.24

Die Charta von Venedig entwickelte sich im Kontext der Denkmalpflege. Die zugrunde liegenden Maximen liessen sich bes-tens auf andere Kulturgüter übertragen. Davon zeugen für die Zeit überraschend deutliche Ergebnisse der Greenwich Conference on Comparative Lining Techniques 1974. Sie forderten erstmals eine zurückhaltende Anwendung der seit dem 18. Jahrhundert routine-mässig angewandten Doublierung. Der originale textile Bildträger wurde als erhaltenswerter Bestandteil des Kunstwerks anerkannt und erlangte somit eine höhere Wertschätzung. 1975 sprachen sich die Spezialisten auf der ICOM-CC Konferenz in Venedig gar für ein Moratorium für Doublierungen aus.25 Die Bildträgermaterialien Ge-webe, Karton oder Holz waren nicht mehr austauschbar. Sie über-nahmen nicht mehr nur die Funktion eines geeigneten Substrats für die Ausführung der höher bewerteten Malerei. Die Bewahrung der Authentizität des Gemäldes umfasste neu die gesamte Materia-lität, auch die der Bildträger mitsamt ihrer Geschichte. Über die Gründung des ICOMOS 1965 in Warschau und ihre wichtige Rolle für die Definition der Aufnahmekriterien für die Weltkulturer-be-Nominierungen der UNESCO erlangte die Charta von Venedig internationale Verbreitung.26

Der erste Satz des Vorworts der Charta von Venedig lautet:

„Imbued with a message from the past, the historic monu-ments of generations of people remain to the present day as living witnesses of their age-old traditions. People are becoming more and more conscious of the unity of the human values and regard ancient monuments as a common heritage.

The common responsibility to safeguard them for future generations is recognized. It is our duty to hand them on in the full richness of their authenticity.“ 27

Die Präzisierung, was „im vollen Reichtum ihrer Authentizi-tät“ einschliesse, blieb damals aus. Raymond M. Lemaire, der dama-lige Schriftenführer in Venedig, erläuterte später, die Präzisierung des Authentizitätsbegriffs sei damals nicht notwendig gewesen, da sich die europäischen Experten über dessen Bedeutung einig gewesen seien. Michael Falser verbindet den im europäischen Um-feld offensichtlich kanonisierten Begriff mit dem historisch über-lieferten, nach Alters- und Zeitschichten ästhetisch zu fassenden,

24 ICOMOS 2012, 47–51.

25 Villers 2003.

26 UNESCO 1977.

27 ICOMOS 2012, 231.

94 auf das Originalmaterial ausgerichteten Dokumentar- und Aussage-wert.28 Standen in den 1930er-Jahren mit der Charta von Athen historische Werte des Originals im Vordergrund, so führte die Ein-bindung des Begriffs Authentizität in die Grundlagenpapiere zu einer verbrieften Ausweitung auf die Gesamtheit aller sichtbaren Materialveränderungen, die nicht nur die Zeit der Entstehung, sondern auch die Zeitspanne seit ihrem Entstehen dokumentie-ren. Diese Vorgabe schlug sich via Charta von Venedig – in ihrer Bestimmung als Gründungspapier von ICOMOS 1965 – in die Opera-tional Guidelines des UNESCO World Heritage Committee nieder:

„The property should meet the test of authenticity in design, materials, workmanship and setting; authenticity does not limit consideration to original form and structure but includes all subsequent modifications and additions, over the course of time, which in themselves possess artistic or historical values.“ 29

Falsers überzeugende Darlegung der durchlaufenden Begrif-fstransformation der Authentizität in den nachfolgenden 30 Jah - ren umfasst die Entwicklung von einer vorerst europäischen Konzep tion der Venedig-Konferenz (1964) hin zu einem globalen Referenzbegriff der Kulturgütererhaltung, von einer vormals eher statisch- materiellen hin zu einer mehr dynamisch-prozessualen Perspektive.30 Die Folge war die Ausweitung des Konzepts der Authentizität auf wissenschaftliche und soziale Faktoren.31 2001 wurden die ersten immateriellen Kulturgüter in die Liste des Welt-kulturerbes aufgenommen.32

Als einer der Verfasser des Nara-Dokuments zur Authentizi-tät von 1994 nimmt Herb Stovel, Professor und Koordinator des Heritage Conservation Programme, Carleton University, Ottawa, 2008 in seinem Artikel „Origins and Influence of the Nara Docu-ment on Authenticity“33 Stellung zu der, aus seiner Sicht, nicht halt-baren Kritik am Konzept der Authentizität als universell geltendes Kriterium für die Evaluation von Weltkulturerbe.34 Authentizität könne nur unter Berücksichtigung des kulturellen Kontextes der

28 Falser 2011, Pos. 3.

29 UNESCO 1995, 9.

30 Falser 2011, Pos.4.

31 UNESCO 1977, c, b, i.

32 Nas 2002.

33 Stovel 2008; ICOMOS 2012, 141.

34 Herb Stovel führt aus, dass der Begriff Integrity, der 1953 in Amerika als Identifika-tionskriterium für Kulturgüter eingeführt worden ist, um ein Haar von der ICOMOS übernommen worden wäre. Unter Einfluss von Lemaire habe sich jedoch der Begriff der Authenticity durchgesetzt. Dieser Begriff habe, so Stovel, den Vorteil, dass sie nicht absolute Geltung beanspruche, offener sei und nur in Teilbereichen zutreffen könne (Stovel 2008, 12).

Entstehung des Kulturgutes beurteilt werden, so Stovel. Sie stelle 95 selbst keinen kulturellen Wert dar, sondern fungiere als Kriterium, um die verschiedenen Werte des Kulturgutes und ihre Relevanz einzuordnen. Obwohl in vielen Kulturen der Begriff Authentizität nicht existiere, liesse sich nach Stovel das Konzept unter Berück-sichtigung des jeweiligen kulturellen Kontextes übertragen.

Stovel präsentierte somit einen pragmatischen Trick, die global und in alle Bereiche der Kulturgütererhaltung diffundieren-de Wertekategorie diffundieren-der Authentizität einzugrenzen: Authentizität als übergeordnete Kategorie dient als Kriterium für die Zuordnung von kulturell relevanten Werten und wird so von einem definier-baren Wert hin zu einer Prüfkategorie überführt. Das Oszillieren

Stovel präsentierte somit einen pragmatischen Trick, die global und in alle Bereiche der Kulturgütererhaltung diffundieren-de Wertekategorie diffundieren-der Authentizität einzugrenzen: Authentizität als übergeordnete Kategorie dient als Kriterium für die Zuordnung von kulturell relevanten Werten und wird so von einem definier-baren Wert hin zu einer Prüfkategorie überführt. Das Oszillieren

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