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Gesundheit und Lebensqualität im weiteren Lebensverlauf

Frühe Hilfen wollen nicht nur die Gesundheit und das Wohlbefinden in der (frühen) Kindheit ver-bessern, sondern als langfristiges Ziel bzw. Vision auch nachhaltig zu Gesundheit und Lebens-qualität der begleiteten Kinder beitragen. Die wissenschaftliche Evidenz belegt, dass diese „Vision“

Berechtigung hat und als realistisches Ziel gelten kann.

Zahlreiche Studien z. B. (Bellis et al. 2013; Felitti et al. 1998; Hughes et al. 2017; Metzler et al.

2017; Shalev 2012) belegen einen Zusammenhang zwischen Kindheitserfahrungen und Gesund-heit und Lebensqualität im weiteren Lebensverlauf. Untersucht wird dies häufig anhand des Ge-sundheitszustandes von Erwachsenen mit Bezug auf die berichteten negativen Kindheitserfahrun-gen (ACEs = Adverse Childhood Experiences). Die Ergebnisse zeiKindheitserfahrun-gen einen starken Zusammen-hang zwischen der Zahl der negativen Kindheitserfahrungen und gesundheitlichem Risikoverhal-ten (z. B. Rauchen, übermäßiger Alkoholkonsum, Drogenkonsum), Gesundheitsoutcomes (z. B.

Atemwegs‐ und Verdauungs‐/Lebererkrankungen, belastete psychische Gesundheit, Adipositas) und sozialen Outcomes (Teenagerschwangerschaft, Gewalt, Kriminalität, geringe berufliche Qua-lifikation, Arbeitslosigkeit). Besonders deutlich ist dies bei Personen mit vier und mehr berichteten ACEs (Felitti et al. 1998). Das heißt, wenn es gelingt, die negativen Kindheitserfahrungen zu re-duzieren, hat dies bereits einen positiven Effekt auf Gesundheit und Lebensqualität im Erwachse-nenalter.

Zudem gibt es wachsende neurowissenschaftliche Evidenz siehe z. B. Kundakovic/Champagne (2015); Teicher/Samson (2016), dass Vernachlässigung bzw. generell negative Erfahrungen mit den zentralen Bezugspersonen neurobiologische und epigenetische Effekte mit langfristigen Aus-wirkungen - nicht nur für die Betroffenen, sondern durch die biologische Einbettung auch für deren Nachkommen - haben. Besonders ausgeprägt wirken entsprechende Erfahrungen in der frühen Kindheit, da sich in dieser Lebensphase das Gehirn besonders stark entwickelt. Die Qualität der frühkindlichen Umgebung hat eine nachhaltige Wirkung auf unsere Biologie und führt zu un-terschiedlichen Entwicklungsbahnen (Kundakovic/Champagne 2015). Insbesondere die Qualität der Eltern‐Kind‐Interaktion kann zu epigenetischen Veränderungen führen und damit das in Ent-wicklung befindliche Gehirn formen – dies mit Langzeitfolgen für Gehirnfunktionen und Verhalten.

So dürften beispielsweise Unterschiede in der Stressreaktion, den kognitiven Fähigkeiten und dem Sozialverhalten auf die epigenetische Regulierung der Aktivität der Gene zurückzuführen sein.

Das Bindungsverhalten scheint von besonderer Relevanz zu sein (siehe auch 7.1). Unorganisierte Bindung ist prädiktiv für erhöhte Raten von Persönlichkeitsstörungen, Dissoziation, Selbstverlet-zungen und verringerte Stressresistenz im Erwachsenenalter (Kundakovic/Champagne 2015).

Auch das Risiko, an Depression oder an einer anderen psychischen Krankheit zu erkranken oder ein sucht‐ oder selbstschädigendes Verhalten zu entwickeln, ist erhöht, wenn in der Kindheit die Beziehung zu schützenden Personen maßgeblich gefährdet war oder Traumaerfahrungen gesam-melt wurden (Bauer 2004). Die elterliche Bindung, die auch den Grad der Fürsorge und der Behü-tung einschließt, ist nicht nur bei geringer Fürsorge, sondern auch bei hoher Überprotektion ein signifikanter Indikator für Depressionen im späteren Leben (Kundakovic/Champagne 2015). Die Erkenntnisse deuten auch darauf hin, dass sich entsprechende Erfahrungen auch auf die nächsten Generationen auswirken und dass somit von transgenerationellen Folgen entsprechender Erfah-rungen in der frühen Kindheit ausgegangen werden muss.

Ein Schlüsselkonzept zu den Zusammenhängen zwischen frühen Kindheitserfahrungen und lang-fristigen Folgen auf die Gesundheit ist der „toxische Stress“ (siehe Einleitung zu Kapitel 7). In diesem Zusammenhang sind u. a. die sozioökonomischen Lebensbedingungen von Relevanz, da ein Leben in Armut durch die permanenten – oft existenziellen – Herausforderungen toxischen Stress verursacht. Die negativen Folgen beschränken sich nicht auf die unmittelbar Betroffenen,

sondern wirken bei Frauen im reproduktiven Alter auch auf ihre Nachkommen (Alio 2017). Erfah-rungen von toxischem Stress wirken bereits vor und während einer Schwangerschaft bzw. kurz nach der Geburt auf die Gesundheit des Kindes (siehe 7.1), sie haben aber v. a. auch langfristige Folgen. Die aus den dauerhaften Veränderungen der Gehirnstruktur und –funktion resultierenden langfristigen Effekte auf Stressregulation, Lernfähigkeiten etc. erhöhen das Risiko für viele chro-nische Erkrankungen im Erwachsenenalter (Overfeld et al. 2016; Shonkoff/Garner 2011). Dies nicht nur, weil sie sich häufig – als Coping‐Strategie - in risikoreicherem Gesundheitsverhalten niederschlagen, sondern unabhängig davon vor allem durch die verursachten physiologischen Störungen, wie veränderte Immunfunktion und messbare Erhöhung der Entzündungsmarker. Da-mit einher geht ein erhöhtes Risiko u. a. für Herz‐Kreislauf‐Erkrankungen, Asthma, Leberkrebs, Depressionen und Autoimmunerkrankungen.

Umgekehrt gibt es eine Reihe von Faktoren, die protektiv und damit positiv in Hinblick auf lang-fristige Gesundheit und Lebensqualität wirken. So können hohe soziale Unterstützung, gute el-terliche Erziehungsqualität oder zumindest ein verfügbarer responsiver Erwachsener in der un-mittelbaren Umgebung des Kindes - auch in schwierigen Ausgangssituationen - zu positiven Ver-läufen führen (Barnes 2016). Positive Beziehungen, ein förderliches Umfeld und soziale Unterstüt-zung lösen auch positiv wirkende chemische und hormonelle Reaktionen aus, die die Resilienz stärken und die negativen Folgen von toxischem Stress reduzieren (Alio 2017).

Interventionen, die die genannten Resilienzfaktoren in verschiedenster Weise adressieren, können so Einfluss auf den weiteren Lebensverlauf nehmen. Zu beachten ist dabei, dass eine Verbesserung der gesundheitlichen Folgen, aber auch der sozialen Auswirkungen umso besser gelingt, je früher zum einen die Stressoren verringert werden und zum anderen die ausgleichende Unterstützung erfolgt. Genau hier setzen die Frühen Hilfen an, indem sie versuchen, schwangere Frauen und Familien in belastenden Situationen zum einen möglichst früh zu erreichen und diese zum anderen möglichst umfassend und bedarfs‐ und bedürfnisgerecht zu unterstützen und zu entlasten.

Langzeitstudien zu Programmen zur frühkindlichen Entwicklung haben gezeigt, dass durch die Verringerung sozioökonomischer Benachteiligung die berufliche und gesundheitliche Entwicklung von Menschen nachhaltig positiv beeinflusst wird. Es konnte festgestellt werden, dass eine syste-matische, qualitativ hochwertige Förderung von Kindern zwischen 0 und 5 Jahren von ausreichen-der Dauer positive Effekte auf die kognitiven und nicht‐kognitiven Fähigkeiten hat (Hafen 2014).

Derartige Programme zeigen langfristig gleichermaßen eine positive Wirkung auf Gesundheit (ge-ringere Prävalenz von Übergewicht und Adipositas, Asthma, Lungenproblemen und Allergien so-wie bessere psychische Gesundheit), den Schul‐ und Berufserfolg, die Kriminalitätswahrscheinlich-keit, den Tabak‐ und Medikamentenkonsum, kognitive Fähigkeiten und Sozialkompetenzen der in der frühen Kindheit durch solche Interventionen unterstützten Kinder (Hafen 2014).